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I. Band ii
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Libraries
Gift of
Brandeis University
National
Women's Committee
Die Familie Mendelssohn,
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Die
Familie Mendelssohn,
1729-1847.
Nach Briefen und Tagebüchern.
Von
S. HENSEL.
Mit 8 Portraits, gezeichnet von Wilhelm Hensel.
I.
Dreizehnte Auflage
vermehrt um ein Geleitwort von Paul Hensel und ein Portrait S. Hensels.
BEHLIN.
B. Behr's Verlag*
Steglitzer Strasse 4.
1906.
i::^
Geleitwort zur zelinten Auflage.
Diese neue Auflage der Familie Mendelssohn darf nicht ohne
einleitende Worte in die Welt gehn. Der Verfasser des Buches
weilt nicht mehr unter den Lebenden, und mir, seinem ältesten Sohne,
fällt es zu, dieselbe Pflicht zu erfüllen, die der Dahingeschiedene
seinen Voreltern gegenüber in treuer Pietät übernommen hat. Das
dieser Auflage beigegebene Bild meines Vaters zeigt ihn, wie er
gegen Ende seines Lebens war, und wird, wie ich hoffe, Vielen eine
willkommene Zugabe sein.
Die „Familie Mendelssohn" bricht bei dem Tode meiner Gross-
mutter ab, und dies Ereignis bildete auch in dem Leben meines
Vaters einen wichtigen und folgenschweren Einschnitt. Wohl hatte
er in den Geschwistern seiner Mutter, Paul Mendelssohn-Bartholdy
und Rebecka Lejeune-Dirichlet, treue und zuverlässige Berater, die
dem Sohn ihrer früh entrissenen Schwester liebevoll zur Seite standen,
aber sein Elternhaus hatte mit dem Tode der Mutter die Bedeutung
eines Heims für ihn verloren. Sein Vater, Wilhelm Hensel, durch
den Tod der geliebten Frau innerlich gebrochen, durch tiefgehende
Verschiedenheit, namentlich in seinen politischen Ansichten, die sich
von dem jugendlichen Radicalismus des Sohnes weit entfernten, von
II
ihm getrennt, vermocbte bei aller innigen Zuneigung nicht den Einfluss
auf den Sohn zu gewinnen, den die Mutter so segensreich ausgeübt hatte.
Der selbsterwählte Beruf meines Vaters, die Landwirtschaft,
führte ihn bald aus den geistig angeregten Kreisen Berlins, in denen
sein Leben sich bewegt hatte, hinaus, und es folgten lange Jahre
voll harter Arbeit und ruhiger der eigenen Ausbildung gewidmeten
Stunden, in denen weniger das augenblickliche Leben als die Er-
innerung an die Vergangenheit seine Gedanken beschäftigten. Als
er dann einen eigenen Hausstand gegründet, fern von der früheren
Heimat in dem damals noch in provinzieller Abgeschiedenheit ver-
harrenden Ostpreussen, war es ihm ein Bedürfnis, dass seine Kinder
an diesen Erinnerungen teil haben sollten, und so entstand das vor-
liegende Buch. Erst lange Zeit später, als er wieder nach Berlin
zurückgekehrt war, entschloss er sich, das Buch der Oeffentlichkeit
zu übergeben, und der Wunsch, den Felix Mendelssohn-Bar tholdy
seiner geliebten Schwester Fanny aussprach: »es möge ihr die Drucker-
schwärze nie schwarz und nie drückend sein", hat sich an meinem
Vater in vollstem Masse erfüllt. Er hat viel Freude an diesem
Buch gehabt, sich viele bekannte und unbekannte Freunde dadurch
erworben, und es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Steile den
Freunden zu sagen, wie wertvoll der Gedanke, ihnen durch sein
Buch nahe getreten zu sein, für meinen Vater bis in die letzten Tage
seines Lebens gewesen ist.
In das stille Westend, in dem Sebastian Hensel die letzten
Jahre seines Lebens bis zu seinem Tode am 13. Januar 1898 ver-
brachte, kamen immer auf's Neue Zeichen dafür, dass sein Buch für
viele ein wertvolles geistiges Besitztum geworden sei, dass die Saat,
die er einst, nur seiner Kinder gedenkend, ausgestreut hatte, auch
für Fremde zum Segen geworden war.
III
Die „Familie Mendelssohn^ hat, wie schon ihr Titel andeutet, in
der deutschen Memoirenlitteratur eine ganz eigentümliche Stellung.
Nicht ein einzelner Mensch steht im Mittelpunkt, sondern es ist die
geistige Entwickelung einer Reihe von Menschen, die uns hier vor-
geführt wird, und hei aller individuellen Verschiedenheit sind es
eben die gemeinsamen Züge, zu denen mit Vorliebe das Auge des
Beschauers immer wieder zurückkehrt; denn es ist eine köstliche
Familiengeschichte, die sich hier offenbart. Wir sind heute nur
allzu leicht geneigt, bei dem Gedanken der Vererbung die trostlosen
und düstern Seiten hervortreten zu lassen und nicht daran zu
denken, dass in den Kindern in der geistigen Atmosphäre des Eltern-
hauses auch die guten und tüchtigen Eigenschaften der Eltern sich
immer wieder aufs Neue hervorbringen. Diese Wahrheit sollte vor
allen die Familie Mendelssohn eindringlich predigen, und diese
Predigt hat willige Ohren gefunden.
Noch ein Anderes ist zu berücksichtigen: Es sind zum Teil
Töne wie aus einer vergessenen Welt, die aus diesem Buch zu uns
hinüberklingen; fast alle Interessen, die unser modernes Leben be-
wegen, sind den Menschen, von denen dieses Buch handelt, fremd
geblieben ihr Leben hindurch. Es sind unmoderne Menschen von
Grund aus, mit denen wir hier in Berührung kommen, und der dies
Buch schrieb, konnte es nur deshalb schreibeu, weil er selber ein
unmoderner Mensch war, weil sein Herz den Idealen seiner Jugend
treu blieb, so klar auch sein scharfer Verstand ihm das Einseitige
dieser Ideale zeigte. Aber er war des festen Glaubens, dass nichts
von dem, was einmal ein menschliches Herz zu grossen und reinen
Gefühlen bewegt hatte, jemals veralten könne; dass das allgemein
Menschliche, so wenig es auch in den Interessenkämpfen unserer
Zeit vernehmbar wird, doch immer wieder die letzten Zielpunkte der
VI
menschlichen Lebensrichtung abgeben muss. Er lebte des Glaubens,
dass eine Zeit kommen werde, die mehr Verständnis für eine
Lebensführung in diesem Sinne haben werde, als es der unsrigen
möglich ist. Und er fühlte sich wie einer jener Wettläufer, von
denen uns Plato erzählt, welche die Fackel des Lebens weiter geben
an den sie Ablösenden. Er dachte dabei zunächst an seine Kinder,
er freute sich, dass seine Hoffnung übertroffen wurde, möge sein
Werk noch lange in diesem Sinne Frucht tragen.
Westend, im September 1900.
Paul HenseL
,#
Vorrede zur zweiten Auflage.
Die Emleitung, mit welclier das Bucli bei seinem ersten
Erscheinen begann, lautete folgendermassen:
„Ursprünglich wurde die Arbeit, welche ich jetzt der
Oeffentlichkeit übergebe, zu ganz anderem Zweck und nach
ganz anderen Gesichtspunkten hin unternommen: Eine Bio-
graphie nicht bloss der Familie, sondern für die Familie sollte
es sein; ich wünschte, dass meine Kinder etwas mehr von
ihren Vorfahren erführen, als, namentlich in bürgerlichen
Kreisen, üblich ist.
Einzelne Freunde sahen diese, vor etwa 15 Jaliren ent-
standene „Familien - Biographie" und der Wunsch derselben
bewog mich zur Herausgabe. Soviel als möglich habe ich die
ursprüngliche Form bewahrt, und in diesem Sinne, als Chro-
nik einer guten deutschen Bürgerfamiiie, möchte ich das Buch
betrachtet und gelesen wissen.
Allerdings musste eine tief eingreifende Umarbeitung vor-
genommen werden. Nicht dass irgend etwas zu verheimlichen
gewesen wäre: was ich fortgelassen habe, war entweder für
das grössere Publikum nicht interessant genug, oder so Intimes
und Heiliges (wie z. B. die Brautbriefe meiner Mutter, von
VI
denen an der betreffenden SteUe die Rede sein wird), dass ich
es nicht veröffentlichen woUte und durfte. Dagegen habe ich
in den Tausenden von Briefen, die mir vorlagen, nicht die
kleinste Stelle gefunden, von der man hätte sagen müssen, sie
könne Anstoss erregen. Vor allen Felix Mendelssohn: wo Zu-
stimmung, lobendes Urtheü ihm nicht möglich war, da schwieg
er lieber als dass er getadelt hätte ; aber wie gern, wie rück-
haltlos lobend bewunderte er, wie freute er sich, wenn unter
den Mitlebenden und Jüngeren sich ein Talent, eine ihm sym-
pathische Natur zeigte.
Von der ursprünglichen Form ist etwas übrig geblieben,
wofür ich vielleicht Nachsicht in Anspruch nehmen muss: die
Benennungen „Vater" und „Mutter", „Grossvater" und „Gross-
mntter", die ich mich nicht entschliessen konnte, mit den
Namen der mir so nahe Verwandten zu vertauschen; es wäre
mir unnatürlich vorgekommen, z. B. meine Mutter im Laufe
der Erzählung „Fanny" zu benennen. Dagegen habe ich in
den Briefüberschriften diese Eigennamen stets gebraucht.
Da von den Briefen Felix Mendelssohns vieles schon ver-
öffentlicht ist, so ist es natürlich, dass dessen Eltern und Ge-
schwister mit ihren Briefen mehi' in den Vordergrund treten.
Indessen blieb mir selbst aus den Felix'schen Briefen, nament-
lich aus der Zeit vor 1830, noch eine reiche Nachlese übrig,
und gewiss wird für das Verständniss seiner Entwickelung die
Kenntniss des Bodens und der Umgebungen, in denen er lebte,
von Wichtigkeit erscheinen.
Als Quellen standen mir hauptsächlich ein sehr reiches
Briefmaterial und die Tagebücher meiner Mutter zu Gebote;
für die letzten Jahrzehnte auch viele mündliche Ueberlieferungen
und Selbsterlebtes. Es war stellenweise unvermeidlich, bereits
Vli
Gedi'ucktes noch einmal aufzunehmen, der Zusammenhang litt
eine strenge Ausscheidung solchen Materials, namentlich in
Bezug auf die FeUx'schen Briefe , nicht. Eine reiche Samm-
lung von Familienbriefen an Felix, welche eine Fülle schöner
und interessanter Mittheilungen enthält und zur Ahrundung
des Bildes mir sehr erwünscht gewesen wäre, war mir leider
nicht gestattet zu verwerthen ; es ist so eine beklagenswerthe
Lücke entstanden.
Die beigegebenen Portraits sind sämmtlich nach Zeich-
nungen meines Vaters auf phototypischem Wege vortrefflich
vervielfältigt.*) Von den anderen Familienmitgliedern besitze
ich keine, oder wenigstens nicht vollkommen ähnliche Zeich-
nungen von der Hand meines Vaters.
Meine Mittheilungen schliessen mit dem Jahre 1847 ab,
in welchem Felix und seine älteste Schwester Fanny, meine
Mutter, aus dem Leben schieden. Sie waren die für das
grössere Publikum interessantesten des ganzen Kreises, sie waren
aber auch der zusammenhaltende Mittelpunkt der Familie, die
sich seitdem weit zerstreut hat." —
Schneller als es liegend einer der Betheiligten erwarten
konnte, ist eine neue Auflage nöthig geworden. Es stand bei
mir von Anfang an fest, dass dieselbe eine in manchen Punkten
veränderte sein müsste. Die wenigen Ausstellungen, welche di(-
Kritik gemacht hat, hatte ich mir schon selbst, schon während
des Druckes gemacht.
Die Indemnität, die ich mir für die Familienbezeichnungeii
meiner Eltern und Grosseltern erbeten hatte, ist mir nicht zu
*) Durch das Berliner phototypische Institut von R. Prager.
VIII
Theil geworden, — und mit Recht. Es ist ein eigenes Ding
am das gedruckte Wort : sobald ich die Briefe, welche ich bis
dahin nui' in den wohlbekannten Handschriften gelesen hatte,
in Drucktypen vor mir sah, stand ich denselben viel objektiver,
gewissermassen selbst als Publikum gegenüber und empfand
sofort die UnStatthaftigkeit, den Leser beständig an meinen
Verwandtschaftsgrad mit den Personen des Buchs zu erinnern.
Und noch ein zweites: ich glaubte zwar schon ziemlich
streng in der Kritik des Aufzunehmenden und Wegzulassenden
gewesen zu sein; indess auch hierin merkte ich bald, dass noch
mehr geschehn müsse, dass manches intime Geplauder zwar Reiz
für den Nächststehenden, aber nicht für die Leserwelt haben
könne, und dass namentlich in den beiden schnell aufeinanderfol-
genden italienischen Reisen des Guten etwas zu viel gethan sei.
So waren denn die beiden Hauptarbeiten zur zweiten Auf-
lage: strengste Aussonderung alles dessen, was füglich ent-
behrt werden konnte, ohne charakteristische Züge zu opfern
und alles dessen, was sich auf meine Stellung zu den handeln-
den Personen bezog.
Auch die schon veröffentlichten und von mir wieder aufzu-
nehmenden Briefe von Felix wurden einer noch strengeren
Sichtung unterworfen. Dagegen war ich in der Lage, ausser
kleineren Vermehrungen, eine Reihe schöner Briefe von Abraham
und Lea Mendelssohn neu hinzufügen zu können.
Endlich empfand man es von vielen Seiten als einen Man-
gel, dass das Buch mit dem Jahre 1847 kurz abschloss. Es
wurde mir der Wunsch ausgesprochen, wenigstens andeutend
die weiteren Schicksale der anderen Hauptpersonen zu erwäh-
nen. Diese Aufgabe war nicht leicht, ich habe versucht, ihr
am Schluss zu genügen.
IX
Allen denen, die sich freundlichst um die Abstellung der
in der ersten Aiiflag-e vorhanden gewesenen Mängel bemülit
haben, vor Allen Herrn Walter Robert - Tornow , der die nie
müde werdende Sorgfalt, welche er schon von Anfang an dem Buche
gewidmet hat, auch jetzt bewährt und mii- mit Rath und That
beigestanden hat, sage ich meinen allerherzlichsten Dank.
Die gute Aufnahme, welche ich dem Buch bei seinem ersten
Erscheinen gewünscht hatte, ist demselben im reichsten Masse
geworden. Möge es sich auch in seiner veränderten, wie ich
hoffe, wesentlich verbesserten Gestalt neue Freunde erwerben.
Berlin, den 24. Mai 1880.
S. Hensei.
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1^
I. TJHBIL.
1729—1835.
Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt,
Der froh von ihren Thaten, ihrer Grösse
Den Hörer unterhält, und still sich freuend
An's Ende dieser schönen Reihe sich
Geschlossen sieht.
CGöthe, „Iphigenie".)
Inlialt.
Seit«
Moses Meudelssohu 1
Joseph und Nathan Mendelssohn 36
Die Töchter Moses Mendelssohns 42
Abraham Mendelssohn-Bartholdy 72
Wilhelm Hensel 111
Die Schweizer Reise 124
Leipzigerstrasse No. 3 135
Felix in England 1829 200
1830—1834 272
Gustav Peter Lejeune Dirichlet 349
Das Jahr 1835 358
Moses Mendelssohn.
Wenn wir einen Blick in die Jugendgescliichte grosser
Männer thun, so wird es uns in der Eegel nicht schwer, die
günstigen Momente, denen sie ihr Gedeihen verdankten, heraus-
zufinden. Bald kennen wir ihre Eltern selbst als bedeutende
Naturen, bald sind es einzelne Lehrer, die den Funken, der
in der Kindesseele schlief, anfachten ; fast immer aber wurzeln
sie wenigstens in dem fruchtbaren Boden einer gebildeten und
mit reichen Bildungsmitteln ausgestatteten Gesellschaft. Nicht
so Moses Mendelssohn; schwer erklärbar aus den Vorbedin-
gungen, in denen er aufgewachsen, erfüllte er eine gewaltige
Aufgabe unter den denkbar ungünstigsten Umständen.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts befanden sich die
Juden in Deutschland in der gedrücktesten Lage: durften sie
auch nicht mehr in majorem dei gloriam gemartert und ge-
plündert werden, so wurden sie dagegen „von Staats- und
Rechtswegen " allen nui* erdenklichen Beschränkungen unter-
worfen; fast jeder Lebensberuf war ihnen abgeschnitten; in
vielen Städten dui-ften Juden garnicht, in andern nur in gewisser
Anzahl wobjien; die Judenviertel sind noch heut nicht überall
überwundene Standpunkte ! — Hier war ihnen das Wohnen in
Eckhäusern verboten, dort wurde ihnen nur eine bestimmte
Anzahl Heirathen erlaubt, überall aber belastete man sie ausser
den allgemeinen Staatssteuern noch mit den verschiedenartigsten
Abgaben, theilweise ausgesucht beleidigender Art. So z. B.
Die FamiKe Mendelssohn. I. 1
2 Moses Mendelssohn.
wurde unter Friedrich Wilhelm I. die Berliner Judenschaft
genöthigt, die auf den grossen Hofjagden erlegten Wildschweine
zu kaufen*), und unter Friedrich dem Grossen musste jeder
Jude bei seiner Verheirathung für eine bestimmte Summe Por-
zellan aus der neugegründeten K. Porzellanmanufaktur in Berlin
entnehmen, und zwar nicht nach eigener Wahl, sondern nach
dem Belieben der Manufaktur, die sich auf diese Weise natür-
lich ihre Ladenhüter vom Halse schaffte. So bekam Moses
Mendelssohn, der damals schon allgemein bekannte und ge-
achtete Mann, 20 lebensgrosse, massiv porzellanene Affen, von
denen sich noch einige in der Familie erhalten haben.
Als fast einzigen Nahrungszweig besassen die Juden den
Kleinhandel, und auch diesen nur mit Ausnahmen. So durften
sie nicht mit Materialwaaren handeln, weil dies ein zünftiges
Gewerbe war; es blieb der Handel mit alten Kleidern, mit
Schnittwaaren und mit Geld, d. h. der sogenannte Wucher.
Unter so ungünstigen Verhältnissen blieb die jüdische
Nation ungebrochen, keine Verfolgung vermochte ihre Anhäng-
lichkeit an die Religion und die Sitten ihrer Väter zu erschüttern;
auf der einen Seite stand alles, was den Menschen locken kann:
Aufnahme in die Gesellschaft, Theilnahme am Staat, Einfluss, —
auf der andern nur die Aussicht, ein geplagtes und verachtetes
Dasein auch ferner zu führen, und die Kinder bis ans Ende
der Welt führen zu sehn; aber jenes musste erkauft werden
mit einer Verleugnung der innersten üeberzeugung, — und
das Judenthum blieb durch Jahi^tausende standhaft. Die Zahl
derjenigen, die unüberz engt zum Chiistenthum übergegangen
sind, ist eine unendlich geringe. —
Ungebrochen blieb die Nation; aber es wäre unnatürlich
gewesen, wenn nicht die lange Zurückdrängung aller edleren
Eigenschaften, die künstliche Beschränkung auf den niedrigsten
und in jeder Beziehung schmutzigsten Theil des Handels, die
Absperrung von dem grossen Strom der Civilisation Früchte
hätte tragen sollen, gute und böse. Einzelne edle Eigenschaften
blühten um so reicher durch die gezwungene Beschränkung
*) Streckfuss; Berlin seit 500 Jahren.
AUgememe Lage des Judenthums. 3
des Stammes auf sich selbst: Familienliebe, die unbe-
dingteste Ehrfurcht der Kinder gegen die Eltern, Stammes-
anhänglichkeit, rege Betriebsamkeit auf den wenigen ihnen
offen gelassenen Feldern menschlicher Thätigkeit, grossartige
Wohlthätigkeit und strenge Religiosität. Das waren die Licht-
seiten des jüdischen Characters, wie er sich im Lauf der Jahr-
hunderte entwickelt hatte. Aber ihnen standen tiefe Schatten
gegenüber: die Nation verknöcherte, sie verlor jeden weiteren
Blick, aller Fortschiitt stockte ; sie hatte ihre besondere Sprache,
ein krasses Gemisch von Hebräisch und Deutsch, ihre besondere
Art, Haar, Bart und Kleidung zu tragen ; das einzige Studium,
ausser der Medicin, war das ihTcr religiösen Bücher, Und wie
es immer geschieht, wenn sich die Religion der Verbindung
mit dem übrigen geistigen Leben entzieht, so auch hier: sie
wurde starr, jede Frische entwich ihren Formen, die dogma-
tischen Spitzfindigkeiten "ond Haarspaltereien wurden immer
mehr ausgesponnen, und wer hierin Meister war, galt für
fromm. Ihre Schriftsprache war das Hebräische. Dieses liegt
aber in seinen Wurzeln und seinem ganzen Charakter der
modernen Entwickelung ferner als irgend eine andere alte
Litteratursprache , und so war das einzige Studium der da-
maligen Juden auch noch dazu angethan, sie der modernen
Bildung immer mehr zu entfremden. Dazu kam die Persön-
lichkeit der Lehrer: es waren fast durchgängig polnische
Juden, weil man sie für schriftgelehrter als die deutschen
hielt. Natürlich standen diese den deutschen Christen noch
femer als ihre deutschen Glaubensgenossen, und erweiterten
die schon bestehende Kluft immer mehr. Eine Priesterkaste
neigt immer zur Intoleranz, wenn sie sich auch aus dem
edelsten, gebildetsten Theil einer Nation rekrutirt, wieviel mehr
hier, wo sie aus Mitgliedern eines fremden, unwissenden und
kulturlosen Volks bestand. Verfolgung der Aufgeklärteren,
Verbot jeder Spur von Bildung, beharrliches Zurückhalten auf
»dem einmal eingenommenen Standpunkt war die Lebensaufgabe,
die sich diese polnischen Rabbiner gestellt hatten. Sie ahnten,
dass bei allgemeiner Bildmig es um ilire Herrschaft geschehen
sein würde, und so stempelten sie jede Abweichimg von der
1*
4 Moses Mendelssohn.
gewohnten Sitte oder Unsitte zum Sacrilegium: richtig Deutsch
sprechen, Lesen eines deutschen Buches war Ketzerei.
So lagen die Verhältnisse, als Moses Mendelssohn am
6. September 1729 geboren wurde. Sein Vater Mendel Dessau
war bei der jüdischen Gemeinde in Dessau als Schreiber und
Lehrer an der Primärschule angestellt, d. h. er war ein armer,
in untergeordneter Stellung lebender Jude in einer kleinen
Stadt eines mitteldeutschen Kleinstaats. Es ging sehr küm-
merlich im Hause zu ; aber der alte Mendel gehörte wenigstens,
soweit es im damaligen Juden thum möglich war, zu den Ge-
bildeten und hielt den Sohn mit eiserner Strenge zum Lernen
an. Kaum fünf Jahr alt, war er dem Unterricht des Vaters
schon entwachsen, und dieser übergab ihn einer Art höherer
Lehranstalt. Hierhin trug er im harten Winter, Morgens schon
vor Tagesanbruch, den kleinen Jungen, den vor der bitteren
Kälte nur ein alter, abgeschabter Mantel schützte. Sein dor-
tiger Lehrer, Eabbi Fränkel, war für damalige Begriffe ein
gelehrter, vorurtheilsfreier Jude; der Kleine hing mit ab-
göttischer Liebe an ihm, er war sein eifrigster Schüler. Bald
aber erhielt Fränkel einen Ruf als Ober-Rabbiner nach Berlin
— und der kritische Wendepunkt im Leben Moses' trat ein.
Die Mittel des Vaters schienen ein weiteres Studiren nicht
gestatten zu wollen, und Mendelssohn sollte Handelsjude
werden, mit dem Pack auf dem Rücken die Dörfer durch-
wandern und sich sein Brod verdienen. Indess zum Glück
schreckten die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die auf
dem Wege zu den Wissenschaften lagen, die drohenden Jahre
des Mangels, der Gedanke, in eine wildfremde, feindliche Um-
gebung gestossen zu werden, den Knaben nicht ab, und mit
14 Jahren wanderte der kleine, missgestaltete und schüchterne
Mensch allein und mittellos nach Berlin, zum Rosenthaler Thor
ein, dem einzigen, durch das damals fremde Juden einpassiren
durften, um wieder in der Nähe seines geliebten Lehrers Rabbi
Fränkel zu weilen; denn dieser, das fühlte er dunkel, konnte-
ihm den Weg zu höherer Bildung zeigen.
Jahre des bittersten Elends folgten ; seine Ai-muth war so
gross, dass er an dem Brode, welches er sich wöchentlich als
Jugend. Uebersiedelung nach Berlin. 5
Nahrung: kaufte, mit Strichen die täglichen Rationen bezeiclinete;
weiter durfte er nicht essen, sonst hatte er am Ende der Woche
garnichts! — Er bewohnte ein Daclikämmerchen und hatte
einige Freitische im Hause des Heimann Bamberger, an
Sabbathen und Festtagen ass er bei Rabbi Fränkel, der ihm
auch wöchentlich einige Groschen durch Abschreiben zu ver-
dienen gab ; wenige Zeit blieb für eigene Arbeiten, den Meisten
wäre noch weniger Lust geblieben. Das waren die materiellen
Hindernisse; aber viel grössere, unübersteiglichere thürmten
sich in anderer Art ihm entgegen: die Cliristen betrachteten
damaliger Zeit die Juden ebensowenig als gleich hoch organisirte
bildungsfähige Menschen, me dies noch heutigen Tages in
Amerika mit den Negern geschieht. Ein Umgang von Juden
mit Christen, ein geselliger Verkehr war etwas Unerhörtes.
So blieben alle christlichen Bildungsquellen den Juden voll-
ständig verschlossen, und selbst wenn die Chi^isten nicht den
Juden deren Gebrauch unmöglich gemacht hätten, so würde
dafür schon die Intoleranz der jüdischen Gemeindevorsteher
und Rabbiner gesorgt haben. Jüdische Bildungsquellen aber
gab es ausser dem Umgang mit den wenigen gebildeteren
Glaubensgenossen, den auch Mendelssohn eifrig kultivirte,
garnicht. Er musste also vollständig Autodidakt werden, ohne
jede systematische Anleitung von Anderen; ja, er musste seine
Studien vor den Juden sorgfältig verheimlichen, um nicht seine
Ausweisung aus Berlin zu gewärtigen. Selbst noch lange
nachher verketzerten sie den auf der Höhe seines Ruhmes
stehenden, reifen Mann; Lessing schreibt in dieser Beziehung
von ihm: „Ich sehe ihn im Voraus als die Ehi^e seiner Nation
an, wenn ihn anders seine eigenen Glaubensgenossen zur Reife
kommen lassen, die allezeit ein unglücklicher Verfolgungsgeist
gegen Leute seines Gleichen getrieben hat." Mt einem Wort,
er hatte Alles, was in der ganzen Welt an Bornirtheit, Sek-
tirerei und Glaubenshass sowohl bei Christen als bei Juden
lebte, gegen sich.
Anfänglich lag Mendelssohn nichts am Herzen, als sich
selbst Bildung zu erwerben; aber eine grosse, reformatorische
Mission war ihm vorbehalten und sollte bald an ilin herantreten.
6 Moses Mendelssohn.
Aehnlicli wie der erste Moses fand er ein entartetes, ver-
wahrlostes und geknechtetes Volk, freilich in einer anderen
Zeit und unter wesentlich anderen Bedingungen. Sein klarer
Blick sagte ihm, dass demzufolge auch andere Mittel ange-
wendet werden müssten. Damals war die ganze Nation in
dem kleinen Nildelta Egyptens koncentrirt gewesen, die Lebens-
und Besitzverhältnisse waren einfachere, das Nomadenleben,
das Umherziehen ganzer Völker gewöhnlich. So konnte Moses
sein Volk fortführen aus Egypten nach Palästina und es durch
eine neue Gesetzgebung verjüngen. Jetzt waren die Juden in
der ganzen Welt zerstreut, innig verwachsen in ihrem Verkehr
mit den fest angesiedelten Nationen ; es war nicht mehr thun-
lich, eine Massenauswanderung zu organisiren, und es verdient
gelesen zu werden, mit welcher Entschiedenheit Mendelssohn
einen solchen ihm von einem „Mann von Stande" vorgelegten
Plan zur Gründung eines jüdischen Eeiches in Palästina als
unpraktisch zurückwies, obgleich es zu seinen Glaubensartikeln
gehörte, dass die Juden nicht immer zerstreut leben, sondern
„dereinst" vom Messias wieder zu einer freien Nation im Lande
ihrer Väter gemacht werden würden. Er wusste eben, dass
dieses „dereinst" noch nicht an der Zeit war. Ebenso fand
Mendelssohn keinen Grund, an der Mosaischen Gesetzgebung
zu rütteln, sie hatte sich bewährt, und er hielt sie noch für
zeitgemäss genug, um beibehalten zu werden. Die Juden
mussten also Juden bleiben und mussten im Lande bleiben;
und doch fand Mendelssohn ein Palästina, in das er sie ein-
führte: die gebildete Gesellschaft. Er stellte zuerst in sich
das Musterbild eines gebildeten Juden auf ; er machte dies den
Christen anziehend genug, um ihm alle Kreise zu eröffnen,*
er befähigte dann die Juden zur Nachfolge, zum Eindringen
in die gemachte Bresche; und wie Moses ging es auch diesem
Reformator: er sah den Einzug seines Volkes in das Land,
wohin er es führte, nicht vollendet ; noch heut dauert derselbe
fort, immer mehr erringen sich die Juden eine geachtete Stelle
in der Gesellschaft, den Künsten und Wissenschaften, und es
ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass jeder deutsche
Lernt Deutsch. Wird Hauslehrer. 7
Jude, der sich irgendwo jetzt auszeichnet, dies mittelbar und
oft unmittelbar Moses Mendelssohn verdankt.
Um 1744 that er den ersten, wichtigen Schritt auf der
Bahn der Bildung— er lernte Deutsch; dies war mit den grössten
Gefahren verknüpft und musste ganz geheim geschehen. Ein
Glaubensgenosse, den Mendelssohn unterrichtete, wurde ertappt,
als er für ihn ein deutsches Buch holte, und sofort von dem
jüdischen Gemeindevorsteher aus Berlin verwiesen. Keine Vor-
stellung fruchtete, aber Mendelssohn verschaffte ihm später eine
Stelle in Halberstadt. Verbindungen mit einigen gebildeten
jüdischen Aerzten halfen Mendelssohn weiter; Dr. Kisch z. B.
gab ihm etwa ein halbes Jahr lang täglich eine Viertelstunde
lateinischen Unterricht; aber das Meiste verdankte er dem
eigenen eisernen Willen und Fleiss. „Ich bin nie auf einer
Universität gewesen," schreibt er einmal, „habe auch in meinem
Leben kein Kollegium gehört; dieses war eine der grössten
Schwierigkeiten, die ich übernommen hatte, indem ich alles
durch Anstrengung und eigenen Fleiss erzwingen musste." —
Dies Leben währte bis zum Jahre 1750, wo er als Haus-
lehrer zum Seidenwaarenfabrikanten Bernhard kam — die
schwerste Zeit der Prüfung war vorüber, er hatte jetzt
wenigstens nicht mehr mit Nahrungssorgen zu kämpfen, stand
unter dem Schutz eines reichen, in der Gemeinde angesehenen
Berliner Juden und konnte ungestörter den Studien obliegen.
Mit wahrem Heisshunger verschlang er Alles, beschäftigte er
sich mit Allem, was ihm vorkam. Alte und neue Sprachen,
Mathematik, namentlich aber alles, was mit Philosophie zu-
sammenhing, bemeisterte er in wunderbar kurzer Zeit. Aus
seiner sich ganz selbst überlassenen Art zu arbeiten ergaben
sich aber auch grosse Lücken seiner Kenntnisse. Er beschäftigte
sich immer allein mit dem, was ihm gerade zusagte, oder wozu
ihm durch gelegentliche Bekanntschaften Anlass wurde. So
beklagte er selbst später schmerzlich seine sehr unbedeutende
Kenntniss der Geschichte. „Was weiss ich von Geschichte?"
schreibt er 1765 an Abbt, „was nur den Namen von Geschichte
hat, Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte
Geschichte hat mir niemals in den Kopf kommen woUen, und
8 Moses Mendelssohn.
ich gähne allezeit, wenn icli etwas Historisches lesen muss, e«3
müsste mich denn die Sclireibart aufmuntern: ich glaube, die
Geschichte ist eine der Studien, die nicht ohne Unterricht er-
lernt werden kann." Und an einer anderen Stelle: „Sagen Sie
mir doch, liebster Freund! wie fange ich es an, wenn ich mir
von der Geschichte der alten und neueren Zeiten nur
einigen Begriff machen will? Ich habe bisher die Gescliichte
mehr füi' die Wissenschaft des Bürgers f Citoyen J als des
Menschen gehalten, und geglaubt, ein Mensch, der kein Vater-
land hat, könne sich von der Geschichte keinen Nutzen ver-
sprechen. Ich merke aber, dass die Geschichte der bürgerlichen
Verfassung mit der Geschichte der Menschheit ineinander fliesst,
und dass es unanständig ist, ia jener ganz unwissend zu sein.
Aber wo fange ich an? Gehe ich zur Quelle, oder begnüge
ich mich an den allgemeinen "Welthistorien, die seit einiger
Zeit so sehr im Schwange sind? Und zu welcher rathen Sie
mir? Vergessen Sie nicht, mir auf diesen Punkt zu antworten."
— Freüich war die Kost, welche damals in den „allgemeinen
Welthistorien" geboten wurde, nicht sehr schmackhaft für einen
solchen Geist, und man kann ihm das „Gähnen" nicht verdenken.
Aber der Hauptgrund, warum Mendelssohn seine Studien
auf andere Gebiete richtete, war folgender: Die Geschichte
war ihm „die Wissenschaft des Bürgers" und der Jude des
18. Jahrhunderts war kein Bürger. Jede Seite der Geschichte
hielt ihm die Unterdrückung seüier Nation vor, nirgends zeigte
sich in jener Zeit ein Lichtblick, eine Anbahnung besserer
Zustände. Nur auf dem Gebiete des Gedankens, im Eeich der
Philosophie , im Idealismus war für ihn zu wirken. Hierhin
zog ihn ausserdem der angeborene Scharfsinn der Juden, die
Liebe zu den oft abstrusen talmudischen Spekulationen, in
denen Mendelssohn in der Dessauer und ersten Berliner Zeit
sich geübt hatte. Eme gefähi^liche Klippe war hier zu ver-
meiden: dem schaalsten Kosmopolitismus konnte Mendelssohn
verfallen; als Bürger fühlte er sich nicht, im Staat war keine
Wirksamkeit für ihn, jüdische Anknüpfungspunkte dagegen
waren in allen Staaten der Welt vorhanden; was wäre natür-
licher gewesen, als ein Ueberspringen aller staatlichen und
Bildungsgang. Litteraturbriefe. 9
nationalen Scliranken, ein Aufgehn in einem luftigen, jeder realen
Basis entbehrenden Weltbürgerthum: wie viele ideal angelegte
Natui'en sind vor und nach ihm hieran zu Grunde gegangen!
— Zwischen diesem Extrem und dem andern, gleich gefährlichen,
eines gänzlichen Ignorirens aller höheren, idealen Zwecke, eines
Verspinnens in die gewöhnlichste Alltäglichkeit, eines Herab-
sinkens zum blossen Gemeinde-Indi\aduum hat sich Mendelssohn's
taktvolle, harmonische Natur einen ebenso glücklichen, als
grossartigen Standpunkt gewählt, einen Standpunkt, der weit
über die Anschauungen seiner Zeit hinaus war, den deutschen.
Unbeirrt durch das glänzende, aber hohle Phantom des Kos-
mopolitismus , nicht bestochen durch die konkrete Kraft des
jungen, damals das abgestorbene Deutschland in Stücke schlagen-
den Preussen, ging er bis zur äussersten, mit praktischer Wirk-
samkeit zu vereinbarenden Grenze vor, zum Deutschthum; er
stellte sich als deutscher Jude öffentlich hin, somit als
Vorbild dessen, was seine Glaubensgenossen zu erstreben hätten.
Als Deutschen durch Arbeiten an der „Bibliothek der schönen
Wissenschaften und der freien Künste" und namentlich an den
„Litteraturbriefen", als Jude durch den berühmten „Lavater-
streit".
Die Litteraturbriefe wurden angeregt durch Nikolai; die
Seele derselben aber waren Lessing und Mendelssohn ; sie gaben
ihnen den klassischen, ausgeprägten Charakter der rücksichts-
losen, nur die Sache im Auge behaltenden Kritik. Die damals
grassirende Anbetung und Nachäfferei des Französischen wurde
ohne Schonung angegriffen und die Grundsteine einer d eut sehen
nationalen Litteratur gelegt. Die Litteraturbriefe waren die
Vorboten der hamburgischen Dramaturgie, der Wii'ksamkeit
Schiller's und Goethe's. Von der Unerschrockenheit , mit der
Mendelssohn in den „Briefen" auftrat, giebt den besten Beweis
die RecensJon der Paedes diverses Friedrich's des Grossen, in
denen der kaum in Berlin geduldete Jude den grossen König
tadelt, unter Aufstellung des Grundsatzes, wer als Autor auf-
trete, müsse sich auch der Kritik unterwerfen. Er hält dem
König die Verachtung der deutschen Sprache und den Gebrauch
der französischen tadelnd vor. Diese Angelegenheit hätte
10 Moses Mendelssohn.
Mendelssolin beinahe empfindliche Unannehmlichkeiten bereitet,
die aber an dem grossen Sinn Friedrich's scheiterten. Die
„ Litter aturbriefe" machten verdientes Aufsehen und Mendelssohn
war von da ab anerkannter Verfechter der deutsch-nationalen
litterarischen Bestrebungen.
Durch die Bekehi^ungswuth eines christlichen Geistlichen
wurde ihm bald Gelegenheit, sich ebenso entschieden als Juden
aller Welt zu zeigen. Es war Lavater, der auf einer Reise
1763 Mendelssohn flüchtig hatte kennen lernen und der, wie
Alle, vom Zauber seiner Persönlichkeit aufs Mächtigste berührt
worden war. In seinem berühmten Werk der „Physiognomik'*
giebt er folgende Schilderung von Mendelssohn: „Vermuthlich
kennst Du diese Silhouette? Ich kann Dir's kaum verhehlen,
sie ist mir gar zu Heb, gar zu sprechend! Kannst Du sagen
— kannst Du einen Augenblick anstehen, ob Du sagen wolltest:
„Vielleicht ein Dummkopf! Eine rohe geschmacklose Seele!"
Der so was sagen könnte, ertragen könnte, dass ein Anderer
es sagte, der schliesse mein Buch zu, werfe es von sich —
nnd erlaube mir, meinen Gedanken zu verwehren, dass ich
nicht über ihn urtheile! Ich weide mich an diesen Umrissen!
Mein Blick wälzt sich von diesem herrlichen Bogen der Stilen
auf den scharfen Ejiochen des Auges herab. — In dieser Tiefe
des Auges sitzt eine sokratische Seele! Die Bestimmtheit der
Nase, der herrUche Uebergang von der Nase zur Oberlippe —
die Höhe beider Lippen, ohne dass eine über die andere hervor-
ragt! 0 wie alles dies zusammenstimmt, um die göttliche Wahr-
heit der Physiognomik fühlbar und anschaulich zu machen." —
Die „göttUche Wahrheit der Physiognomik" hinderte aber
ihren begeisterten Propheten nicht, sich in Mendelssohn ganz
gründlich zu täuschen. Er gab im Jahre 1769 eine Ueber-
setzung von Bonnet's „Beweisen für das Clmstenthum" heraus,
eignete sie Mendelssohn zu und forderte ihn öffentlich auf, das
Buch zu widerlegen oder — zum Clmstenthum überzutreten.
— Die Lage Mendelssohn's war eine sehr üble. Er hatte nicht
Lessing's Athletennatur, dem ein solcher Kampf mit einem ein-
gebildeten Pfaffen gerade recht gewesen wäre, um ihn neben
Götze an den Pranger zu stellen, ihn vor den Augen der ganzen
Lavaterstreit. 11
Welt zu zermalmen. Mendelssohn hatte immer Streitigkeiten
religiöser Art vermieden, und nun wurde ihm eine solche öffent-
lich aufgedrungen, in der er nicht schweigen konnte und durfte
und wenn er sprach, noth wendig das Christenthum angreifen
musste. Welche unangenehmen, für seine Lage wirklich ge-
fährlichen Streitigkeiten waren zu befürchten, wenn er offen
sprach. Wie durfte er aber anders als offen sprechen, wenn
er nicht seine heiligsten TJeberzeugungen verläugnen wollte?
— Der Lavater'sche Schritt ist nur aus religiösem Dünkel er-
klärlich: Lavater liebte Mendelssohn wirklich, er hatte die
grösste Achtung vor ihm, dem bedeutenden Schriftsteller, dem
vortrefflichen Menschen, glaubte aber steif und fest, ein solcher
Mann müsse ganz gewiss schon heimlich und innerlich Christ,
wenigstens den Heilswahrheiten der „allein selig machenden
Eeligion" zugänglich sein und es fehle ihm nur eine passende
Gelegenheit, dies auszusprechen. Nach dem Euhme, solche
Gelegenheit zur öffentlichen Erklärung ihm gegeben zu haben,
die Mendelssohn'sche Bekehrung sich zuschreiben zu können,
eine solche Seele dem Himmel zugefülirt zu haben, geizte er
— es kam anders, als es sich Lavater und die Lavater'schen
Christen gedacht hatten ! Mendelssohn antwortete — antwortete,
dass er ein Jude aus innerster üeberzeugung sei, dass die
Bonnet'schen Lehrsätze ihn durchaus nicht irre gemacht, ja,
dass er sich getraue, mit solchen Beweisen jede geoffenbarte
Religion zu vertheidigen ; er stürmte nicht vernichtend, wie
Lessing gethan haben würde, aber er liess so siegreich, so
milde, so überzeugend die Sonne seiner klaren Vernunft strahlen,
dass seinem Gegner der Mantel der christlichen Liebe von den
Schultern sank, — der Triumph der Mendelssohn'schen Sache
war entschieden. Lavater sah zu seinem Schrecken, welches
Unrecht er begangen, und bat auf das Reumüthigste ab; die
Gegner blieben fortan gute Freunde. Aber eine Anzahl klein-
licher Geister, die sich theils in der Erwartung pikanter Ent-
hüllungen gefreut, theils auf die sichere Demüthigung des
gehassten Juden gehofft hatten, nahm jetzt unberufen an dem
Streit Theil und fiel über Mendelssohn her. Indessen sahen
sie sich in ihren Hoffnungen getäuscht: Mendelssohn hatte
12 Moses Mendelssohn.
einmal, dem einig-ermassen würdigen Gegner gegenüber, ent-
scheidend geantwortet; die kleinen Kläffer liess er billig un-
beachtet und schrieb: „In dieser Angelegenheit mögen Auf-
forderungen, Zumuthungen, Angriffe, Widerlegungen heraus-
kommen, von wem man will, so viel man will, so höflich oder
unhöflich man will, ich werde nicht eher antworten, als bis
ich glauben werde, meine Zeit nicht nützlicher anwenden zu
können." Und an einer anderen Stelle: „Wer die Absicht,
mich zu reizen, so deutlich merken lässt, der soll Mühe haben,
sie zu erreichen."
So peinlich diese Angelegenheit für ihn war, so erspriesslich
wurde sie für die Bildung des Judenthums : noch nie war dessen
Sache von einem solchen Vorkämpfer so glänzend verfochten
worden: „Mendelssohn war von üeberzeugung ein Jude", das
stand jetzt fest und fortan waren solche Zweifel, wie sie Lavater
gehegt, unzulässig, und die Christen mnssten sich mit dem un-
bequemen Faktum eines so ausgezeichneten Juden wohl oder
übel abfinden. Wie Mendelssohn einmal in einem anderen Zu-
sammenhange schreibt: ,,Trescho, Ziegra und Bahrdt ärgern
sich fast zu Tode, dass ünchiisten auch Vernunft haben sollen.
0 wohl uns, dass der liebe Gott gütiger ist, als Trescho, Ziegra
und Bahi'dt."
Es war mittlerweile an Mendelssohn die Frage der Wahl
eines eigentlichen Lebensberufes herangetreten. Eine Zeit lang
schwankte er, ob er nicht seine tiefen talmudischen und sonstigen
Kenntnisse in der damals gewöhnlichen Art verwenden und
Eabbiner werden sollte. Indessen es mag ihn wohl die Er-
wägung zurückgehalten haben, dass er in dieser Stellung durch
manche Rücksichten gehindert werden möchte, sich seinem refor-
matorischen Werke zu widmen, dessen Grundplan in jener Zeit
schon vollständig bei ihm feststand. So wollte er sich denn
lieber hierin vollkommen freie Hand bewahren und trat, um
sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben, bei demselben Bern-
hard, dessen Kinder er erzogen hatte, als Buchhalter in der
Seidenfabrik ein. Es blieb ihm dabei Müsse zu seiner sich
immer mehr und mehr ausdehnenden litterarischeu Thätigkeit,
und doch war er nicht auf seine Feder zum Broderwerb ange-
Wird Buchhalter. Der Phädou. 13
wiesen; seine Unabliängigkeit, auf die er schon von früh an
den grössten Werth gelegt hatte, war gesichert ; selbst in den
sieben Leidensjahren der ersten berliner Zeit hatte er sich nicht
entschliessen können, Unterstützungen reicher Glaubensgenossen
zu erbitten: „Ich kann meinen Anspruch auf Unterstützung
auf nichts begründen, als etwa darauf, dass ich gern etwas
lernen möchte, und was geht das Andere an", sagte er. —
Diese Stellung zur Bernhard'schen Fabrik behielt er bis an
sein Lebensende und benutzte seine Müsse zu rastloser littera-
rischer Thätigkeit.
Gleich eins seiner ersten Werke ist für seine Beziehungen
zu den christlichen Zeitgenossen epochemachend: Der Phädon.
Es ist theils eine Uebersetzung, theils eine moderne und dem
damaligen Stande der Philosophie angepasste Bearbeitung des
gleichnamigen platonischen Gesprächs und handelt von den Be-
weisen für die Unsterblichkeit der Seele. Kaum hat zu jener
Zeit irgend ein Buch solches Aufsehen gemacht: es wui'de in
fast alle lebenden Sprachen übersetzt und sein Verfasser hatte
sich mit diesem einen Schriftchen einen Platz unter den deut-
schen Klassikern erworben. Eine gewisse Verwandtschaft zwi-
schen dem Sokrates, wie Mendelssohn ihn im Phädon darstellt,
und ihm selbst ist unverkennbar; man lese z. B. folgende Stelle:
„Er hatte von der eiuen Seite seine eigenen Vorurtheile der
Erziehung zu besiegen, die Unwissenheit Anderer zu beleuchten,
Sophisterei zu bestreiten, Bosheit, Neid, Verläumdung und Be-
schimpfung von Seiten seiner Gegner auszuhalten, Armuth zu
ertragen, festgesetzte Macht zu bekämpfen und, was das Schwerste
war, die finsteren Schrecknisse des Aberglaubens zu vereiteln.
Von der anderen Seite waren die schwachen Gemüther seiner
Mitbürger zu schonen, Aergernisse zu vermeiden und der gute
Einfluss, den selbst die albernste Religion auf die Sitten der
Einfältigen hat, nicht zu verscherzen. Alle diese Schwierig-
keiten überstand er mit der Weisheit eines wahren Philosophen,
mit der Geduld eines Heiligen, mit der uneigennützigen Tugend
eines Menschenfreundes, mit der Entschlossenheit eines Helden,
auf Unkosten und mit Verlust aller weltlichen Güter und Ver-
gnügungen. — Diese höheren Aussichten des Weltbürgers hielten
14 Moses Mendelssohn.
ihn indessen nicht ab, auch die gemeinen Pflichten gegen sein
Vaterland zu erfüllen etc. etc." — Wahrlich, diese Schilderung
passt besser auf Moses Mendelssohn, als auf Sokrates.
Mendelssohn's persönliche Beziehungen nahmen jetzt aus-
gedehnte Dimensionen an; wollten wir seine Freunde nennen,
wir müssten fast alle bedeutenden Männer jener Zeit aufzählen:
d'Ai'gens, Maupertuis, Nikolai, Herder, Kant, F. H. Jakobi, der
Herzog von Braimschweig, Campe, Dalberg, Hamann, Michaelis,
Lavater, — das sind einige der Namen, die uns in Mendels-
sohn's Correspondenz begegnen. Jeder, der mit ihjn in persön-
liche Berührung kam, \\Tirde duixh den Zauber seines Wesens
hingerissen, so dass er alle Vorurtheile vergass, wenn sie auch
später, sobald seine Gegenwart nicht mehr wii'kte, um desto
stärker wieder auftraten: nur so ist das ungleiche Benehmen
Einiger, z. B. Herder's und Hamann's, gegen ihn zu erklären.
Aber in erster Stelle, sowohl was die Grösse des Mannes, als
die Innigkeit und Dauer der Freundschaft und die Wichtigkeit
der dadurch hervorgerufenen Resultate betrifft, ist Lessing
zu nennen! —
Durch das Schachspiel sollen sie zusammengefühi't sein:
aber bald erkannten sie sich als gleichartige Geister und ihr
ganzes Wirken wurde gegenseitig durch einander bedingt. Von
ihrer gemeinsamen Thätigkeit an den Litteratui^briefen ist schon
die Rede gewesen; ihr Briefwechsel giebt Zeugniss von der
Art, wie sie ihre Freundschaft auffassten ; namentlich Mendels-
sohn nimmt öfter Anlass, Lessing auf Fehler aufmerksam zu
machen; beide sprechen es gerne aus, wie der Andere jedem
als immer gegenwärtiger Richter der innersten Gedanken vor-
schwebt. Es sei nur erwähnt der rührende Schluss des letzten
Lessing'schen Briefes an Mendelssohn, wenige Wochen vor
Lessing's Tode geschrieben: „An dem Briefchen, das mir Dr. Flies
damals von Urnen mitbrachte, kaue und nutsche ich noch;
das saftige Wort ist hier das edelste. Und wahrlich, lieber
Freund, ich brauche so ein Briefchen von Zeit zu Zeit sehr
nöthig, wenn ich nicht ganz missmüthig werden soll. Ich glaube
nicht, dass Sie mich als einen Menschen kennen, der nach Lobe
heisshungrig ist. Aber die Kälte, mit der die Welt gewissen
Lessing.
Leuten zu bezeugen pflegt, dass sie ihr auch garnichts recht
machen, ist, wenn nicht tödtend, doch erstarrend. Dass Ihnen
nicht alles gefallen, was ich seit einiger Zeit geschrieben, das
wundert mich gamicht. Ihnen hätte garnichts gefallen müssen,
denn für Sie war nichts geschrieben. Höchstens hat Sie die
Zurückerinnerung an unsere besseren Tage noch etwa bei der
und jener Stelle täuschen können. Auch ich war damals ein
gesundes, schlankes Bäumchen und bin jetzt ein so fauler,
knorrichter Stamm! Ach lieber Freund! Diese Scene ist aus!
Gern möchte ich Sie freilich noch einmal sprechen!"
Das schönste Denkmal aber hat Lessing dem Freunde in
seinem Nathan dem Weisen gesetzt. Theilweis hervorgerufen
mag es sein durch die Lavater'sche Zumuthung an Mendelssohn,
Christ zu werden. Die meisten Figuren im Nathan sind aus
dem Mendelssohn'schen Kreise unverkennbar entnommen, vor
allen Dingen ist die edle, massvolle, milde und ruhige Person
des Nathan selbst das getreue Bild Moses Mendelssohn's. Der
Derwisch ist einem jüdischen Lehrer, Wolf, der oft in's Mendels-
sohn'sche Haus kam und die Kinder unterrichtete, nachgebildet;
und Joseph, der älteste Sohn Moses', meint, die Parallele Hesse
sich noch viel weiter fortsetzen.
Auch Mendelssohn hatte vor, nach Lessing's Tode dem
Freunde ein seiner würdiges ütterarisches Denkmal zu setzen; es
wurde leider nicht vollendet, und der schöne Plan, zu dem er be-
rufen gewesen wäre me Keiner, blieb liegen. Nui' eine kurze
Charakteristik Lessing's haben wir in einem Briefe an Hennings :
„Mich beschäftigt jetzt der einzige Gedanke: Lessing's Tod.
Er macht mich nicht trauiig, nicht tiefsinnig; aber er ist mir
immer gegenwärtig, wie das Bild einer GeKebten. Ich schlafe
mit ihm ein, träume von ihm, wache mit ihm auf, und danke
der Vorsehung für die Wohlthat, die sie mir erzeigt hat, dass
ich diesen Mann so frühzeitig habe kennen lernen, und dass
ich seinen freundschaftlichen Umgang so lange genossen habe.
Die Welt kennt seinen schriftstellerischen Werth, "Wenige aber
kennen seinen freundschaftlichen Werth, ja ich finde, dass sein
moralischer Werth überhaupt von Vielen sogar misskannt wird.
Auch die Begriffe von Tugend und Sittlichkeit sind der Mode
18 Moses Mendelssohn.
unterworfen, und wer sich nicht nach den Modebegriffen seines
Jahrhunderts schmiegen kann, der wird von seinen Zeitgenossen
verkannt und verschrieen. So viel scheint mir indessen ausser
allem Zweifel zu sein: Wenn irgend ein Mensch besser war,
als er sich in seinen Schriften zu erkennen gab, so war es
Lessing. Die am meisten wider ihn eingenommen waren,
wusste er in einer Stunde persönlichen Umgangs zu gewinnen,
und gleichwohl ist ihm meines Wissens nie eine geflissentliche
Schmeichelei aus dem Munde gegangen; ja er hatte sogar die
— wie soll ich es nennen? — Bizarrerie, ein abgesagter Feind
von der äusseren Höflichkeit zu sein. Seine gesellschaftlichen
Tugenden bestanden vielmehr in ächter Theilnehmung , auf-
richtiger Dienstbeflissenheit, in der äussersten Entfernung von
Eigennutz und Eigendünkel, und in der milden Bereitwilligkeit,
eiD.em Jeden mit seinem Reichthum an Begriffen so zuvorzu-
kojnmen, dass man sich in einer Unterredung mit ihm allezeit
scharfsinniger glaubte, als man wirklich war, ob man gleich
nicht unterlassen konnte, dessen üeberlegenheit innerlich recht
sehr zu fühlen. Sarkastisch und bitter gegen jeden Geck,
der sich die Wahrheit allein gefunden zu haben einbildete,
war er liebreich und bescheiden gegen Jeden, der Wahrheit
«uchte, und zu allen Zeiten bereit, ihm mit seinem Vorrathe
zu dienen." —
Zum Abschluss des schönen Freundschaftsbündnisses der
beiden Männer finde hier noch der Brief einen Platz, den
Mendelssohn bald nach Lessing's Tode an dessen Bruder schrieb:
„Nicht ein Wort, mein Bester, von unserm Verluste, von der
grossen Niederlage, die unser Herz erlitten ! das Andenken des
Mannes, den wir verloren, ist mir jetzt zu heilig, um es durch
Klagen zu entweihen. Es erscheint mir nunmehr in einem
Lichte, das Euhe und erquickende Heiterkeit auf die Gegen-
stände verbreitet. Nein! ich rechne nicht mehr, was ich durch
seinen Hintritt verloren. Mt gerührtem Herzen danke ich
der Vorsehung für die Wohlthat, dass sie mich so früh, in
der Blüthe meiner Jugend hat einen Mann kennen lassen, der
meine Seele gebildet hat, den ich bei jeder Handlung, bei jeder
Zeile, welche ich hinschreiben wollte, mir als Freund und
Lessing. 17
Ricliter vorstellte, imd den ich mir zu allen Zeiten noch als
Freund und Richter vorstellen werde, so oft ich einen Schritt
von Wichtigkeit zu thun habe. Wenn sich in diese Betrachtung
noch etwas Melancholisches mit hineinmischt, so ist es vielleicht
die Reue, dass ich seine Führung nicht gehörig benutzt habe,
dass ich nicht geizig genug war nach seinem lehrreichen Um-
gange, dass ich manche Stunde vernachlässigte, in der ich
mich mit ihm hätte unterhalten können. Ach! Seine Unter-
haltung war eine ergiebige Quelle, aus welcher man unauf-
hörlich neue Ideen des Guten und Schönen schöpfen konnte,
die er Avie gemeines Wasser von sich sprudelte, zu Jedermanns
Gebrauch. Die Milde, mit welcher er seine Einsichten mit-
theilte, setzte mich zuweilen in Gefahr, das Verdienst zu ver-
kennen: denn sie schienen ihn in keine Unkosten zu setzen :
und zuweilen schob er sie den Meinigen so mit unter, dass ich
sie nicht mehr unterscheiden konnte. Ueberhaupt war seine
Mildthätigkeit hierin nicht von der engherzigen Art mancher
Reichen, die es fühlen lassen, dass sie Almosen ausspenden,
sondern er spornte den Fleiss an, und Hess verdienen, was
er gab.
„Alles wohl überlegt, mein Liebster, ist Ihr Bruder grade
zur rechten Zeit abgegangen; nicht nur in dem Plane des
Weltalls zur rechten Zeit ; denn da geschieht eigentlich nichts
zur Unzeit; sondern auch in unsrer engen Sphäre, die kaum
eine Spanne zum Durchmesser hat, zur rechten Zeit. Fontenelle
sagt von Copernicus: Er machte sein neues System bekannt
und starb. Der Biograph Ihres Bruders wird mit eben dem
Anstände sagen können: Er schrieb Nathan den Weisen und
starb. Von einem Werke des Geistes, das ebenso sehr über
Nathan hervorragte, als dieses Stück in meinen Augen über
AUes, was er bis dahin geschrieben, kann ich mir keinen
Begriff machen. Er konnte nicht höher steigen, ohne in eine
Region zu kommen, die sich unseren sinnlichen Augen völlig
entzieht. Nun stehen wir da, wie die Jünger des Propheten,
und staunen den Ort an, wo er in die Höhe fuhr und ver-
schwand. Noch einige Wochen vor seinem Hintritte hatte ich
Gelegenheit, ilim zu schreiben: er solle sich nicht wundern,
Die Familie Mendessahn. I. ^
18 Moses Mendelssohn.
dass der grosse Haufe seiner Zeitgenossen das Verdienst dieses
Werks verkenne; eine bessere Nachwelt werde noch fünfzig
Jahr nach seinem Tode daran lange Zeit zu kauen und zu ver-
dauen finden. Er ist in der That mehr als ein Menschenalter
seinem Jahi^hunderte zuvorgeeilt."
Kehren wir aber zurück zu Mendelssohn's Wirksamkeit.
Wenn er sich auch durch den Lavaterstreit offen als Vor-
kämpfer des Judenthums bekannt hatte, so war damit etwas
Positives für die Juden doch noch nicht geschehen. Nun aber
begann Mendelssolin seine reformatorische Thätigkeit und nahm
dabei seinen eigenen Bildungsgang, der sich bewährt hatte,
zum Muster. Zuerst musste Deutsch gelernt werden. Die
vortrefflichen Bemerkungen über das Wesen der Sprache im
„Jerusalem" zeigen, wie viel Mendelssohn darüber nachdachte.
Um den Juden nun gerade als Juden das Deutsche zugänglich
zu machen, übersetzte er die heiligen Schriften derselben, die
fünf Bücher Mosis, die Psalmen, das Hohelied Salomonis ins
Deutsche. Andere sollten folgen; es lag im Plan, das ganze
alte Testament in gleicher Weise zu bearbeiten, aber der Tod
ereilte ihn über dem Werke. Diese Bücher wui'den deutsch
theils mit hebräischen, theils mit deutschen Lettern gedruckt,
um die Bekanntschaft mit dem Deutschen stufenweise herbei-
zuführen und zugleich den Christen Gelegenheit zum Lesen
einer im Sinne des Originals, nicht theologisch und mit christ-
lichen Deuteleien gehaltenen Uebersetzung zu geben. Für seine
Auffassung der Schriften ist bezeichnend, w^as er in einem
Briefe an Michaelis sagt: „Ich habe selbst etwa 20 Psalmen
ins Deutsche übersetzt und war nicht ungeneigt, sie als Proben
der lyrischen Poesie der Hebräer bekannt zu machen.
Ich muss gestehen, dass ich mit allen Uebersetzungen der
Psalmen, die mir zu Gesicht gekommen sind, sehr wenig zu-
frieden bin, mit den poetischen noch weniger, als mit den
prosaischen. Wo sie auch zufälligerweise den Sinn treffen, da
verderben sie doch durch das occidentalische Reimgebäude das
Eigenthümliche der hebräischen Dichtkunst. — Ich bin ver-
sichert, dass Sie die Psalmen als Poesie behandeln werden,
ohne auf das Prophetische und Mystische zu sehen, das sowohl
Litterarische Arbeiten. 19
christliclie als jüdische Ausleger nur darum in den Psalmen
gefunden, weü sie es darin gesucht haben; und nur darum
gesucht haben, weil sie weder Weltweise noch Kunstrichter
gewesen sind. — Es ist vielleicht gefährlich, diese einge-
wurzelten Vorurtheile öffentlich zu bestreiten; allein diesen
Weg müssen wir doch endlich gehen, wenn die Psalmen mit
vernünftiger Erbauung gelesen v/erden sollen. Man hat uns
lange genug durch mj^stische Deuteleien den klaren Sinn der
Schrift verdunkelt."
Diese Uebersetzungen waren ein schmeriges Werk. Die
Orthodoxen beider Religionen waren natürlich mit Mendelssohn's
grossartiger und vorurtheilsfreier Auffassung nicht zufrieden und
es war zu erwarten, dass namentlich die jüdischen Eabbiner
und Talmudisten Himmel und Erde gegen Uebersetzung und
Uebersetzer in Bewegung setzen würden. Aber sie fanden in
Mendelssohn einen ihnen vollkommen gewachsenen Kämpfer,
dem seine frühere talmudische Ausbildung hier zu Statten kam.
Die Uebersetzungen gewannen sich ein immer grösseres Publikum
und bilden noch heute die Grundlage aller jüdischen Jugend-
Erziehung.
Andere epochemachende Werke folgten. Er liess eine
Uebersetzung eines im Jahre 1656 für Cromwell geschriebenen
Werkes „Rabbi Manasseh Ben Israel, Rettung der Juden" an-
fertigen und schrieb dazu eine Vorrede. Es sind nur 22 Seiten,
aber die reifsten, weit dem Standpunkt der damaligen Zeit
vorauseilenden Ansichten sind in so vollendetem Stil darin aus-
gesprochen, dass diese Vorrede wohl für die Perle unter Men-
delssohn's Werken gelten kann. Es folgte „Jerusalem, oder
über religiöse Macht und Judenthum", eine grosse Allheit, die
sich jener „Vorrede" würdig anreiht, die dort angedeuteten
Fragen weiter begründet, gewissermassen Mendelssohn's politisch-
religiöses Testament. Er hat es dem 19. Jahrhundert zur
Vollstreckung hinterlassen; „Trennung der Kirche vom Staat"
ist die kurz ausgedrückte Hauptforderung. Seiner plülosophischen
Natur gemäss knüpft er bei jedem Schritt an spekulative Grund-
sätze an und entzieht so seine ganze Beweisführung dem poli-
tischen Partheiliader. Speciell politisch hat sich Mendelssohn,
2*
20 Moses Mendelssohn.
friedliebend wie er war, nie ausgesprochen, wenigstens nicht
öffentlich. Seine Ansichten waren indess, wie es hei seiner
sonstigen Denkungsweise auch natiirlich ist, entschieden frei-
sinnige.
Die letzten Jahre seines Lehens wurden dmxh einen für
ihn selir unerquicklichen Streit über Lessing's philosophische
Ansichten ausgefüllt. Aber selbst aus solchen Giftblumen ^\Tisste
er Honig zu ziehen; die „Morgenstunden" verdanken dieser
Controverse ihre Entstehung. Wie „Jerusalem" das politisch-
religiöse, so sind sie das philosopliische Testament Mendels-
sohn's. Sie hatten zugleich einen liebenswürdigen Nebenzweck:
sie waren zur Belehrung seiner Kinder, namentlich Joseph's,
des Aeltesten, und einer Eeihe junger Leute „von schätzbaren
Geistesgaben und noch besseren Herzen" bestimmt, die sich
täglich um ilin versammelten.*)
Was Mendelssohn's specielle philosophische Thätigkeit be-
trifft, so ist unläugbar, dass er zu den bahnbrechenden, grossen
Philosophen nicht gehört hat. Erdmann in seinem „Grundriss
der Geschichte der Philosophie" bestimmt seine Stellung folgen-
dermassen, indem er im § 293 von ihm und einem Kreise
gleichstehender Männer sagt: „schliesst dieser Mangel
an Selbstverständniss sie freilich aus der Zahl der grossen
Philosophen aus, so verhindert er sie doch nicht, eine be-
deutende Wirkung zu zeigen. Ja, wenn sie die Energie und
Zeit, die zu einer solchen Vertiefung in sich selbst nöthig
gewesen wäre, dazu anwenden, den Grundgedanken, der als
ein Gefühl und als Instinkt sie beseelt, in allen Gebieten des
Lebens herrschend zu machen, so kann der Erfolg ihres Wirkens,
weil er in die Breite geht, grösser erscheinen, als wenn sie
Philosophen ersten Ranges gewesen wären. Die Sophisten,
der römische Synkretismus und die Philosophie der Renaissance
haben gezeigt, dass es Zeiten giebt, wo es füi' die Philosophie
nicht sowohl auf einen neuen bedeutenden Schritt ankommt,
*) In der ersten Auflage waren hier die beiden Humboldts
genannt. Es beruhte diese Angabe auf einer wohl ungenauen,
mündlichen Tradition.
Philosophische Bedeutung. 21
als vielmelir darauf, dass ein bereits geltend gemachter Ge-
dankenkreis sich ganz auslebe. Einen solchen Punkt hat die
Plülosophie des achtzehnten Jahi^hunderts dort erreicht, wo
sie in den Dienst der deutschen Aufklärung tritt und zu
einem sprechenden Zuge in deren Physiognomie wird. Nur zu
einem Zuge; denn wenn die den Begrifi' der Aufklärung gewiss
zu enge fassen, welche, wie das sehr oft geschieht, nur an
gewisse Erscheinungen im religiösen Gebiete denken, so
darf dem nicht eine eben so enge Auffassung entgegengestellt
werden, indem man unter Aufklärung nur Popularphilosophie
versteht. Vielmehr ist die Aufklärung eine alle Lebensgebiete
durchdringende weit- und kultm-geschichtliche Ki'isis und Revo-
lution, die im 18. Jalirhundert begann imd insofern noch jetzt
dauert, als heut zu Tage die Masse sich in einem Zustande
befindet, der damals der der Elite war. Es handelt sich hier
zuerst darum, das Wesen dieser gewaltigen Erscheiuung m
einer Weise zu formuliren, woduixh es möglich wir-d, die
grosse Zahl von Begriffsbestimmungen, die gegeben worden
sind, richtig zu würdigen. Die Formel, dass in der
Aufklärung der Versuch gemacht wurde, den Menschen, sofern
er verständiges Einzelwesen, zur Herrschaft über Alles zu
bringen, scheint dieser Forderung zu entsprechen. Indem daria
zuerst das menschliche Subjekt in den Vordergrund gestellt
wird. Alles aber, was wir mit dem Worte „Bildung" bezeich-
nen, darin besteht, dass das Subjekt der Dinge Herr wird,
theoretisch, indem sie ihm als Objekt der Erkenntniss oder
Unterhaltimg, praktisch, indem sie ihm zur Erreichung seiner
Zwecke dienen, — in beiden Fällen dienen sie, es also herrscht
über sie oder spielt mit ümen — ist es zu begreifen, wie
Mendelssohn dazu kam, Aufklärung und Kiütui' als die Er-
scheinungsformen der Büdimg zu bestimmen."
lieber die Stellung Mendelssohn's zu Lessing und Nikolai
sagt derselbe a. a. 0. : „Was die Zeitgenossen nie bezweifelten,
dass diese drei als Freunde und Genossen eines W^erkes zu-
sammen zu stellen seien, wird, wo es heute geschieht, von
vielen Verehrern Lessing's als eine Versündigimg an diesem
angesehen. Zum Theil haben sie Recht, denn es wird sich
22 Moses Mendelssohn.
zeigen, dass Lessing subjektiv und objektiv auch eine andere
Stellung einnimmt, als die beiden Anderen. Aber nur zum
Tbeil; denn erstlicli verkennen sie die Stellung jener drei
Männer, wenn sie sich Lessing stets als den Gebenden, die
anderen Beiden bloss als empfangend denken. Von manchem
Gedanken, dessen Dui'chführung Lessing berühmt gemacht hat,
ist nachzuweisen, dass Mendelssohn ihn zuerst ausgesprochen
hat. (Selbst in sprachlicher Hinsicht, hat Lachmann behauptet,
habe Lessing dui'ch den Umgang mit Einem gewinnen müssen,
der sich das reine Hochdeutsch nicht als Kind, sondern mit
vollem Bewusstsein angeeignet hatte.) Sie übersehen aber
zweitens, dass Lessing in dem Jahre starb, wo Kant's Kritik
der reinen Vernunft erschien und dass darum die Kämpfe, in
welchen sein Leben bestand, nur gegen absterbende Principien
gefühi't wurden, ja, dass ihn ein günstiges Geschick verhindert
hat, zu thun, was er wollte: über Göthe's Werther herzufallen
(was schwerlich, wie Nikolai meint, Göthe bei der Nachwelt
geradeso diskreditirt hätte, wie Klotz), wälu-end Mendelssohn
gleich nach Lessing's Tode veranlasst wird, sich über Kant,
über Spinoza gegen Jakoby auszusprechen, also über Männer,
die theils ausser, theils über dem Ideenkreise des 18. Jahi*-
hunderts stehen, in dem Mendelssohn wui'zelt."
Li Bezug auf Mendelssohn's Verhältniss zu Kant ist es
ein eigenthümliches Zusammentreffen, dass Beide im Jahre 1763
um den akademischen Preis konkurrirten, und Mendelssohn mit
seiner Schrift „lieber die Evidenz" den Preis davontrug. Später
freüich überholte ihn Kant bei Weitem und als im Jahre
1782 — 1783 die Kritik der reinen Vernunft erschien, gestand
Mendelssohn in Briefen und Schi-iften freimüthig, dass er, an
das sanfte Licht der Wolf - Baumgarten -Leibnitzischen Philo-
sophie gewöhnt, sich unfähig fühle, dem grossen Königsberger
Philosophen zu folgen. Die beiden Männer blieben in fort-
dauerndem freundlichen Verkehr, und Kant war ein aufrich-
tiger Bewunderer der Feinheit, des fiu'chtlosen Eintretens für
religiöse Freiheit und des schönen Stüs seines einstmaligen
Konkurrenten.
lieber Mendelssohn im Vergleich zu Baumgarten sagt
Philosophische Bedeutung. 23
Erdmann: „Der Hauptunterschied zwischen Mendelssohn und
Baumgarten oder jedem anderen Metaphysiker alten Schlages
betrifft die Art des Philosophirens. Nicht nur Deutsch, son-
dern ein gebildetes, schönes Deutsch will er angewandt haben ;
Plato ist ihm ein so grosser Philosoph, viel weniger des In-
halts seiner Lehre wegen, als wegen seiner glänzenden Dar-
stellung. Nicht streng philosophisches Verfahren, sondern die
Form der gebildeten Conversation ist sein Ideal. Darum die
Brief- oder Gesprächsform, in welche er auch dort gern ver-
fällt, wo ursprünglich eine andere gewählt war. So sehr er
darum auf bestimmte Begriffe dringt, und so sehr er es be-
dauert, dass die Nachahmung der Franzosen es dahin gebracht
habe, dass man nur für Damen schreibe und die solide Wissen-
schaft vernachlässige, so lässt er doch gern merken, dass er
kein auf Universitäten gebildeter, gelehrter Magister sei, weist
sich eine Mittelstellung zwischen Metaphysiker und schönem
Geiste an, und schreibt weder für eüie bestimmte, noch über-
haupt für eine Schule, sondern für die Welt. Worüber? Kein
einziger der Gegenstände, von denen oben gesagt war, dass
sie allein flu* diese Philosophen Interesse haben, ist von ihm
vernachlässigt worden, und schon wegen dieser Vollständig-
keit nimmt er unter diesen Philosophen der feinen Welt eiae
so hohe Stelle ein, ganz abgesehen davon, dass er es vor allen
gewesen ist, der (wie Protagoras unter den Sophisten) stets
in Erinnerung gebracht hat, worum sich's eigentlich handelt:
den Menschen." —
Mendelssohn's äusseres Lebensgeschick haben wir zu be-
trachten aufgehört, als er in die Bernhard'sche Seidenfabrik als
Buchhalter eingetreten war. Diese kaufmännische Beschäfti-
gung — er leitete später die Fabrik ganz selbstständig und
wurde nach Bernhard's Tode Mittheilhaber des Geschäfts —
war ihm oft unangenehm und störend, wenn er irgend einen
wissenschaftlichen Gegenstand im Kopf hatte, und seine Briefe
sind voller Klagen darüber: „Ich höre den langen Tag soviel
unnützes Geschwätz, ich sehe und thue soviel gedankenlose, er-
müdende, dummmachende Dinge, dass es keine geringe Wohl-
that für mich ist, wenn ich mich des Abends mit einem ver-
24 Moses Mendelssohn.
nunftliebenden Geschöpf unterhalten kann", schreibt er an einen
Freund. Aber am meisten schüttet er in dieser Beziehung,
wie in jeder andern. Lessing sein Herz aus: „die Geschäfte!
die lästig-en Geschäfte ! Sie drücken mich zu Boden und ver-
zehren die Kräfte meiner besten Jahi^e. Wie ein Lastesel
schleiche ich mit beschwertem Rücken meine Lebenszeit hin-
durch; und zum Unglück sagt mir die Eigenliebe oft ins Ohr,
dass mich die Natur vielleicht zum Paradepferd erschaffen hat."
Und an einer anderen Stelle: „Ein guter Buchhalter ist gewiss
ein seltenes Geschöpf. Er verdient die grösste Belohnung ; denn
er muss Verstand, Witz und Empfindung ablegen, und ein Klotz
werden, um richtig Buch zu führen. Verdient ein solches Opfer
zum Besten der Finanzen nicht die grösste Belohnung ? — Wie
ich heut auf diesen Einfall komme, fragen Sie? Sie können
es wohl unmöglich errathen, dass mir des H. v. Kleist neue
Gedichte dazu Anlass gegeben haben. Ich liess sie mir des
Morgens um 8 Uhr kommen. Ich wollte unserm lieben Nikolai
eine unvermuthete Freude damit machen und sie mit ihm durch-
lesen. AUein ich ward verhindert — die imgestümen Leute!
Was bringt er mein Freund? Und Sie Gevattern? Und Er
Geselle? Lassen Sie mich heut', ich kann nicht! „Sie halben
ja nicht irgend Feiertage ?" — Das wohl eigentlich nicht, aber
ich bin krank. Es verschlägt Ihnen ja nichts. Kommen Sie
morgen wieder. — Diese Leute waren gefällig, aber mein Principal
war es nicht. Ich bekam Arbeit bis gegen Mittag. Ich las
indessen unter der Arbeit hier und da ein Fleckchen; und da
merkte ich, wie schwer es ist, Empfindungen zu haben und
Buchhalter zu sein. Ich fing an, in Handlungssachen schön
zu denken, und machte in meinen Büchern eine von den Schön-
heiten, die man an einer Ode zu rühmen pflegt. Ich ver-
wünschte meinen Stand, schickte die Gedichte unserm Esquire,
der von seinen Geldern lebt, ha, nicht ohne Neid, und ward
verdriesslich." —
So hatte Mendelssohn von dem Geschäft wohl manche Plage ;
indessen war es einestheils gemss seiner Gesundheit zuträglich,
und namentlich während einer mehrjährigen Krankheit, wo ihm
alle geistige Anstrengung, bis auf das Briefschreiben sogar.
Praktische Thätigkeit. 25
verboten war, hielt es ihn alleüi aufrecht, dass er wenigstens
im Geschäft arbeiten diu-fte: absoluter Müssiggang wäre für
ihn der Tod gewesen. Ausserdem aber darf man wohl diesem
harten Untergründe seiner geistigen Thätigkeit das Praktische
der Letzteren, die Rücksicht auf das erreichbar Mögliche, die
Anwendung der zweckdienlichsten Mittel zuschreiben, Eigen-
schaften, die Mendelssohn so charakteristisch sind. Die kauf-
männische Thätigkeit ist allem Verschwimmen in phantastische,
luftige Gebiete feindlich; sie gab ilim Kenntniss der Menschen,
wie sie wirklich sind, und der Mittel, mit denen man auf die
Menschen wirkt. Es ist sehr fraglich, ob Mendelssohn, wäre
er nicht als Kaufmann mit dem Leben in Verbindung geblieben,
dem „Mann von Stande" mit seinem palästinensischen Projekt
eine so praktische, abweisende Antwort gegeben, oder einen
Satz, wie den folgenden, geschrieben haben würde: „Ich bin
mir nur garzusehr bewusst, wie wenig Einfluss meine Worte
und Vorstellungen auf den grossen Haufen haben. Mein Wirkungs-
kreis ist von jeher auf wenige Freunde eingeschränkt gewesen
und hat sich, seitdem ich Kinder zu bilden und zu erziehen
habe, noch enger zusammengezogen. Ausserhalb dieser Sphäre
habe ich und suche ich keinen Einfluss. Ich fühle die Schranken
meiner Kräfte und halte mich innerhalb derselben ruhig und
stille, weil ich meinem Maass doch nichts zusetzen kann." —
Mendelssohn war klein, stark verwachsen, er hatte einen
Höcker auf dem Eücken und stotterte ; aber der geistvolle
kluge Kopf, von dem Lavater jene lebendige Schilderung ent-
worfen, entschädigte dafür, wie so oft bei Verwachsenen.
Körperliche Schönheit ist em vortrefflicher Empfehlungsbrief
im Umgang mit Menschen, aber mehr nicht, und es sind schliess-
lich andere Eigenschaften, die dauernd fesseln, wie uns Mendels-
sohn mit seiner grossen Beliebtheit in den weitesten Kreisen,
mit der unwandelbaren Freundschaft, die ein Lessing für ihn
gehabt, beweist. Aber er erfreute sich nicht nur der Zuneigung
aller mit ihm in Berührung kommenden Männer, sondern war
auch sehr glücklich verheirathet: Auf einer Reise nach Hamburg
lernte er im Jahre 1762 Fromet, die Tochter des Abraham
Gugenheim, kennen, und heirathete sie im folgenden Jahr.
26 Moses Mendelssohn.
Berthold Auerbach berichtet in seinem Buch „Zur guten
Stunde" nach mündlicher Ueberlieferung die Art, wie Moses
seine Frau gewonnen habe, folgendermassen :
Moses Mendelssohn war im Bade Pyrmont. Hier lernte
er den Kaufmann Gugenheim aus Hamburg kennen. ,,Eabbi
Moses," sagte dieser eines Tages, „wir Alle verehren Sie, aber
am meisten verehrt Sie meine Tochter. — Mir wäre es das
höchste Glück Sie zum Eidam zu haben; besuchen Sie uns
doch einmal iu Hamburg."
Moses Mendelssohn war sehr schüchtern, denn er war
traui'ig verwachsen. Endlich entschloss er sich doch von
Berlin aus zur Reise und besuchte unterwegs Lessing in Braun-
schweig, wie in dessen Briefen zu lesen.
Mendelssohn kommt nach Hamburg und besucht Gugen-
heim in seinem Comptoir. Dieser sagt: ,, Gehen Sie hinauf zu
meiner Tochter, sie wii'd sich freuen, Sie zu sehen, ich habe
viel von Hmen erzählt."
Mendelssohn besucht die Tochter; andern Tags kommt
er zn Gugenheim und fragt endlich, was die Tochter, die ein
gar anmuthiges AVesen sei, von ihm gesagt habe?
„Ja, verehrter Rabbi," sagt Gugenheim, „soll ich's Hinen
ehrlich sagen?"
„Natürlich!" —
„Nun, Sie sind ein Philosoph, ein Weiser, ein grosser
Mann, Sie werden es dem Kinde nicht übel nehmen; sie hat
gesagt, sie wäre erschrocken, wie sie Sie gesehen hat, weil
Sie — "
„Weü ich einen Buckel habe?"
Gugenheim nickte.
„Ich habe es mir gedacht, icli will aber doch bei Hirer
Tochter Abschied nehmen."
Er ging hierauf in die Wohnung und setzte sich zu der
Tochter, die nähte. Sie sprachen gut und schön miteinander,
aber das Mädchen sah nicht von ihrer Arbeit auf, vermied,
Mendelssohn anzusehen. Endlich, da dieser das Gespräch ge-
schickt so gewendet, fragt sie:
Heirath. 27
„Glauben Sie auch, dass die Ehen im Himmel gesclilossen
werden?"
„Gewiss, und mir ist noch was Besonderes geschehen.
Bei der Geburt eines Kindes wird im Himmel ausgerufen: Der
und Der bekommt Die und Die. Wie ich nun geboren werde,
wii'd mir auch meine Frau ausgerufen, aber dabei heisst es:
Sie wird, leider Gottes, einen Buckel haben, einen schrecklichen.
Lieber Gott, habe ich da gesagt, ein Mädchen, das verwachsen
ist, wird gar leicht bitter und hart, ein Mädchen soll schön
sein, lieber Gott, gieb mir den Buckel, und lass das Mädchen
schlank gewachsen und wohlgefällig sein."
Kaum hat Moses Mendelssohn das gesagt, als ihm das
Mädchen um den Hals fiel — und sie ward seine Frau, und
sie wurden glücklich mit einander, und hatten schöne und
brave Kinder, von denen noch Nachkommen leben. —
Dass es eine Liebesheirath war, geht aus einem Brief an
Lessing*) hervor: „Das Frauenzimmer, das ich zu heirathen
Willens bin, hat kein Vermögen, ist weder schön, noch gelehrt;
und gleichwohl bin ich verliebter Geck so sehr von ihr einge-
nommen, dass ich glaube, glücklich mit ihr leben zu können."
— Und er lebte glücklich mit ihr; er schreibt an Abbt**) I7ö6:
„Ich habe beinahe die ganze Zeit in der äussersten Gemütlis-
unruhe gelebt. Ich habe meinen alten Vater, ich habe ein
Kind von einigen Monaten verloren, ich bin in Gefahr gewesen,
meine Frau, die ich mehr liebe als Vater und Kind, zu ver-
lieren."
Das Einkommen Mendelssohn's war nur ein sehr massiges ;
viele seiner Schriften lieferte er ganz unentgeltlich, z. B. die
grosse Pentateuch-Üebersetzung; Vermögen hatte er nicht, und
so musste sein Gehalt als Buchhalter ausreichen. Hier wird
das Walten seiner Frau besonders erspriesslich gewesen sein,
die alles aufs sparsamste eüirichtete. Es wird uns erzählt.
*) Ohne Datum, Moses Mendelssohn's gesammelte Schriften.
V. Bd. S. 165.
**) Ohne Datum, 1761 (Briefe an Lessing, herausgeg. v. Redlich,
Berlin 1879, S. 166).
28 Koses Mendelssohn.
dass Fromet Abends, wo bei Mendelssohn fast immer offenes
Haus war, in die auf den Tisch zu setzenden Schalen mit
Süssigkeiten, die Eosiuen und Mandeln hinein zählte, damit
nicht zu viel drauf gehe, und der Haushalt in Avichtig-eren
Dingen Noth leiden möchte.
Mendelssohn hatte viele Kinder: zwei starben ganz klein,
ein Mädchen im Alter von 11 Monaten, worüber er an Abbt
schi-eibt: „Der Tod hat an meine Hütte gepocht, und mii'
ein Kind geraubt, das nur 11 unschuldige Monate, aber diese
Gottlob! munter und imter hoffnungsvollen Versprechungen auf
Erden srelebt hat. Mein Freund! die Unschuldio-e hat die 11
Monate nicht vera-ebens s'elebt. Ihr Geist hat in dieser kurzen
Zeit ganz erstaunliche Progressen gemacht. Von einem Thier-
chen, das weint und schläft, ist sie der Keim eines vernünftigen
Geschöpfs geworden. Wie die Spitzen des jungen Grases im
Frühlinge durch den harten Erdboden di'ingen, so sähe man.
bei ihr die ersten Leidenschaften anbrechen. Sie zeigte Mit-
leiden, Hass, Liebe, Bewunderung, verstand die Sprache des
redenden Menschen, und war bemüht, ihre Gedanken Anderen
zu erkennen zu geben. Ist von allem Diesen keine Spur mehr
in der ganzen Natur anzutreffen? — Sie werden über meine
Einfalt lachen, und in diesem Eaisonnement die Schwachheit
eines Menschen erkennen, der Trost sucht, und ihn mi-gend
findet als in seiner Einbüdimg. Es kann sein! — Ich kann
nicht glauben, dass uns Gott auf seine Erde etwa wie den
Schaum auf die Welle gesetzt hat." — Ein Knabe starb 12
Jahr alt, und es blieben 3 Söhne und 3 Töchter. Diese wiu'den
aufs Beste erzogen, von vortrefflichen Lehi'ern unterrichtet
und keine Ausgabe gescheut, ihnen einen Platz unter den Ge-
bildetsten zu sichern. Herz Homberg, der ihr Hauslehi-er ge-
wesen, siedelte später nach Oesterreich über, und in den Briefen
an um kommen häufig Ansichten über die Kinder vor, die
uns beweisen, dass Mendelssohn ein liebender, aber keineswegs
blinder Vater war, der mit scharfem Auge die Ent\nckelung
der Kinder aufmerksam verfolgte, sich der guten Anlagen, der
schönen Aussichten, die ihm in ihnen erblühten, freute, aber
auch ihi'e Fehler klar erkannte.
Tageseintheilung. 29
Mendelssohn theilte seinen Tag folgendermassen ein: Sommer
nnd Winter stand er Morgens um 5 auf, und beschäftigte sich
dann einige Stunden mit wissenschaftlichen Arbeiten. Dieser
Zeit verdankt sein letztes Werk seine Entstehung und den
Namen „Morgenstunden." Von 9 bis 3 Uhr war er auf der
Fabrik, aber auch hier standen in emer kleinen Bibliothek
wissenschaftliche Werke, und jede Müsse in den Geschäften
benutzte er. Oefters kamen Fremde, die ilin kennen lernen
wollten und dort aufsuchten, und in bunter Mannigfaltigkeit
drängten sich Arbeiter mit Proben, Gelehrte mit philosophischen,
Kaufleute mit Handels-Anliegen, Comptoirgeschäfte und stille
Momente mit den Büchern. Alles behandelte er mit gleicher
Klarheit, und solcher Wechsel diente dazu, seinem Geist die
frische Spannki^aft zu erhalten.
Von drei Uhr ab war der Nachmittag frei. Er wurde
theilweis wieder wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet, theilweis
der Erholung in der Natur. Berlin war damals nicht das
Häuserungethüm mit unabsehbaren, staubigen und übelriechenden
Strassen, man konnte leicht nach jeder Richtung hin das Freie,
frische Luft und den Anblick grüner Felder und schattiger
Bäume erreichen — aber den Juden wurde das Spaziergehen
an öffentlichen Orten auf mancherlei Weise verbittert. „Ich
ergehe mich," schreibt Mendelssohn an Winkopp, „zuweilen
des Abends mit meiner Frau und meinen Kindern. Papa! fragt
die Unschuld, was ruft uns jener Bursche dort nach ? Warum
werfen sie mit Steinen liinter uns her? Was haben wir ihnen
gethan! — Ja! lieber Papa! spricht ein anderes, sie verfolgen
uns immer in den Strassen und schimpfen : Juden ! Juden ! Ist
denn dieses so ein Scliimpf bei den Leuten, ein Jude zu sein?
Und was hindert dieses andere Leute? — Ach! ich schlage
die Augen nieder, und seufze mit mir selber : Menschen ! Menschen
Wohin habt Ihr es endlich kommen lassen?" — So miethete
sich denn Mendelssohn einen Garten, wohin er in der guten
Jahreszeit aus der Stadtwohnung immer ging. Letztere war
in der Spandauerstrasse und ist nach seinem Tode mit einer
Gedenktafel versehen worden. — Jenes Gartens erwähnt er
oft mit innigem Behagen in seinen Briefen; er lag ganz in der
30 Moses Mendelssohn.
Nähe des Nikolai'schen, und die Freunde weilten bald in diesem
bald in jenem. „Kommen Sie zu uns!" schreibt Mendelssohn
an Lessing während des 7 jährigen Krieges, „wir wollen in
unserm einsamen Gartenhause vergessen, dass die Leidenschaften
der Menschen den Erdball verwüsten. Wie leicht wird es uns
sein, die nichtswürdigen Streitigkeiten der Habsucht zu ver-
gessen, wenn wir unsern Streit über die wichtigsten Materien,
den wir schriftlich angefangen, mündlich fortsetzen werden." —
Kam dann der Abend heran, so versammelte sich im
Mendelssohn'schen Hause fast täglich ein Kreis näherer und
entfernterer Bekannten; es herrschte jene angenehme Gesellig-
keit, bei der jeder im Haus Eingeführte uneingeladen Abends
erscheint, wann es ihm beliebt, und bleibt, solange es ihm ge-
fällt. Man findet Bekannte, wie sie denn der Zufall vereinigt,
es wird ein lebhaftes, immer wechselndes Gespräch geführt;
das Abendessen ist einfach, wie es diese improvisirte Gesellig-
keit bedingt. Solange die Familie Mendelssohn in Berlin lebte,
ist sie ein Hauptträger dieser schönen Vereinigungsart von
Menschen gewesen; es gab fast keinen bedeutenden Berliner,
oder Berlin besuchenden ausgezeichneten Fremden, der nicht
in den aufeinander folgenden Generationen im Hause Moses
Hendelssohn's, Abraham Mendelssohn-Bartholdy's, Hensel's und
Dii'ichlet's gewesen wäre.
Bei Moses drehte sich das Gespräch In diesen abendlichen
Zusammenkünften gewöhnlich um litterarische und Kunstinter-
essen, selten um streng wissenschaftliche Gegenstände. *)„Moses
sass gewöhnlich als Kampfrichter auf seinem Armsessel mit
niedergesenkten Augen. Aber Alle sahen auf ihn und seine
Bewegungen. Oft befeuerte er den Muth dui'ch ein plötzliches
Auffaln-en, oder durch einen emsilbigen Ausruf, oft belohnte er
durch lächelnden Beifall. Ein schneUes Niedersehen, ein ver-
neinendes Kopfschütteln galt ohne ein lautes Wort für bedeu-
tenderen Tadel. Wenn dieses nicht wirkte, wenn der Gegner
auf wohlbegründete Einwände sich nicht ergab, oder wenn end-
*) Aus der den „gesammelten Werken« Yorgedruckten Lebens-
geschichte Moses Mendelssohn's.
Art des Disputirens. Schutzjudenthum. 31
lieh Reden und Gegenreden sich durchkreuzten und verwirrten,
so stand er wohl auf von seinem Sitze, trat in die Mitte der
Streitenden und schien liebreich um Gehör zu bitten. Dann
erfolgte ein ehrerbietiges Stillschweigen. Nun nahm er den
Faden des Gesprächs auf, entwickelte die Streitfrage, stellte
Satz und Gegensatz mit eüier ihm eigenthümlichen Klarheit
und Kürze gegeneinander, und Hess die Streitenden die Ver-
gleichspunkte selbst finden, ohne des Einen oder des Andern
Parthei gradezu zu nehmen. Wenn sich dann die Hitze gelegt
und die Vereinigung stattgefunden hatte, pflegte Mendelssohn
zu sagen: „Sehen Sie, meine Herren! Es war ein blosser
Wortstreit, wie es gemeiniglich der Fall ist, ich glaubte gleich,
Sie würden eines Sinnes werden." — Ueberhaupt hatte er die
Sokratische Ai^t des Disputirens angenommen, das, was er lehren
wollte, aus dem Geist der Schüler herauszuentwickeln, statt es
in sie hineinzutragen."
Da weder Mendelssohn noch seine Frau geborene Preussen
waren, so konnten sie nach den damals geltenden Bestimmungen
nur unter dem Schutz eines ansässigen Juden in Berlin leben.
Der Marquis d'Argens, der dies zufällig gehört hatte und von
Frankreich her derartige Verhältnisse nicht kannte, hielt es
für unmöglich, dass ein Mann wie Mendelssohn täglich in der
Gefahr sein sollte, durch die Polizei ausgelesen zu werden.
Er sprach mit Mendelssohn darüber, und dieser bestätigte es
und sagte: „Sokrates bewies ja seinem Freunde Criton, dass
der Weise schuldig ist zu sterben, wenn es die Gesetze des
Staates fordern. Ich muss also die Gesetze des Staates, in
dem ich lebe, noch für milde halten, dass sie mich bloss aus-
treiben, im Fall mich in Ermangelung eines andern Schutzjuden
auch nicht ein Trödeljude für seinen Diener erklären will." —
Der Marquis verlangte, Mendelssohn solle eine Bittschrift auf-
setzen, die er selbst übergeben wolle. Hierzu wollte sich
Mendelssohn anfangs nicht verstehen. „Es thut mir weh,"
sagte er, „dass ich um das Recht der Existenz erst bitten soll,
welches das Recht eines jeden Menschen ist, der als ruhiger
Bürger lebt. Wenn aber der Staat überwiegende Gründe hat,
Leute wie meine Nation nur in gewisser Anzahl aufzunehmen,
32 Moses Mendelssohn.
welches Vorrecht kann ich vor meinen übrigen Mitbrüdern haben,
eine Ausnahme zu verlangen?"
Erst den häufigen Ermahnungen seiner Freunde gelang
es, ihn endlich zur Abfassung einer Bittschrift zu bewegen,
die d'Argens persönlich übergab — und Mendelssohn bekam
keine Antwort; es erwiess sich, dass die Bittschrift — ob ab-
sichtlich oder unabsichtlich, bleibe dahingestellt — verloren
gegangen war. Auf ein Diiplicat derselben schrieb d'Argens:
„ Un Philosophe mauvais catholique suppUe un PMlosoplie mauvais
Protestant de donner le privilege a un Philosophe mauvais juif. 11
y a trop de philosophie dans tout ceci^ pour que la raison ne soit
pas du cote de la demande.'''' — Mendelssohn erhielt das Privi-
legium 1763. Später bat er um die Ausdehnung desselben
auf seine Nachkommen, welches ihm aber Friedrich der Grosse
abschlug und erst Friedrich Wilhelm II. 1787 der Wittwe
und den Kindern gewährte, wie es in der betreffenden Urkunde
heisst: „wegen der bekannten Verdienste Ihres Mannes und
Vaters."
So milde Mendelssohn war, fehlte es ihm doch nicht an
schlagfertigem Witz. Teller wandte sich einst an ihn mit
folgender scherzhaften Anrede:
An Gott den Vater glaubt ihr schon,
So glaubt doch auch an seinen Sohn.
Ihr pflegt doch sonst bei Vaters Leben
Dem Sohne gern Credit zu geben.
Mendelssohn antwortete:
Wie könnten wir Credit ihm geben?
Der Vater wird ja ewig leben.
Und die Abfertigung jenes Lieutenants ist bekannt, der
ihn anschnarrte: „Womit handelt er?" — „Mt etwas, was
Sie brauchen können — mit Verstand."
Ein junger Schriftsteller brachte ihm einst einen Aufsatz
über die Freiheit des menschlichen Willens. „Ich habe Ihren
Aufsatz nicht lesen können," sagte ihm Mendelssohn, als er
nach einiger Zeit um sein Urtheil bat. Der Autor, etwas
empfindlich, entschuldigte sich, dass er belästigt habe. Mendels-
sohn beruhigte ihn und versicherte, er habe wirklich Abhaltung
Letzte Schrift. 33
gehabt. „Wie konnten Sie aus meinen vorigen Aeusseningen
schliessen, dass ich Ihren Aufsatz für schlecht hielte?" „Weil
ich glaubte, Sie hätten ihn nicht lesen wollen." „Sie machen
also, wie ich höre, einen Unterschied zwischen wollen und
können," versetzte Mendelssohn, „dann darf ich ja Ihren
Aufsatz über WiUensfreiheit gar nicht lesen, denn ich höre,
wir sind einig."
Mendelssohn's Gresundheit war von jeher eine schwächliche,
durch angestrengtes Arbeiten in früher Jugend und unzuläng-
liche Nahrung noch untergrabene gewesen. Doch erhielt er
sie durch ausserordentlich regelmässiges Leben in leidUchem
Zustand, bis die Aufregungen des Lavater'schen Streites ihm
eine tiefeingreifende Nervenkrankheit zuzogen, die ihn 7 Jahre
lang zu aUem Studiren unfähig machte. Die aufopfernde, treue
Pflege seiner Frau und der zweimalige Besuch des Bades
Pyrmont stellte ihn indess wieder her. So lebte er noch
ziemlich rüstig bis zum Schluss des Jahres 1785. Aber der
Tod Lessings und der sich in Folge dessen anspinnende Streit
mit Jacoby regte ihn wieder zu tief auf. Am letzten Decembesr
1785 brachte er das Manuscript seines letzten Worts in dieser
Streitsache zu seinem Verleger Voss. Am Schluss dieser letzten
Bogen, die er geschrieben, heisst es: „Ich glaube, es sei bei
so bewandten Umständen durch Disput wenig auszurichten und
also wohlgethan, dass wir auseinander scheiden. Er kehre zu
dem Glauben seiner Väter zurück, bringe durch die siegende
Macht des Glaubens die schwermäulige Vernunft unter Gehor-
sam, schlage die aufsteigenden Zweifel, wie in dem Nachsatze
seiner Schrift geschieht, durch Autoritäten und Machtsprüche
nieder, „segne und versiegele seine kindliche Wiederkehr mit
Worten aus dem frommen engelreinen Munde Lavater's." —
Ich von meiner Seite bleibe bei meinem jüdischen Unglauben,
traue keinem Sterblichen einen „engekeinen Mund" zu, möchte
selbst von der Autorität eines Erzengels nicht abhängen,
wenn von ewigen Wahrheiten die Rede ist, auf welche sich
des Menschen Glückseligkeit gründet, und muss also schon
hierin auf eignen Füssen stehn und fallen; oder vielmehr da
wir Alle, wie Herr Jacoby sagt, „im Glauben geboren" sind,
Die Familie Mendelssohn. L 3
34 Moses Mendelssohn,
so kehre auch ich zum Glauben memer Väter zurück, welcher
nach der ersten ursprünglichen Bedeutung des Worts nicht in
Glauben an Lehre und Meinung, sondern in Vertrauen
und Zuversicht auf die Eigenschaften Gottes besteht. Ich setze
das volle, uneingeschränkte Vertrauen in die Allmacht Gottes,
dass sie dem Menschen habe die Kräfte verleihen können,
die Wahrheiten, auf welche sich seine Glückseligkeit gründet,
ohne Autorität zu erkennen, und hege die kindliche Zuver-
sicht zu seiner Allbarmherzigkeit, dass sie mir diese Kräfte
hat verleihen wollen. Von diesem unwankenden Glauben
gestärkt, suche ich Belehrung und Ueberzeugung, wo ich sie
finde. Und, Preis sei der seligmachenden Allgütigkeit des
Schöpfers, ich glaube sie gefunden zu haben, und glaube,
dass Jeder sie finden könne, der mit offenen Augen sucht, und
sich nicht selbst das Licht verstellen will." —
Auf diesem Gange zum Verleger erkältete er sich; die
Sache schien zuerst unbedeutend, verschlimmerte sich aber
schnell und am 4. Januar 1786 starb er. Sein Ende war, wie
das fast aller seiner Nachkommen, ein schnelles, nahezu
schmerzloses. Sein Arzt, Hofrath Marcus Herz, berichtet
darüber:*)
„Mittwochs des Morgens um 7 Uhr kam sein Sohn bestürzt
zu mir und bat mich, sogleich zu seinem Vater zu kommen,
der sehr unruhig wäre. Ich eilte hin und fand ihn auf seinem
Sopha — sein Ansehn ward immer misslicher: und während
ich in das benachbarte offene Zimmer zu seiner Gattin und
seinem Schwiegersohne ging, ihnen seinen Zustand zu ver-
kündigen und zu bitten, dass man mir einen Gehülfen riefe,
hörte ich ein Geräusch auf dem Sopha; ich sprang hinzu, und
da lag er, ein wenig von dem Sitze herabgesunken, mit dem
Kopfe rückUngs — und weg war Athem, Puisschlag und
Leben. Wir versuchten Verschiedenes, ihn zu ermuntern,
aber vergebens. Er lag, ohne vorhergegangenes Eöcheln,
*) s. seine Erzählung an Engel in dessen Vorrede zu der
Schrift: „An die Freunde Lessings."
Tod. 35
ohne Zuckimg, ohne Verzerrung, mit seiner gewöhnlichen
Freundlichkeit auf den Lippen, als wenn ein Engel um von
der Erde hinweggeküsst hätte. Sein Tod war der so seltene,
natürliche, ein Schlagfluss aus Schwäche. Die Lampe erlosch,
weil es ihr an Oel gebrach; und nur ein Mann wie er, von
seiner Weisheit, Selbstbeherrschung, Massigkeit und Seelenruhe,
konnte bei seiner Konstitution die Flamme 57 Jahre brennend
erhalten." —
Die Theilnahme, als die Trauerkunde sich verbreitete,
war eine allgemeine in ganz Deutschland.
8*
Joseph und Nathan Mendelssohn.
Moses Mendelssohn Mnterliess 3 Söhne, Joseph, Abraham
und Nathan, nnd 3 Töchter, Dorothea, Henriette und Recha,
in wenig glänzenden Verhältnissen; er hatte nicht viel Ver-
mögen sammeln können, und die Sorge um das Wohlergehn
seiner Kinder trübte ihm noch die letzten Tage seines Lebens,
Einige Zeit vor seinem Tode fand ihn einer seiner Freunde
unter dem Baume vor seinem Hause sitzen und fragte ihn:
^Was haben Sie, lieber Herr Mendelssohn? Sie sehen so be-
sorgt aus?" — ^Ja,'' antwortete er, „ich bin es auch; ich
denke daran, wie es meinen Kindern gehn wird nach meinem
Tode, da ich ihnen nur wenig Vermögen hinterlasse." Und
Joseph Mendelssohn, der älteste Sohn Moses', der dies in der
kurzen, den gesammelten Werken seines Vaters vorgedruckten
Biographie erzählt, fügt hinzu: „Wenn du verklärter Geist
auf uns Erdenkinder herabsiehst, so wirst du dich überzeugen,
dass Gott sich aller deiner Nachkommen angenommen hat, das»
alle ein anständiges Auskommen haben und ein ehrbares Leben
führen." —
Moses Mendelssohn folgte der Entwickelung seiner Kinder
mit aufmerksamem Auge; er freute sich ihrer guten Anlagen,
der schönen Aussichten, die ihm in ihnen erblühten; er war
aber kein blinder Vater, und erkannte auch ilire Fehler. Herz
Homberg, der Hauslehrer bei Moses gewesen war, siedelte
später nach Oestreich über; in den Briefen an diesen kommen
Joseph Mendelssohn. 87
häufig Nachrichten über die Kinder vor; so schreibt er über
Joseph, den Aeltesten:*) Sie wollen wissen, wie es mit meinem
Sohne, Ihrem Schüler steht? Ich muss Urnen sagen, dass ich
mit seinem Fleisse zufrieden bin; er macht auch ziemliche
Progressen. Wieviel er in diesem oder jenem Buche gelernt
hat, darauf sehe ich so genau nicht; genug, er denkt, und
denkt richtig und tief. Auch sein Geschmack fängt an sich
zu bilden. Worüber ich zu klagen habe, ist das ünbiegsame
in seinem Charakter, das Unsanfte in seinem ganzen Wesen,
das ihn zwar nicht unsittlich, aber doch ungefällig macht, und
auf sein künftiges Glück wenigstens eine schlimme Wirkung
haben kann. Sie kennen ihn: er war immer von einer Ge-
müthsart, die zehnmal eher bricht als biegt; und so ist er
noch. Alle meine Bemühungen sind bisher ohne Wirkung.
Er ist sogar sophistisch genug, gegen aUe seine Freunde die
ihn (wiewohl sehr wider meinen Willen) zuweilen aufziehn,
seine Schwachheit durch Gründe zu behaupten. Ich gebe fast
die Hoffnung auf, ihn von dieser Seite gebessert zu sehen,
wenn er nicht das Glück hat, einem Frauenzimmer zu Gefallen
sich etwas mehr Gewalt anzuthun." — Und an einer andern
Stelle:**)
„Mein Joseph hat sein hebräisches Studium sogut als
an den Nagel gehängt. Unglücklicherweise war er unmittelbar
nach Ihnen einem Gelehrten in die Hände gekommen, der ein
leerer Meister in der Disputirkunst war, und so sehr auch
Joseph den Scharfsinn liebt und dem Disputiren ergeben ist,
so hat er doch für die eigentliche ,, Haarspalterei"***) keinen
Sinn. Es gehört, wie Sie wissen, eine ganz besondere Art
des Unterrichts dazu, an dieser Geistesübung Geschmack zu
finden; und wiewohl wir Beide diesen Unterricht selbst genossen
haben, so kamen wir doch darin überein, dass Joseph lieber
etwas stumpfsinniger bleibe, als dass man ihn in einer so un-
*) Moses Mendelssohn's gesammelte Schriften. Bd. V. S. 670.
**) A. a. 0. Bd. V. S. 673.
***) So lässt sich wohl das im Original gebrauchte hebräische
Wort wiedergeben.
38 Joseph Mendelssohn.
fruchbaren Art des Witzes übe. Der Missgeschmack den er
also an dem Unterricht seines Lehrers fand, brachte ihm eine
Abneigung gegen das ganze Studium bei. In den soliden
Wissenschaften macht er übrigens gute Fortschritte, dringt
tief ein, und schaut mit festem, forschendem Blick umher;
thut aber niemals grosse Sprünge, wie von einem jungen,
feurigen Kopf erwartet werden könnte. In Absicht auf seine
künftige Lebensart haben wir noch nichts bestimmt. Ich bin
noch immer ungewiss, wozu ich ihm rathen soU. Seine Talente,
und guten Anlagen zu den gründlichen Wissenschaften lassen
in diesem Fache etwas vorzügliches von ihm erwarten. Als
Jude aber kann er blos Arzneikunst treiben, und zu dieser
hat er weder Lust noch Genie. Ihn der Handlung zu widmen
ist, wie mich dünkt, noch zu früh. Er mag also vor der
Hand alles lernen, wozu er Lust und Trieb empfindet. Zum
Kaufmann wird er dadurch wenigstens nicht verdorben. Er
mache es allenfalls, wie sein Vater es hat machen müssen:
stümpere sich durch, bald als Gelehrter, bald als Kaufmann,
ob er gleich Gefahr läuft, keines von beiden ganz zu werden.
So gern er übrigens denkt, und so richtig: so träge und
langsam ist er zum Schreiben. Gut und gründlich ist Alles,
was er aufsetzt. Er ergreift aber nur selten die Feder: nur
alsdann wenn er etwas hört, oder selbst denkt, das ihm von
Wichtigkeit scheint. Auch freundschaftliche Briefe gelingen
ihm; aber er schreibt sie nur alsdann, wenn sich ihm neue
Gedanken anbieten, die ihm fruchtbar scheinen. Die Uebung,
seme Gedanken niederzuschreiben, wird in unserer besten Er-
ziehung mehrentheils vernachlässigt. Mir selbst ist es
noch allezeit Arbeit, so oft ich meine Gedanken in Schrift
verwandeln soU.
Meine übrigen Kinder schlagen alle vor der Hand so ein^
wie wir es vermuthet und grösstentheils gewünscht hatten
„nicht lang und nicht kurz, nicht weise und nicht thöricht",*)
bis auf meinen kleinsten Nathan, der sich den Weisen nennt,
und dessen Weisheit noch vor der Hand darin besteht, dass.
") Jüdisches Sprichwort.
Joseph Mendelssohn. 39
er von Swa Zuckerbrodt, von E. Samuel Pfefferkuchen und
von der Köchin Hanna alle seine übrigen Bedürfnisse er-
wartet."
Der Erfolg hat gelehrt, dass Moses Mendelssohn Recht
hatte, wenn er meinte, die wissenschaftliche Erziehung ver-
derbe seinen Sohn nicht für den Kaufmannsstand. Nicht so
richtig prophezeite er mit dem „Durchstümpern" und Schwanken
zwischen Gelehrtem und Kaufmann. Joseph ergriff diesen
Stand, voll und ganz; aus kleinen Anfängen heraus legte er
den Grund zu dem noch heut seinen Namen führenden Bank-
hause, und hinterliess dasselbe bei seinem Tode auf dem sichern
Wege zu seiner jetzigen Bedeutung.
lieber die äusseren Lebensschicksale der Hinterbliebenen
in der ersten Zeit nach Moses Tode wissen wir nicht viel.
Die ersten Jahre lebte die Wittwe noch in Berlin. Hier hatte
auch Joseph bis zum Schluss des Jahres 1804 ein kleines Bank-
geschäft, in dem nur zwei Commis beschäftigt wurden. Dem-
nächst siedelte die Familie nach Hamburg über, wo sich Joseph
mit seinem jungem Bruder Abraham associirte; das Berliner
Geschäft wurde indess nicht aufgegeben.
Abraham's Frau Lea schildert uns das Alter ihrer im
Jahre 1812 gestorbenen Schwiegermutter als ein sehr glück-
liches und rüstiges, üeber ihren Schwager Joseph spricht sie
sich gleich nach ihrer Ankunft in Hamburg folgendermassen
aus: „Sehr befriedigend kann ich Deine Frage nach den Be-
kannten, die mir gefallen, beantworten ; da erhält bis jetzt un-
streitig Joseph den ersten Preis. Dass er gescheut und angenehm
in der Unterhaltung ist, weisst Du; nun versichere ich Dich
aber, dass er in den paar Tagen, die ich ununterbrochen mit
ihm gelebt, mein ganzes Herz gewonnen hat, so froh und
freundlich, so gut und warm und heitern Geistes scheint er
mir. Hm mit seinen schönen Kindern*) zu sehn, ist ein wah-
res Vergnügen für mich; und nun ist er zuvorkommend und
herzlich, wie man ihm nie zutraut; ist achtungswerth als
thätiger, kluger Geschäftsmann und treibt nebenher Litteratur
*) Alexander und Benny Mendelssohn.
40 Joseph Mendelssohn.
und Wissenschaften mit Eifer und Eegsamkeit. Auch scheint
er mir sehr glücklich, was in meinen Augen eins der ersten
Talente des Gemüths ist, wenn ich so sagen darf, d.h.
von der Art Innern Glücks, das aus voller Lebenslust und
Thätigkeit des Geistes, nicht aus Beschränktheit und Gedan-
kenlosigkeit entsteht." —
Während der Besetzung Hamburgs durch die Franzosen
erregten Mendelssohns das Miss fallen derselben und mussten
heimlich bei Nacht und Nebel in Verkleidungen die Stadt ver-
lassen. Sie wandten sich nach Berlin, erweiterten dort
das Bankhaus, aus dem Abraham später ausschied, und
Berlin blieb fortan der Wohnsitz der Familie. Joseph
beschäftigte sich bis zuletzt in seinen Mussestunden be-
ständig mit wissenschaftlichen Gegenständen, und noch als
Greis ergriff er manche ihm bis dahin unbekannte Zweige
des menschlichen Wissens mit grossem Eifer und ruhte nicht,
bis er sie sich zu eigen gemacht. Bestimmend wirkte wohl
dabei auf ihn das universelle Genie A. v. Humboldt's ein, mit
dem er bis an sein Lebensende eng befreundet war. Eines
Tages kam Humboldt sehr verstimmt zu ihm und theilte ihm
mit, er müsse ausziehn, sein Wirth habe ihm gekündigt, und
sei ihm dies namentlich seiner vielen naturhistorischen Samm-
lungen wegen sehr störend, deren Ein- und Auspacken unend-
liche Arbeit verursache und nicht ohne Schaden abgehe. Jo-
seph Mendelssohn hörte ihn ruhig an und sagte nichts, am
Nachmittag aber erhielt Humboldt einen Brief von ihm, „er
solle ungestört, solange er wolle, wohnen bleiben, er (Joseph) sei
jetzt sein Wirth, er habe das Haus gekauft." — Derartige
grossartige Züge seines Lebens Hessen sich mehrere anführen.
Joseph hatte, wie sein Vater, das Glück eines schnellen,
schmerzlosen Todes. Seine Nichte Eebecka, die zweite Tochter
Abraham's, schrieb darüber den 2 6. November 1848 an die Familie:
„Joseph Mendelssohn ist gestern früh gestorben; sein Ende war
so beispiellos glücklich wie sein ganzes Leben. Nur wenige
Tage war er krank, nicht einmal bettlägerig, Tags zuvor hat
er sich noch mit Algebra beschäftigt, gelesen, die Nacht
ziemlich gut geschlafen; der Husten, an dem er einige Tage
Nathan Mendelssohn. 41
litt, Hess nach, Morgens liess er sich ankleiden, ging allein
nach seinem Lehnstuhle, und so, nach wenigen Minuten, ent-
schlief er. Es war ein vorauszusehender Verlust, aber ein
unersetzlicher; solche eigenthümliche bedeutende Männer wach-
sen nicht viel nach; es gehörte auch sein reichbeglückter
und bewegter Lebenslauf dazu, um ihn so auszubilden. Ich
habe den alten Mann, wie Du weisst, sehr selten nur gesehen,
und es thut mir doch gar zu leid, dass er nicht mehr unter
uns weilt. Wir sind wieder bedeutend ärmer geworden, seit
dieser stille, ganz in sich und den engen Kreis der Seinigen
zurückgezogene Mann von seinem thätigen, rastlosen Leben
geschieden.'' —
Jene Zeilen Lea's, diese ihrer Tochter, beide gleich aner-
kennend, geschrieben in so weit auseinanderliegenden Zeiten,
geben ein schönes Bild eines langen, nützlichen, reich voll-
brachten Lebens.
Der jüngste Sohn Moses', Nathan, lebte abwechselnd in
Schlesien und in Berlin, wo derselbe schliesslich eine kleine
Staatsanstellung hatte; er überlebte seine Geschwister alle,
und starb erst im Jahre 1852 schnell, und schmerzlos. Von
seinen Nachkommen waren mehrere sehr musikalisch, ein Erb-
theil, was vielen Descendenten Moses' beschieden war und ist.
Die Töchter Moses Mendelssohns.
Dorothea, die älteste Tochter Moses' (im Jahre 1765 in
Berlin geboren), ist durch ihre Ehe mit Friedrich Schlegel
allgemein bekannt.
Ihr lebhafter Geist hatte sich durch die Anregung im
elterlichen Hause und durch die Freundschaft mit Henriette
Herz und der Eahel zu höherer Durchbildung und Voll-
kommenheit, als es ihrem Geschlecht gewöhnlich zu Theil
wird, entwickelt. Es war ein gefährliches Geschenk, nament-
lich da Moses Mendelssohn, so weit er auch seiner Zeit und
dem Standpunkt des Judenthums vorangeschritten war, doch
eine nicht zu billigende Sitte desselben beibehalten zu haben
scheint. Bei Eingehung der jüdischen Ehen wurde nämlich
damals selten der zu verheirathende Mann, das Mädchen nie
um seine Meinung gefragt; die Eltern bestimmten über das
Schicksal ihrer Kinder mit unumschränkter Machtvollkommen-
heit. Das mochte auch in der gewöhnlichen Gattung jüdischer
Familien ganz gut gehn, da die geistige Entwickelung der
Männer schon sehr unbedeutend, die der Weiber aber gänzlich
Null war. Nun aber sollten die hochgebildeten Töchter
Mendelssohn's, die grosse Ansprüche des Verstandes und Her-
zens zu machen gelernt hatten, in derselben Weise an Männer
^vergeben" werden, wie die Töchter des ungebildetsten Handels-
juden. Es existirt ein höchst merkwürdiger Brief Mendels-
sohn's, der auf seine Denkweise über diesen Punkt eüi helles
Veit. Friedrich Schlegel. 43
Licht wirft: Herz Homherg, der Erzieher im Mendelssohn'schen
Hause gewesen war, ging nach Wien, verlobte sich dort, zeigte
dies Mendelssohn an und schlug zugleich eine Verbindung eines
Verwandten seiner Braut mit einer Tochter Mendelssohn's vor.
In der Antwort heisst es: — „Sicherlich würden wir uns,
meine Tochter und ich, und (wenn Sie es meiner Eigenliebe
vergeben wollen) vielleicht auch E. und Sie sich wohl dabei
befinden. Nur liegt ein Bedenken, eine Schwierigkeit im Wege,
die wohl nicht leicht wegzuräumen ist. Eine Partlüe,
die nicht Eigennutz zu Grunde haben soll, muss aus Neigung
entstehn. So wie ich den rechtschafienen E. selbst kenne und
durch Sie näher kennen lerne, halte ich ihn für edeldenkend
genug, sich über alle Eingebungen des Eigennutzes zu erheben
und aus Neigung zu wählen. Aber diese Neigung muss da
sein, bevor sie wirken kann; muss gefühlt werden, wenn sie
EntSchliessung zu Wege bringen soll. Sie iässt sich aber
nicht voraussetzen, entsteht nicht aus Hörensagen, weiss nichts
von Tradition oder Köhlerglauben, kennt nui' Evidenz der Sinne,
und übrigens keine Versicherung, wenn sie auch durch AVunder
und Zeichen bekräftigt wii'd; wie ein neckisches, launiges
Mädchen ist sie grade da, wo Ihr sie am wenigsten vermuthet,
und Iässt Euch vergebens warten, wo Hir auf sie Eechnung
gemacht habt. Ihre Genealogie klingt zuweilen sehr sonder-
bar, aber sicher ist sie noch selten aus Liebe zu des Vaters
Weltweisheit entstanden.
Da diese Theorie der Neigungen sowohl auf Erfahrung
als auf Grundsätzen beruht, so möchte ich mir selbst nicht
gern einen Gedanken in den Kopf setzen, der mich sehr schwin-
delig machen könnte. In der That, ein Schwiegersohn wie E.
wäre keine geringe Nahrung für meinen Stolz ! — Also hiervon
für dieses Mal genug." —
Mit welchen Gründen weist Mendelssohn den Vorschlag
zurück? Sie wären vortrefflich, wenn sie von der Neigung
des Mädchens handelten, aber der Vater des Mädchens spricht
nur immer von der Neigung des jungen Mannes ! Seiner Tochter
denkt er nicht mit einer Silbe. Es kommt gar nicht die Mög-
lichkeit in Betracht, dass sie auch eine Individualität, eine Nei-
44 Dorotbea Mendelssohn.
gnng haben könnte; wenn nur der Mann sie mag, ihre Ein-
\villigung versteht sich von selbst, und „sie würde sieb wohl
dabei befinden." —
Diese orientalische Anschauung des Weibes, als einer Sache
gleichsam, rächte sieb an allen Töchtern Mendelssohn's. Doro-
thea zuvörderst war in dieser Weise, ebenso wie ihre Freundin
Herz, noch jung einem Manne vermählt worden, dem sie keine
Neigung entgegenbrachte, einem jüdischen Kaufmann Veit. Es
war ein durch und durch braver, guter Mann; aber er konnte
ihr nicht die Schätze eines gelehrten und tiefen Geistes bieten,
die Marcus Herz seiner Frau bot und die für Dorothea durch
die Kreise, in denen sie ihre Jugend verlebte, ein Bedürfniss
geworden waren. So blieb denn die Ehe, trotz der Geburt
zweier Söhne, eine von Grund aus unharmonische und Dorothea
suchte bei den Büchern und ausser dem Hause bei ihren Freun-
dinnen Nahrung für ihren vielseitigen und leichtbeweglichen
Geist.
Da trat ihr — es war im Juli des Jahres 1797 — im
Herzischen Kreise ein Mann entgegen, dem trotz seiner Jugend,
— er war erst fünfundzwanzig Jahr alt, — schon ein litterarischer
Ruf vorangegangen war, dem mannigfache Bildung, glänzender
Witz und äussere Schönheit in ihren Augen grossen Reiz ver-
leihen mussten — Friedrich Schlegel, der seinerseits sich auch
zu ihr bald lebhaft hingezogen fühlte, obgleieh sie sieben Jahre
älter als er und keine Schönheit war.
Jemehr die Zuneigung zwischen diesen beiden echten Kindern
der romantischen Zeit wuchs, umsomehr lockerte sich naturge-
mäss das Band, welches Dorothea an Simon Veit knüpfte, und
es gelang den vermittelnden Bemühungen der Freunde, Henriette
Herz und Schleiermacher, (in den letzten Tagen des Jahres
179S) die Scheidung zu Stande zu bringen. Ein eigentliches
Zerwürfniss fand nicht statt: Veit bewies sich auch nach der
Trennung immer gegen sie als edler Freund, während sie ihren
Söhnen, die mit ihr lebten, eine treue, aufopfernde Mutter blieb.
Der jüngste dieser Söhne war der im Jahre 1877 hochbetagt
gestorbene, berühmte Maler Philipp Veit.
Eine Heirath mit Friedrich Schlegel kam vorläufig noch
Litterarische Thätigkeit. 45
nicht zu Stande. Er schreibt nach der Trennung von Veit
jubelnd an seine Schwägerin Caroline (Brief 120): „Freuen
Sie sich, dass mein Leben nun Grund und Boden, Mittelpunkt
und Form hat ; nun können ausserordentlicbe Dinge geschehen.*'
Diese bestanden dann in der Hervorbringung des vielberufenen,
von Schleiermacher vertheidigten Romans „Lucinde", in welchem
er sieb in dem Julius, die über alles Geliebte in der Lucinde,
der Titelheldin, darstellte.
Vorerst führte er (im Oktober 1799) Dorothea seinem
Bruder Wilbelm und dessen Gattin Caroline zu, die sie in Jena
gastlich aufnahmen. Hier entzündeteAugust Wilhelm Schlegel, der
alle Welt und namentlich seinen unproduktiven Bruder Friedrich
zum Dichten antrieb, auch in Dorothea die Lust zum Schrift-
stellern. Diese Thätigkeit schildert R. Haym, der verdienst-
volle Geschichtschreiber der romantischen Schule, mit folgenden
Worten : *)
^Die arme Dorothea in der That, die mit so rücksichts-
loser Entschlossenheit ihr Lebensschicksal an das ihres Freundes
geknüpft hatte, wurde zur Dichterin, sie wusste nicht wie
Li ihrem Gemüth lag vieles, was, wenn es mit schöpferischer.
Kraft verbunden ist, den Werth der Musenkunst erhöhen mag.
Sie war der selbstlosesten Hingebung, der aufopferndsten Treue
fähig und hat Beides unter harten Prüfungen in dem Verhält-
niss zu Friedrich, dem selbstsüchtigen, anspruchsvollen, nichts
weniger als gutmüthigen Manne bewiesen. Ein starker Geist
wohnte in diesem schwächlichen Körper, stark vor Allem im
Stillhalten, im Dulden und Entsagen. Es ist rührend zu sehen,
wie sie nicht bloss die geistigen Literessen, sondern, was schwerer
ist, die Sorge ihres Freundes von ganzem Herzen theilt und
seine Launen erträgt. Es ist ihr Stolz, ganz für den geliebten
Mann zu leben, ihn zu entschuldigen und Alles zum Besten
zu kehren. Als „Auslegerin und Ergänzerin« stellt sie sich
zwischen Friedrich und Schleiermacher, immer bemüht, die
drohenden Missverständnisse und Verstimmungen zu beseitigen.
Erleichtert wird ihr die Rolle des Duldens durch die tiefste
*)R.Haym: „Die romantische Schule." (Berlin 1870.) S. 663 ff.
46 Dorothea Mendelssohn.
Bescheidenheit und ebenso durch die unverwüstliche Heiterkeit
ilires Gemüths. Von weichlicher Sentimentalität keine Spur.
Dire Briefe, die früheren zumal, zeigen neben echt weiblichem
Gefühl einen Schatz munterer Laune, der ihr nie versagt und
den sie in allerlei Schalkheit, in unschuldigen Neckereien, zu-
weilen auch in recht schnippischen Wendungen an den Mann
bringt. Es muss hart kommen, wie es denn in späterer Zeit
hart genug kam, wenn sie bitter und leidenschaftlich werden
soll; dann meint man wohl zu sehen, wie sie die Nase rümpft
und die Lippen auf wirft und es steht ihr das keineswegs gut;
aber der hässliche Zug ist auch rasch wieder verschv/unden,
die Regel ist, dass sie, um ihi-e eignen Worte zu brauchen,
„auch unter Thränen sich des Lachens nicht enthalten kann,
wo es nur irgend etwas Lachenswerthes giebt." Gewiss, sie
thut sich selbst Unrecht, wenn sie einmal alles Misslingen
Friediich's als ihr eigenes Verschulden auffasst, und dabei von
der Disharmonie spricht, die mit ihi' geboren worden und die
sie nie verlassen werde. Es war keine andere Disharmonie
in ihr, als die, welche ein Weib wohl zuweilen beunruhigen
mag, dass ihr Gefühl sich fortwährend mit einem männlich
klaren Verstände abzufinden gezwungen war. Sie war die
echte Tochter Moses Mendelssohn's. Ihre Offenheit und Wahr-
haftigkeit, ihr gesundes Urtheil, ihr praktischer Blick, zusammen
mit iliren sonstigen trefflichen Eigenschaften, machte sie Männern
wie Fichte und Schleiermacher werth. Es ist gar merkwürdig,
wie ihr strebender Geist sie mit der Gedankenwelt und den
Einbildungen der Romantiker verwickelte und wie sie zwischen-
durch doch für die unromantische Wirklichkeit, bis auf das
Oekonomische herab, einen unbestochenen Sinn sich bewahrte.
Gelegentlich kömmt eine Ahnung über sie, dass all' die ästhetisch-
litterarischen Wichtigkeiten, die sie als Verehrerin Friedrich's
eben auch wichtig nehmen muss, im Grunde blosse Nichtig-
keiten seien. Sie möchte so gern in Friedrich einen Künstler
sehen, aber recht lieb würde er ihr erst sein, wenn er sich als
tüchtiger Bürger in einem echten Staate hervorthäte; das
ganze Wesen und Wollen ihrer revolutionären Freunde scheint
ihi- zum Litterarischen, zur Kritik und „alle dem Zeuge" wie
Ihr Roman „riorentin". 47
ein Eiese in ein Kinderbettclien zu passen, nnd ginge es nach
ihr, so machten sie es wie Götz von Berlichingen, der die
Feder nur ansetzte, um von der Arbeit des Schwertes auszu-
ruhen. Sie sagt das dem Freunde Schleiermacher ganz dreist
und offen, und wenn man andere Stellen ihrer Briefe liest, so
stellt man sich leicht vor, wie oft sie mit herzlichem Lachen
die überfeinen Eeflexionen Schleiermacher's unterbrochen, oder
Friedi'ich's transcendentale Ironie über den Haufen geworfen
haben wird, und wie sie dann ganz gewiss in beiden Fällen
gegen die beiden wunderlichen Männer Recht hatte."
GeschriftsteUert musste nun einmal im Schlegel'schen Kreise
werden, und so machte sich denn Dorothee neben anderen Arbeiten
auch an einen Roman, „Florentin". Haym sagt über denselben:
„Nicht etwa, dass sie ein Seitenstück zur Lucinde zu liefern
Willens gewesen wäre! Jeder Gedanke, sich mit dem „gött-
lichen Friedrich" auf eine Linie stellen zu wollen, würde ihr
ohne Zweifel wie ein Majestätsverbrechen vorgekommen sein.
Der Verfasser der Lucinde war in ihren Augen ein Künstler;
ihr war es genug, wenn es ihr gelang, ihm Ruhe zu schaffen
und in Demuth als Handwerkerin Brod zu verdienen, bis er
selbst es könne. Es war ein kindischer Triumph für sie, dass
sie die Erste gewesen, die zur Zufriedenheit des Meisters Wil-
helm einige Stanzen zu Stande gebracht, die sie ihrem Florentin
in den Mund legte. Mit klopfendem Herzen und erröthenden
Angesichts schickte sie die Aushängebogen des Romans, als
endlich ein erster Band im Herbst 1800 fertig geworden, an
Schleiermacher, und aUes Lob der Freunde konnte ihre beschei-
dene Meinung nicht ändern. Sie fuhr fort, sich ihrer blauen
Strümpfe ganz ernstlich zu schämen und über die vielen rothen
Striche zu lächeln, die ihr Manuscript sich hatte gefallen lassen
müssen, weil „immer der Teufel an den Stellen regierte, wo
der Dativ oder Akkusativ regieren sollte." Das Liebste und
Beste an dem Buch war in ihren Augen doch der Name Fried-
rich's, der sich auf dem Titel als Herausgeber genannt hatte,
und die beiden an sie gerichteten, auf sie bezüglichen Sonette
desselben. — Sie hätte sich immerhin ein wenig mehr auf den
humoristischen Taugenichts einbilden dürfen, denn Roman gegen
48 Dorothea Mendelssohn.
Roman gehalten, ist der Florentin in seiner bescheidenen Un-
selbständigkeit ein hundertmal besserer Eoman, als die Lucinde
mit ihrer anmasslichen Originalität."
Während Dorothea so in litterarischer Thätigkeit leidliche
Befriedigung fand, wurde ihr diese in ihrem häuslichen Leben
sowohl durch Friedrich Schlegel's Launenhaftigkeit, als durch
das immer unfreundlicher werdende Verhältniss zwischen ihr
und Caroline, Wilhelm's Gattin, nicht in gleichem Masse zu
Theil, Zerwürfnisse, bei denen der Löwenantheil der Schuld
auf Letztere fällt. Der üble Einfluss dieser Frau ^vurde aber
bald dadurch aufgehoben, dass sie sich von ihrem Gatten
trennte, um den Philosophen Schelling zu heirathen, der zuvor
ihre Tochter erster Ehe, Auguste Böhmer, gewählt hatte, sich
aber, als diese starb, der Mutter zuwandte, und — abermals
ein Zeichen jener Zeit — keineswegs mit seinem Freunde
Wilhelm Schlegel deswegen zerfiel, sondern sie ungehindert
heimführte.
Friedrich Schlegel, dessen Arbeiten in Jena weniger
glücken wollten, als die seiner Freundin, riss sich endlich (im
Jahre 1802) aus den hemmenden Kreisen los und reiste mit
Dorothea und deren Sohn Philipp Veit nach Paris, wo Doro-
thea zum christlichen Glauben übertrat, und die Liebenden den
Bund der Ehe schlössen. Hier widmete sich Schlegel mit Er-
folg seinen indischen Studien, gab (1803) eine Zeitschrift
„Europa" heraus, eröffnete ein Kollegium und sammelte einen
Ki-eis um sich, von dem es in „Schmidt's Necrologen" heisst:
„Friedrich von Schlegel lud seine deutschen Bekannten und
Freunde Sonntag Abends zum Thee; öfters las er dann aus
Shakespeare, oder ein Stück von Tieck vor, wo sich beim
Zerbino u. a. 0. Gelegenheit fand, die Masken zu nennen und
ergötzliche Kommentare zu machen. Er las ausserordentlich
schön; dieses Lob lehnte er ab, und äusserte, nur Tieck lese
ganz herrlich, zumal den Shakespeare; dies ist wahr, doch
wenn man richten sollte, müsste man eingestehn, Tieck Ist der
Erste in der Kunst, Schlegel in der Natürlichkeit des
Vortrages. Es ging sehr angenehm in diesem Kreise zu.
Dorotheas vorsorglicher, liebender Sinn wusste überhaupt die
Häusliches Leben. 49
Häusliclikeit ihres stillen, wohlgeordneten Lebens fretindlicli
zu gestalten. Alles war traulich, heimlich, angemessen und
wohlthuend um sie her. Musterhaft und angestrengt übte sie
weiblichen Fleiss. Unbegreiflich ist's, wie sie noch Zeit zum
Schreiben fand; allein sie, deren flinke, geschickte Hand Klei-
der und Wäsche nähte, Strümpfe strickte und ausbesserte, und
sich am häuslichen Heerde bemühte, war auch die Kopistin
aller Schriften ihres Gemals und schuf fortwährend Schönes
und Treffliches. Sie arbeitete damals an dem (nicht erschie-
nenen) zweiten Theile des Florentin, schrieb für die „Europa"
gediegene Aufsätze (diese sind mit D. unterzeichnet), über-
setzte den Merlin in gedrängtem, trefflichem Auszuge, führte
eine ziemlich starke Korrespondenz und fand noch Zeit, die
merkwürdigsten Gegenstände der Kunst zu betrachten, bis-
weilen Konzerte and Schauspiele zu besuchen, alles Neue zu lesen,
die Abende durch Geselligkeit zu erheitern, durch Vorlesungen
zu beseelen. Hinreissend schön las sie vor, doch stets nur
im engsten Kreise und wenn Friedrich in seinem Zimmer ar-
beitete. Vor Wenigen nur bekannte sie sich als die Verfas-
serinn des Florentin und ihrer anderen Dichtungen und Schrif-
ten. Sie war stolz darauf, dass ihre Sachen unter Schlegel's
Namen erschienen, und äusserte überhaupt, dass Berühmtheit
den Frauen nicht wohlthue, und dass sie jedes Glück und
jeden Glanz nur von der Liebe erwarten und annehmen müss-
ten. Sie war bald das Herz, bald die Hand, bald der Geist
ihres Mannes, und nur sie selbst, um alles dieses recht schön
und genügend zu sein. Sie stand in dieser Art ganz einzeln
auf ihrer Höhe liebender Hingebung und Werkthätigkeit, und
immer war sie stark, freudig und heiter, ihrer selbst mächtig,
und für Andere vollhaltig da. dre Schwester Henriette, die
Rahel in ihren Briefen „das Feinste und Tiefste nennt, was
sie gekannt," hatte einen stilleren Zauber, einen gehalteneren
Ernst, war wenig expansiv, und bedachtvoller auf alle Aeusser-
lichkeiten, indess es innerlich vielleicht nichts Glühenderes und
Reichhaltigeres, noch Zarteres gab, als sie."
Die Pariser Zeit war der Glanzpunkt in Dorotheens Leben,
aus dessen fernerem Verlauf nur noch anzuführen ist, dass
Die Familie Mendessohu. L 4
50 Dorothea Mendessolin.
sie sammt ihrem Gatten und Solin Philipp auf der Rücki'eise
von Paris in Kölln zur katholischen Religion übertrat. Später
(1818 — 19) lebte sie bei ihren Söhnen, die sich der Malerei
widmeten, in Rom, und verkehrte dort viel in dem Humboldtschen
Kreise. Den Rest ihres vielbewegten Lebens brachte sie in
Frankfurt a.M. zu, woselbst Friedrich Schlegel östreichischer
Legationsrath bei der Bundestagsgesandtschaft geworden war
und bis zu seinem Tode 1829 blieb. Sie starb im Jahr 1839.
Moses Mendelssohn's zweite Tochter, Recha, wurde an den
Mecklenburgischen Hofagenten Meyer verheirathet. Auch diese
Ehe war keine glückliche und wurde nach einiger Zeit auf-
gelöst. Recha gründete dann eine Pensionsanstalt für junge
Mädchen in Altona und lebte später in Berlin in naher
Beziehung zu ihrem Bruder Abraham. Sie war eine geistvolle,
kluge, leider aber sehr kränkliche Frau.
Die dritte Tochter, Heniiette, blieb unverheirathet, lebte
in den ersten Jahi'en dieses Jahrhunderts in Wien, ging, wahr-
scheinlich durch ihren Bruder Abraham veranlasst, nach Paris,
und leitete hier ebenfalls eine Pensionsanstalt in dem grossen
Garten des Fouldschen Hauses.
Varnhagen v. Ense schildert ihr dortiges Leben im Jahre
1810*) folgendermassen: „Nach dem vielfachen Tagesgewirr,
und wenn weder Frascati noch eines der Theater besucht
wurden, oft auch schon vom frühen Nachmittag an, gewährte
mir ein Garten in der Rue Richer den traulichsten , be-
ruhigendsten Aufenthalt. Dort wohnte in einem Gartenhause
Henriette Mendelssohn, die sinnvolle, feingebildete Schwester
der Frau v. Schlegel, und leitete eine Pensionsanstalt kleiner
Mädchen. Sie selbst war unanselmlich , etwas verwachsen,
aber dennoch eine Erscheinung, von der man sich angezogen
fühlte, so sanft und doch so sicher, so bescheiden und doch
zuverlässig war ihr ganzes Wesen. Sie hatte scharfen Ver-
stand, ausgebreitete Kenntnisse, helles ürtheil und dabei die
feinste Weltsitte, den erlesensten Takt. Mit der Litteratur
*) Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens von K. A. Varnhagen
V. Ense. 3. verm. Aufl.
Varnhageu bei Henriette Mendelssohn. 61
^er Deutschen, der Franzosen und Engländer, zum Theil auch
der Italiäner, war sie wohlvertraut und sprach das Französische
und Englische wie eine Eingeborene. Bei solchen Eigenschaften
konnte ilir ein edler Gesellschaftskreis nicht fehlen, den sie
jedoch um ihres Pflichtberufes willen möglichst einzuschränken
suchte. Als Frau v. Stael noch in Paris sein durfte, kam sie
öfter zu Fräulein Mendelssohn, ebenso Benjamin Constant;
Frau von Constant sah ich zuerst bei ihr. Mad. Fould, welche
das Vorderhaus des Gartens bewohnte , fühi'te bisweilen ihre
Gäste der angenehmen Freundin zu; Spontini sass hier ganze
Abende mit uns im Mondschein und sann auf neue Lorbeeren,
die er den durch die Vestalin jüngst gewonnenen Mnzufügen
könnte, wenigstens schien er sehr zerstreut und nahm an den
Gesprächen wenig Theil. Frau von Pobeheim brachte den
Dänen Heiberg mit, der durch Talleyrand im auswärtigen
Ministerium angestellt worden war, aber Müsse genug behielt,
um vorzugsweise der Litteratur zu leben. Auch Frau von
€hezy und Frau von Quandt, beide aus Berlin, sah ich hier
zum ersten Mal. Humboldt stand, wenn auch jetzt etwas
entfernt, in bestem Andenken ; Koreff und der Baron Drieberg
erschienen seit einiger Zeit selten ; desto häufiger der Ritter
von Eskeles, der früher in Wien um die Hand der liebens-
würdigen Erzieherin geworben hatte und noch jetzt ihr mit
Neigung zugewandt war.
Hier fanden oft merkwürdige Unterhaltungen statt; die
deutschen und französischen Ansichten, welche meist keine
Vermittelung zuzulassen schienen, empfingen sie unerwartet
durch die glückliche üebersetzung , welche Fräulein Mendels-
sohn ihnen zu geben wusste, und wobei gerade die Worte am
wenigsten übersetzt werden durften. Hier wurde der Inhalt des
noch unter der Presse befindlichen Buches der Frau von Stael
über Deutschland im Voraus erörtert, und ich erliielt darauf im
tiefsten Vertrauen die Aushängebogen desselben ausgeliefert,
die ich wohl mit Spannung, aber auch mit Missbehagen und
zum Theil mit Unwillen las, indem ich einseitig und ungerecht
nicht erwägen wollte, was und wie das Buch in Frankreich
wii'ken müsse, sondern nur wiefern es für uns das Deutsche
4*
52 Henriette Mendelsohn.
wiedergäbe. Bisweilen traten auch, wenn der Boden sicher
war, die politischen Meinungen ohne Scheu hervor, und da
war es merkwürdig, welche Kenntniss der geheimsten Ver-
hältnisse und Thatsachen hier von stillen Privatpersonen oft
überraschend dargelegt wurde, eine Kenntniss, nach welcher
ich die Diplomaten nicht selten mit äusserster Anstrengung
und doch vergebens jagen sah. Die näheren Ursachen der
Entlassung Fouche's, die Eänke des nachher so berüchtigten
Ouvrard und was sonst damit zusammenhing, alles wurde hier
in grösster Genauigkeit mitgetheilt.
Lieber als die gesellschaftlichen Abende waren mir die^
einsamen, wo ich Fräulein Mendelssohn ganz in ihrer Häus-
lichkeit traf, und in deutscher Sprache nur deutsche Gegen-
stände besprochen wurden. Die Fenster ihres Salons waren
von aussen mit Weinlaub dicht überkleidet, welches zugleich
der Sonnengluth wehrte und die Abendkühle milderte; hin-
ter solchem Vorhange sassen wir auf dem niedrigen Fenster-
brett bisweilen stundenlang, und riefen die theuren Bilder des
Vaterlandes hervor, die gemeinsamen Freunde und Bekannten,
deren sich immer mehr fanden, die uns liebsten Erscheinungen
der Poesie und Kunst, und oft auch wurden die höchsten An-
liegen der Menschen der Stoff unserer Betrachtung.
Fräulein Mendelssohn huldigte durchaus der Vernunft
und wies alle anderen Quellen der Erkenntniss entschieden zu-
rück. Ihre Liebe zu Frau von Schlegel war getrübt, seit
diese mit ihrem Manne katholisch geworden war; sie hatte
Eechenschaft über diesen ihr ganz unbegreiflichen Schritt von
der Schwester gefordert und nicht erhalten, sondern nur die
eifrige Mahnung, sich ebenfalls der römischen Kirche in die
Arme zu werfen, eine Zumuthung, welche nur mit Unmuth
verlacht und ein für allemal verbeten worden. Ich musste
genau erzählen, was ich von den Neubekehi'ten wusste, wie
ich mir die Sache vorgegangen dächte, welche Erklärungen
sich dafür annehmen Hessen, denn dass ein Geist wie Friedrich
von Schlegel sich blindlings dem Glauben der römischen Kirche
ergeben könne, schien so wenig möglich, als ihm bloss irdische
Triebfedern Schuld zu geben."
Wird katholisch. 53
In diesem anmuthigen Heim lernte der General Sebastian!
Henriette Mendelssohn kennen nnd vertraute ihr die Erzie-
hung seiner Tochter Fanny an. Hier traf sie Vamhagen 1814
wieder und berichtet darüber:*)
„Henriette Mendelssohn glaubte ich mit ihrem Zögling, der
Tochter des Generals Sebastiani, in der Normandie, ich fand
sie aber unvermuthet, als ich gerade zu Metternich gehen wollte,
der im Sebastianischen Hotel wohnte. Mit ihr war durch den
Eintritt in dieses Haus eine grosse Veränderung vorgegangen,
sie war katholisch geworden, nicht eigentlich schon im Besitz
eines festen Glaubens, aber voll Hoffnung ihn zu erlangen, und
so traten die äusseren Ereignisse, wie gross sie auch sein mochten,
ihr sehr zurück gegen die inneren, mit denen sie täglich zu
kämpfen hatte. Ich konnte ihr von keinem Tröste sein, im
Gegentheil mehrte ich nur ihre Unruhe, denn sie sah mich
grade so reich, als sie geworden war, ohne dass ich in dieser
Eichtung reicher zu werden begehrte, was allerdings ihr Fall
war, und wenn ihr dies zu werden gelang, so sah sie voraus,
dass sie mich würde verwerfen müssen, was sie nur eben jetzt
noch nicht durfte, da sie eingestandener Weise das mir Fehlende
auch erst zu erringen hoifte. Eine wunderliche Verwirrung,
in der aber doch mehr Unbequemes als Unterhaltendes war,
und die unsem Umgang etwas ermatten liess." —
Möge nun diese Schilderung des Seelenzustandes der Neu-
bekehrten etwas gefärbt sein, oder nicht, soviel steht fest, dass
Henriette den Frieden, den sie in der neuen Religion suchte,
auch fand, und dass sie als überzeugungstreue Katholikin lebte
und starb, ohne von den unangenehmen Eigenschaften, die so
manchen Konvertiten oft anhaften, das mindeste angenommen
zu haben. Ueber ihre Erlebnisse im Sebastianischen Hause,
in dem sie bis zu Fanny Sebastiani's Verheirathung im Jahre
1824 blieb, geben ihre vielen, an die Mendelssohn'sche Familie
gerichteten Briefe Auskunft.
„Glänzendes Elend" kann man das Leben nennen, welches
sie führte. Fanny Sebastiani war eine reiche Erbin, scheint
*) a. a. 0. Th. IV. S. 137.
64 Henriette Mendelssohn.
aucli ein gut geartetes, williges, aber im Grunde wenig bean-
lagtes Kind gewesen zu sein; doch mit welcher Aufopferung
widmete sich Henriette dem undankbaren Geschäft, diesem
magern französischen Boden duixh deutschen Fleiss einiger-
massen lohnende Früchte abzugewinnen. Der Anfang freilich
lautet ganz erfreulich in einem Brief an ihre Schwägerin Lea :
„Herr R. wird Euch gesagt liaben, dass er mich in einem der
prächtigsten Hotels von Paris besucht hat und aus einer der
schönsten Equipagen hat steigen sehn. Dies und noch weit
melir ist Alles sehr wahr und ich versichere Euch, liebe
Schwestern, es ist garnicht dumm, so die Dame zu spielen,
nur fällt mir auf eine sehr unbequeme Weise immer ein ge-
wisses Lied meiner Grossmutter ein: „Wenn's immer so wäre!"
— Unterdess geniesse ich dankbar, bis es anders wird. Das
Beste, was ich jetzt besitze, das ganz wunderbare, unendlich
liebliche Kind, und das unumschränkte Zutrauen ihres Vaters^
dessen er mich unausgesetzt noch in seinen Briefen versichert^
kann mir nur der Tod rauben, und vor dem müssen wir uns
freilich beugen. — Erinnern Sie sich der Champs Elysees und
der schönen Hotels im Faubourg St. Honore, die ihi-e Gärten
nach diesen Champs Elysees haben? Nun, ein solches bewohne
ich, und zwar Wand an Wand mit dem Kaiser, der im Elysee
wohnt. Du, lieber Abraham,*) wirst Dich selbst des Hauses
erinnern, es hat vor Zeiten der Marquis de Gallo darin ge-
wohnt. Es ist aber revu et corrige^ der General hat es aufs
Prächtigste und zugleich Geschmackvollste meubliren lassen
und eine schöne Gemäldesammlung angeschafft. In diesem
Hotel nun bewohne ich im 2. Stock eine Suite von 4 Zimmern,
die aUe die Aussicht nach den Champs Elysees und unendlichen
daranstossenden Gärten haben. In allen diesen Zimmern ist
beständig Kaminfeuer, sehr komfortable Fussteppiche und alles,
was man zur Gemüthlichkeit wünschen kann. Zu meiner und
des Kindes Bedienung haben wir eine Köcliin, die ich aus
meinem Hause mitgebracht, zwei Kammerfrauen und einen
Bedienten. Wagen und Pferde auf des Generals ausdrücklichen
*) Der zweite Sohn Moses Mendelssohn's.
Erzieherin bei General Sebastiani. 65
Befehl bloss zu meiner Disposition. — Ich habe meine eigene
Wii-thschaft (vtIq Mama das Wort Haushaltung immer nennt)
und der Intendant bezahlt, was ich dafür ausgebe. Aus dem
Benehmen selbst dieses Intendanten sehe ich, wie der General
mich behandelt wissen will. Was ich nur wünsche oder nöthig
glaube, ist wie hergezaubert da. Kurz, ich wiederhole Euch,
es ist nicht möglich, ehrenvoller und schmeichelhafter behandelt
zu werden, als mir hier widerfährt. Und ich bin ganz Deiner
Meinung, lieber Joseph, dass diese Behandlung und die Meinung
des Vaters trotz aUem übrigen Guten doch das Beste ist. Auch
die Mutter überhäuft mich mit Protestationen — kurz, es geht
ganz gut, und wenn mir der AUmächtige das Kind erhält,
und mir gewährt, es trotz der leichtsinnigen Umgebung gut,
fromm und einfach zu erziehen, so wiU ich meine Bestimmung
segnen! — Gut ist es, dass ich mich von jeher zur Einsamkeit
gewöhnte, denn freilich verlebe ich die Abende ganz allein,
und von dem, was man gewöhnlich Vergnügen nennt, kann
die Eede nicht sein, da ich sie nicht verlasse und sie auch
nicht zu solchen Dingen gewöhnen will. Aber diese Zurück-
gezogenheit kommt bloss den andern Leuten sehr traurig vor,
mich erschi-eckt sie nicht, ich weiss nicht, was ich dieses
Kindes wegen nicht thäte, so unaussprechlich lieblich ist sie!
Dein Bild, lieber Abraham, hängt an meinem Bette, und da
habe ich ihr einen Morgen erzählt, dass Du auch eine Fanny
habest, nun fragt sie mich jedesmal beim Aufwachen, wie sich
Deine Fanny befindet, und sendet Deinem Bild Grüsse zu. —
Ich habe nie em schöneres, von Geist und Gemüth ausge-
zeichneteres Geschöpf gesehen, als dieses! Freilich kann ich
mir auch das Zeugniss geben, dass W^enige dies Kind so ver-
stehen wie ich, obgleich sie von Allen auf Händen getragen
wird, aber bloss unter memen ist sie in den wenigen Tagen
— aufgeblüht möchte ich sagen. Gott erhalte sie mir!"
Jedoch einige Jahre später schreibt sie der Schwägerin:
„Fanny liebt Sie und die Ihrigen zärtlichst und denkt in Liebe
der Kinder. Sie wird täglich schöner, besser und bedeutender,
wenn auch nicht unterrichteter; was hilft das aber? Ich sehe
die sog^annte grosse. Welt mit ihren verderblichen Forderungen
56 Henriette Mendelssohn.
und Versprecliungen wie eine gewaltige Schneelawine näher
kommen und alles mühsam Erreichte und Gepflanzte in einem
Moment zerstören." —
In dem Kampf mit allen möglichen derartigen Einflüssen,
verging Henriettes Leben, und schliesslich hatte sie doch mit
jenen Worten einen leider nur zu prophetischen Ausspruch
gethan: sie bewahrheiteten sich auf das Schrecklichste.
In einem andern Brief heisst es: ^Fanny hat auf ihre Weise
an Fanny Mendelssohn geschrieben; es ist nicht viel an dem
Briefe, üeberhaupt ist die einzige Virtuosität dieses Mädchens
das eigentliche Sein. Ihr Gemüth, ihre Manier sind liebens-
würdig; aber sie ist ganz ohne Talent und Neigung zum
Lernen. Sie bedürfte Ihres Unterrichts, liebe Lea, ich bin zu
ungeduldig und regellos.'' — Es wurde immer stiller um
die Beiden. „Ich weiss nicht, was Sie aus meinem Leben inter-
essiren könnte, ich habe den Winter über sehr einsam und
eingezogener als je gelebt, ich bin nicht zweimal in sechs
Monaten in Gesellschaft und noch weniger im Theater ge-
wesen, und nun lebe ich hier (in Viry, einem Dörfchen nahe
bei Paris) mit Fanny unter Blumen, Blüthen, Bäumen und
Wasserfällen ein sehr einsames, aber doch vergnügliches Le-
ben, von dem sich nur nicht viel sagen lässt, denn es bleibt
doch wahr, bloss Menschen sind den Menschen wichtig , in der
sinnlichen Natur ist alles Uebrige blosse Zugabe. ** —
Eine Unterbrechung in dies einförmige Leben und das
fast ausschliessliche Zusammensein mit einem unentwickelten,
trägen Kinde — denn dass sie das war, wird doch allmälig
auch dem liebenden Gemüth ihrer Erzieherin klar — brachte
1819 die Anwesenheit ihres geliebtesten Bruders Abraham in
Paris, die sie in vollen Zügen genoss, und namentlich eiue
Eeise, die dieser mit ihr nach Havre machte: „Ich habe meiner
eigenen Lust und Ihres Gemahls ausgezeichnetem Eeisetalent
nicht widerstehen können, und so ist aus einer Fahrt von 4
Stunden, die ich ihm vorgeschlagen, während Fanny S. auf
14 Tage mit ihrem Vater zu Leuten gegangen, wo ich meine
Gegenwart nicht nöthig hielt, eine Eeise von 8 oder 10 Tagen
geworden, die mir, da ich seit ebensoviel Jahren nicht weiter
Besuch ihres Bruders Abraham. 57
als etwa 4 lieues von Paris mich entfernt, als das grösste
Unternelimen vorkommt, das seit Columbus selig gemacht
worden ist! Wir sind nun wirklich in Havre, haben das Meer,
und Ebb' und Fluth, und grosse und kleine Schiffe von Innen
und Aussen gesehen, und bewundert, und wo uns nur irgend
etwas gefiel oder üi Erstaunen setzte, war es Abrahams und
mein stiller Wunsch, es Ihnen und den Kindern zeigen zu
können. Aber seien Sie ruhig, liebste Lea, mir ist dieser Wunsch
nicht über die Lippen, wenn auch oft üi die Seele gekommen, ich
begreife Ihre Liebe zur ungestörten Ruhe, und kann es nur be-
dauern, dass Ihnen darüber so mancher Genuss entgeht, und be-
sonders, dass Sie Abrahams Reise-Liebenswürdigkeit so brach
liegen lassen, es ist nicht möglich, artiger, gütiger, geduldiger,
und gleicherer Laune zu seiii, ich setze nämlich voraus, dass er
Ihre Briefe pünktlich erhält, denn entfernt von Urnen scheint
es, dass ihm diese Briefe ein Lebens- und Liebesbedürfniss
sind. Bei unserer Ankunft gestern hat er einen vorgefunden,
und nun bleibt er nui- deshalb noch den morgenden Tag hier,
um sicher zu sein, Ihren nächsten Brief nicht zu verfehlen,
denn es geht übermorgen zurück nach Paris, wo ich denn in
Viry an Allem was ich jetzt sehe, mich noch lange erfreuen
will. Haben Sie schon ein grosses Schiff gesehen? Ja, ich
erinnere mich, dass Sie in Hamburg waren, also können Sie
mich verstehn, im Fall Sie auch nicht meiner Meinung sind,
wenn ich Ihnen sage, dass ich bei aller Bewunderung, die ich
dem menschlichen Geist nicht versagen kann, wenn ich sehe
wie er dieses furchtbare Element betrügt, bekämpft und re-
giert, doch eigentlich wenig dabei fühle; das kletuste Gedicht
von Göthe rülirt mich mehr, und macht mich stolzer auf die
Menschheit. — Das wirklich Erhabene ist das Meer und seine
Wogen, dieser Ernst und diese Kraft, wenn die WeUen sich
am Ufer mit Getöse brechen, sind erschütternd, und ziehen
mich mehr an, als das schmutzige und störende Gewimmel und
Getümmel auf den Schiffen. Es neigt sich mein Gemüth immer
mehr und mehr zur Stille, — es will Abend werden." —
Vom Jahr 1820 ab war es nicht mehr so einsam im
Haus, aber leider verlor Henriette eher bei der Veränderung,
5S Henriette Mendelssohn.
als dass sie grewajin. „Ich sitze hier mit dem lang^weilig-sten
stupidesten Menschen von allen, die auf diese Weise das Leben
diuvhziehn, ganz allein an einem langen Winterabend; wie
ich aber nach einem so verlebten Abend, wo nicht einmal
Fanny zu Haus ist, Geist und Leben zu einem Brief an Sie,
liebste Lea, hernehmen soll, das weiss ich selbst noch
nicht: ich ^viU auch gai'nicht überlegen fa7d pü pour vousf
Sie werden mich denn doch leicht los, es ist nur ein Brief, und
man kann ihn bei Seite schieben, er geht doch nicht den ganzen
Abend im Zimmer auf und ab, speit nicht, schnarcht nicht
beim Athemholen wie mein Xebenmensch, mein täglicher
Gesellschafter seit 2 Monaten und vielleicht auf 5 Jahre, denn
es ist ein Deputii'ter! — Sie sehn, ich leide für die gute
Sache! — Wenn es aber unter den 3 konstituirten Gewalten,
aus denen die repräsentative Monarchie besteht, viele solcher
Käuze giebt, so ists warlich schlimm, und ich für mein Theil
zöge dann die Türkei oder jeden andern Despotismus vor."
Und in einem andern Brief heisst es: „Hir in Eurer paradie-
sischen Künstlerwelt lebt so vergnüglich, während die innere
und äussere Politik hier mit der bekannten fi-anzösischen Leb-
haftigkeit, und mit dem grössten Lärm als das einzig wichtige
behandelt wii-d. Freilich, wenn ich hier sage, so gilt das
bloss dem Cii'kel, oder bestimmter zu reden dem Hause, dem
Zimmer, in dem ich lebe. Wir hören von nichts anderem, als
sogenannter Politik, und sehn bloss eine gewisse Anzahl De-
putirter, recht eigentliche Repräsentanten der Langeweile. Es
wird viel hin und her gesprochen, wobei ich mich nicht ent-
halten kann Fanny zu bedauern, dass ihr Knospenalter unter
diesen Gesprächen vergeht, und für mich selbst die Achseln
zu zucken, wenn alles doch darauf hinausläuft, dass die Her-
ren im Spiegel der Zeiten immer nur ihr eigenes Bild sehn.
Und diese sind noch die Besseren, denn der Eigennutz ist
noch ein schlechteres Motiv als die Eitelkeit." — Dai-an schliesst
sich ein allerliebstes weibernes Glaubensbekenntniss : „Ich sehe
ans Ihien ernsthaften Ermahnungen und Auseinandersetzungen,
dass Sie meine Neckereien, die eigentlich Mendelssohn allein
betrafen, missverstanden, und. mich wenigstens tur eine Jako-
Sommeraufentbalt bei Paris. 69
binerin haltend, die jedem Fürsten und Grafen den Hals um-
drehen möchte, sich mit den besten Gründen gegen meinen
Liberalismus vertheidigen. Wie sehr bedaure ich, dass ich
Ihren Brief nicht allen denen hier verständlich machen kann,
die meinen vermeintlichen Hang zu den Ultra's tadeln. Eigent-
lich sind aber beide Beschuldigungen gewissermassen begründet,
denn ich mache es wie Praxiteles mit seiner Venus, ich nehme
von jeder Parthei was mir gefällt, und bilde mir daraus so
eins Politik fürs Haus, zum eigenen Gebrauch; zu dieser ge-
hört es aber auf keine Weise, persönlichen Werth in höheren
Ständen nicht gelten zu lassen. Gute, gebildete, geistreiche Men-
schen sind selten, aber gewiss haben bis jetzt die höheren
Klassen, schon durch ihre Sicherheit im Leben einen Schritt
vor uns anderen voraus; freilich geschieht es auch wohl, dass
sie eben auf diesem Punkt stehen bleiben, und gamicht umher
sehn, wer an ihnen vorübereilt, sondern sich noch immer die
Ersten dünken." —
Nach diesen langweiligen Wintern war es denn freilich
eine Erholung, wenn sie in den Sommern wieder aufs Land,
in die Einsamkeit gingen, und Henriette geniesst es mit echt
deutschem Sinn: „Ich bin," schreibt sie 1821, „seit 3 Wochen
mit Fanny auf dem Lande, zwar in der völligsten Abgeschie-
denheit, aber auch im ungestörtesten Genuss des poetischesten
Frühlings, den wir noch erlebt! Alles, was man in spanischen
Eomanzen von Blumen, Vogelgesang, blinkendem Thau und
funkelnden Sternen liest, das haben und gemessen wir in ganzer
Fülle! — Wir bewohnen ein kleines freundliches Landhaus
von duftenden Gewächsen und schattigen Bäumen umgeben,
es liegt nah genug an der Seine, dass wir bald die reizenden
Ufer zu unserm Spaziergang wählen, bald auf dem Fluss selbst
den Sonnenuntergang erwarten. Eechnen Sie nun dazu, Liebe,
dass ich in diesem Augenblick vielen sehr unangenehmen
Familienscenen in Paris entgehe, dass Fanny sich in dieser
Einsamkeit nicht missfällt, und Sie werden es gerne glauben,
dass ich kaum einen andern Wunsch noch habe, als mit Urnen
und Euch aUen, die Ihr mir so Heb seid, mein Vergnügen
theilen zu können. Ich breche keine Blume, ohne an meoi
60 Henriette Mendelssohn.
Beckchen*) zu denken, das Klavier erinnert micli an den
herrlichen Genuss, den die Kinder verschaffen würden, nnd
der Mangel an vernünftiger, geistreicher Unterhaltung lässt
mich die Eltern doppelt vermissen. — Fanny hat eine gute
Stimme, aber Gott weiss, sie singt im Schweisse meines An-
gesichts, denn sie ist von Grund aus unmusikalisch, und zu-
gleich so träge und ungeduldig, dass es einem recht guten
italienischen Singlehrer, den ich ihr gegeben, nicht gelingen
würde, etwas aus ihr zu bilden, wenn ich nicht durch ewig
wiederholtes Bemühen nachhülfe." —
War jene Havrereise mit ihrem Bruder eine wirkliche
Erfrischung gewesen, so kann man dies weniger sagen von
einer im Jahre 1823 mit General Sebastiani und Fanny unter-
nommenen nach der Provence:
„Freunde und Badegäste bedauerten uns, eben in der
heissesten Jahreszeit eine Reise nach dem brennenden Süden
zu unternehmen, und diejenigen, welche das Land und meine
Neigung für schattige Spaziergänge, stille Ruheplätze, und
reine, milde Luft kannten, machten mich ganz bange durch
Beschreibungen, die jenen Thümm eischen sehr unähnlich waren;
desto ähnlicher waren sie aber der Provence, die ich nun,
freilich zur ungünstigsten Zeit gesehen. Noch hat mir von den
Ländern, die ich kennen gelernt, keines so missfallen als diese
Provence mit ihren traurigen Olivenwäldern, entlaubten Maul-
beerbäumen, die einem die nackten Zweige entgegenstrecken,
seinen kahlen Felsen, und dem verdorrten Boden, auf welchen
die Granathecken wie zur Strafe hingebannt scheinen. Während
Sie nun auf diesem staubigen Boden fortrollen und das un-
erfrischte Auge vor der brennenden Sonne verschliessen, wird
Ihr Ohr unaufhörlich durch das betäubende Geschrei riesenhafter
Heuschi^ecken beleidigt, die auf beiden Seiten der Heerstrasse
ihr Wesen treiben, und mich, als wäre es eine vermehrte
Auflage der pharaonischen Plage recht eigentlich zur Ver-
zweiflung brachten. So ging es bis zum Pont du Gard vor
Nimes. Hier meine Liebe bin ich geneigt, den St. Preux zu
*) Eebeeka, die zweite Tochter Abraham Mendelssohn's.
Keise in die Provence. 61
parodiren, sein Anruf an den Schöpfer ^^javaü une äme pour
la doideury donne% m'en une pour la felicite'''' kommt mir in den
Sinn. Ich habe wohl Ausdrücke finden können, Ihnen mein
MissfaUen an dem französischen Afrika zn schildern, aher es
ist mir ganz unmöglich, Urnen von diesem der Ewigkeit
trotzenden Monumente und der von der Natur so reich ausge-
statteten Wildniss in welcher es die Römer hingezaubert etwas
anders zu sagen als — es ist unbeschreiblich, und von einem
Eindruck, der sich mit nichts vergleichen lässt. Dieses Monu-
ment allein ist die Reise schon werth, obgleich auch das
Amphitheater in Nimes sowie die übrigen dort befindlichen
Alterthümer die Seele mit staunender Bewunderung für jenes
Riesenvolk erfüllen — aber freilich — tritt man heraus, aus
jenen ernsten erhabenen Steinmassen, so wird man peinlich
gestört, sowohl durch den Anblick der schlechten dürftigen
Wohnungen des jetzigen Geschlechts, als durch die wilden
brutalen Züge des Volks selbst, unter welchem die, in unsem
verhängnissvoUen Zeiten so berüchtigten Mörder ganz ruhig,
obschon bekannt, leben, und die jedem Hasse, jeder politischen
Meinung, die ihnen Gold bietet, zu Gebote stehn. — Wie ganz
anders ist es beim Pont de Gard! Da rauscht der Bergstrom
noch wie vor 2000 Jahren, da ranken Feigen- und Granatbäume
am Felsen hinan, und schlingen sich zwischen den Arkaden
und Säulen hindurch wie die unermüdliche Natur es ihnen nach
2000 Jahren noch gebieten wird.
Aber, Liebe, zu meinem Schrecken werde ich gewahr, dass
auch ich noch 2000 Jahr dauern müsste, um diesen Brief zu
endigen, da ich auf der fünften Seite erst in Nimes bin! Seien
Sie aber unbesorgt, ich wiQ Ihnen nur geschwind noch zwei
Erfahrungen mittheüen, die ich von dieser Reise mitgebracht,
dass nemUch das Klima, in welchem wir geboren, möge man
es auch noch so früh mit einem andern vertauschen, unsere
Sinnesart modifictrt und unbesiegbare Rechte auf uns erhält,
zweitens, dass die ächte, wahre, rein moralische, religiöse und
philosophische Büdung, die aUein doch nur den Namen der
Civüisation verdient, bloss im Norden zu Haus ist — und nun
führe ich Sie schnell über Marseille, wo ^^'il' 8 Tage verweüten,
62 Henriette Mendelssohn.
und Avignon, wo wir die Fontaine de Vaucluse — nicht ge-
sehen, nach Paris zurück, wo wir nun leider! den Eest des
Sommers ausharren müssen." —
Nun aber nahte eine wii'klich tragische Epoche für die
Arme: Fanny Sebastian!, eine sehr reiche Erbin, kam in das
heii-athsfähige Alter, und ilire treue Erzieherin, die Jahre und
Jahi-e mit liebender Sorgfalt Mutterstelle an ihr vertreten,
sollte erkennen, dass es schliesslich doch nur eine Rolle ge-
wesen, die sie dort hatte spielen müssen. Jene Worte: „Ich
sehe die grosse Welt mit iliren verderblichen Forderungen und
Versprechungen wie eine gewaltige Schneelawine näher kommen,
und Alles mühsam erreichte und gepflanzte in einem Moment
zerstören" — sie fingen an, walir zu werden; ihre letzte, schreck-
liche und buchstäbliche Erfüllung hat sie glücklicher Weise
nicht melir erlebt.
Am 11. Mai 1824 schreibt sie an ihren Bruder Abraham:
„Erinnerst Du Dich wohl lieber Bruder des Tages bei Deinem
letzten Aufenthalte in Paris — wo Du mir Dein Manneswort
gabst, dass, sobald ich die Aufforderung an Dich ergehen lassen
würde, Du mir mit Rath und That beistehen, ja selbst kommen
wüi'dest, wenn es Noth thäte? Ich fordere Dich noch nicht
auf. Dein Wort zu erfüllen, obgleich eine sehr grosse Verän-
derung meiner Lage mir sehr nahe war, aber meine Freude,
Euch alle hier zu sehn, wäre um so reiner und grösser. —
Was ich mit allem diesen sagen will, ist folgendes: Unter
zehn Freiern, die sich seit der Rückkunft des Generals aus
Corsica (vor etwa zwei Monaten) um Fanny's Hand bewarben,
war es nahe, sehr nahe daran, dass der Vater den glänzendsten
und — schlechtesten gewählt hätte. Wie aber hier in grossen
Familien eine solche Unterhandlung betrieben ^vird, vor dieser
Erfahrung hat Euch Gott behütet. Es war eine sehr schlimme
Zeit, bei der mir die Gegenwart unsres Bruders*) ein wahrer
Trost war! Von dieser Heirath ist nun die Rede nicht mehr,
aber in wenigen Monaten soll hoffentlich eine andere zu Stande
kommen, von welcher für meine arme Fanny so viel Gutes
*) Joseph.
"Verlobung von Fanny Sebastian!. 63
zn erwarten ist, — als es die gefährliclie Lage einer reichen
Erbin erlaubt. Wie sebr mich alles dies, nebst den erregenden
Bestandtheilen von Intriguen, Klatschereien, Eitelkeit, Leicht-
sinn und dergleichen erschüttert, beschäftigt und betrübt hatte,
werden Sie*) bei aller Mutterliebe doch nur halb begreifen,
denn bei Ihnen und Mendelssohn fehlen ja eben diese schlechten
Elemente! Fanny selbst hat sich recht brav und einfach gut
gezeigt. Wir gehen nun in wenigen Tagen aufs Land, —
wo sie ihre gewohnte Lebensweise hoffentlich ruhig fortsetzen
soll, bis ihre Stunde schlägt. Was ich dann vorzunehmen ge-
denke, darüber bin ich selbst noch ungewiss, wahrscheinlich
werde ich noch einige Monate nach der Verheirathung im Hause
— wenigstens wohnen, — und dann mit Gottes Hülfe wieder
in Eurer Nähe leben."
Am 10. Juni 1824 heisst es dann weiter: „Um Euch zu
erklären, wie es mir möglich gewesen, Fanny's nun entschie-
dene, und ziemlich nahe Verbindung mit dem Sohne des Herzogs
von Praslin nicht schon früher angekündigt zu haben, dazu
möchte ich das Wundertalent unseres Felix besitzen, um Euch
in leidenschaftlichem Gesang den Constrasto d'affetti zu schildern,
der mir seit diesen letzten drei Monaten das Herz zerreisst —
mit Worten würde ich es vergeblich versuchen! Vor einigen
Monaten, als man im Begriff war, eine traurige Wahl zu treffen,
war ich um Fanny in der höchsten Besorgniss, und grämte
mich tief über das traurige Loos, das ihr bevorstand. Nun
aber mit Gottes Hülfe eine andere Verbindung zu Stande ge-
kommen ist, von der sich, auch wenn die schönen Hochzeit-
kleider vertragen sein werden, manches Gute erwarten lässt,
und Fanny so überselig ist, bin ich selbst meine Qual, — und
die Frage von sogenannten theilnehmenden Freunden: „W^as
denken Sie zu thun?" — ist mir ein schneidendes Schwerdt.
Dass die Treue und Liebe, die ich dem Kinde und dem Mädchen
in dieser Reihe von Jahren bewiesen, eigentlich nur eine Rolle
war, dass der Vorhang nun fällt und Fanny morgen in einem
neuen Stück erscheint, in welchem keine Rolle für mich ist,
*) Hier wird Abraham's Frau, Lea angeredet.
64 Heuriette Mendelssohn.
das hätte ich mir allerdings immer sagen sollen, — vielleicht
habe ich mir es auch zuweilen gesagt, — aher wie ganz anders
di'ingt die Wirklichkeit ein! — danken Sie Gott, liebe Schwester,
dass Sie dies nie empfinden werden, dass die Versorgung Ihrer
Fanny eine für Sie neue, ungetrübte Freude sein wird.
Fanny's Bräutigam ist der Sohn des Herzogs von Choiseul-
Praslin — ein junger Mensch von 19 Jahren, der noch vor
etwa drei Monaten auf keine Weise an irgend eine Heirath
dachte, sondern sich zur ^cole polytechnique vorbereitete, wo er
eben eintreten sollte. Die Furcht vor der Heirath mit dem
Sohn des Herzogs von Fitz-James, ein verdorbener, ausschwei-
fender, junger Mensch, und die Schwierigkeiten, die sich den
Wünschen anderer Bewerber entgegenstellten, brachten einige
Freunde des Hauses, die zugleich den Herzog kannten, darauf,
diesem den Vorschlag zu thun, Fanny für seinen Sohn zu
fordern. Er war es sogleich zufrieden, — der junge Mensch,
der Fanny wohl schon gesehen hatte, auch — und so kam
denn die Verbindung zu Stande. Im September wird die Heirath
vollzogen, und an demselben Tage reisen die jungen Eheleute
auf ein Gut ihrer Aeltern, das Sie, liebe Schwester, sehr gut
aus den Briefen der Sevigne kennen. Es ist dasselbe Schloss,
das der Surintendant Fouquet mit so ungeheurem Aufwände
bauen liess, und wo er selbst bei einem Fest, das er Ludwig XIV.
gab, verhaftet wurde. Durch die Genealogie der Frauen ist
dies ungeheure, halbverwüstete, mir sehr widrige Schloss jetzt
in der Familie Praslin. Noch sind die Zimmerverzierungen
dieselben, man sieht überall an den Wänden Eichhörnchen
(Fouquets Wappen) gemalt, die von zischenden Schlangen ver-
folgt werden. Diese waren bekanntlich in Colberts Wappen.
Die Bettvorhänge des Herzogs von PrasLLn sind dieselben, unter
denen Ludwig XIV. schlief, wenn er eine Nacht in Vaux zu-
brachte. — Aber trotz aUen diesen Alterthümlichkeiten ist das
Schloss verwüstet, und erfordert jährlich mehr als 20,000 Francs,
um nur nicht ganz zu verfallen. Ich kenne nichts unfreund-
licheres, als ein so grosses Gebäude im altfranzösischen Styl,
mit seinen Terrassen, Vorhöfen, Gittern und Brücken, wenn
es nicht durch zahlreiche Bewohner und Dienerschaft belebt
(^^^t^ "^^'^- c^- ^'^-Z^-
/Vk/^>--^^Ä^
Der Bräutigam Herzog v. Praslin. 65
wird, und dies ist eben nicht der Fall hier. Fanny's neue
Tamilie ist für mehr als haushälterisch, nachlässig und schmutzig
ekannt. TJebrigens aber sehr würdige Personen, die ihre Kinder
lach den besten Grundsätzen, und was mir höher gilt, durch
e '.s beste Beispiel erziehn, da sie sehr einig leben. Dies sind
dtnn auch allerdings die Gründe, welche die Verbindung wör-
scbenswerth machen. Denn der junge Mensch ist weder reich,
noch eben angenehm oder geistreich, aber da es nun einmal,
um die Aeltem zu befriedigen, ein altadliger Herzog und Pair
des Reichs, oder doch wenigstens der älteste Sohn eines solchen
sein musste, so war die Wahl beschränkt. Von allem, was ich
übrigens anders wünschen könnte, sieht Fanny nichts ; sie war
ganz bereit, ii'gend einen andern, den man für sie gewählt
haben wüi'de, zu heirathen, nun ist sie aber auf das wünschens-
wertheste in ihren Bräutigam verliebt. Sie bringt den ganzen
Tag mit ihm bei ihrer Grossmutter zu, die an den Folgen einer
Brandwunde das Bett hütet, und findet sich sehr glücklich.
Unterdess erfülle ich meine letzte Pflicht, und besorge ihre
Aussteuer. Wie oft habe ich dabei an Sie gedacht, Liebe ! —
Wie viel schöne Stücke Leinewand Sie wohl schon genäht und
ungenäht für Fanny bereit halten. Hier hat man bloss die
Mühe der Wahl oder der Bestellungen — aber welche Ver-
sehwendung auch! — man ersparte die Hälfte, die man den
Lingeren opfert ; durch diesen Gedanken wird mir das Geschäft
eigentlich sehi* unangenehm. Zudem ist es eine Verantwort-
lichkeit, denn so hoch auch das Budget ist — es sind 20,000
Francs dazu bestimmt — wissen einen die mädchenhaften
V^ünsche und die Künste der Lingeren immer darüber hinaus
zu treiben. —
Gott, wieviel habe ich Euch über einen und denselben
Gegenstand vorgeschwatzt, — ich könnte noch Bogenlang
schreiben, und Hir misstet doch nicht, wie traurig ich biu." —
Ueberden 19jähi'igenEhemann schreibt sie noch: „Uebrigens
hat man dem jungen Mann alle Lehrer gegeben, die er früher
hätte haben sollen, und er studirt auf einmal und zu gleicher
Zeit: Geschichte — Griechisch — Latein — Deutsch — und
die Rechte! — Konunt Dir dies nicht sonderbar vor? Und
Die Familie Menäelssoka. L ö
66 Henriette Mendelssohn.
doch hat der General Recht, das Versäumte soviel als möglich
nachzuholen. Ich meine aber, wenn Du etwa solche Kenntnisse
in Deinem künftigen Schwiegersohne suchtest, würdest Du
wünschen, dass er sie zur Mitgabe brächte."
Das Ende war dieses Anfangs würdig: das alte wüste
Schloss, die an Brandwunden damiederUegende Grossmutter,
— es ist ein trüber Prolog, und er bekommt eine noch trübere
Färbung, wenn man weiss, was ilim folgte: der Herzog von
Praslin ermordete seine Frau, die arme Fanny, im Jahr 1847
und entzog sich der Verurtheilung zum Tode durch Selbstmord.
Der Prozess machte seiner Zeit ungeheures Aufsehn und trug
nicht wenig dazu bei, die Regierung Louis Philipp's des letzten
Restes von Popularität zu berauben, da der Herzog Persona grata
bei Hof gewesen war, und man die Regierung beschuldigte,
dem Selbstmord Vorschub geleistet zu haben.
Bis jetzt sind diejenigen Stellen aus den Briefen Henriettens
ins Auge gefasst worden, welche ihre persönlichen Verhältnisse be-
handeln. Aber auch in anderen Beziehungen vmnmeln die Briefe
von interessanten Einzelheiten; ihr reger Geist zeigt sich in an-
schaulichen Schilderungen von Personen und Ereignissen. Leider
war es damals sehr gefährlich, sich brieflich offen auszusprechen,
namentlich für eine in Paris lebende Deutsche, und ganz be-
sonders für die Erzieherin der Tochter eines napoleonischen
Generals. So findet sich denn aus der Zeit bis 1815 fast kein
einziges auf die Weltereignisse bezügliches Wort; aber als
die Kanonen der Verbündeten vom Montmartre niederdonnerten,
da fühlte Henriette, dass die Fesseln im Begriff waren, zu
fallen, und sie giebt ihrer Schwägerin die folgende anschau-
liche Schilderung des Zustandes in Paris während der Schlacht:
„Der Kanonendonner hat die schwarzen, schweren Gewitter-
wolken getheilt, und ich will den hellen Augenblick benutzen,
ehe sie sich wieder sammeln. — Ich habe am 10. Juli Ihren
Brief vom 26. April erhalten, aus einem andern Jahrhundert
also, denn die Welt und alle Begebenheiten kreisen jetzt in
so unglaublicher Schnelle, dass zwei Monate wohl dafür gelten
können, — Europa ist also wieder in Frankreich! die Sache
ist kurz und gut abgethan worden, bleibt aber ein Frcankreich
Eroberime: von Paris 1815. 67
'O
in Europa, so möchte dieser g-lorreiche Feldzug wohl keine
andere dauernde Folgen haben, als das unsäglichste Elend;
indessen dies ist die Sache des sich neu anknüpfenden Kon-
gresses. Uebrigens scheint es, dass meine deutschen Bekannten
mich mit in den Bann gethan, ich sehe Niemand von den
vielen hier Versammelten, dafür habe ich aber die Annehmlich-
keit, alle Klagen über vos Prussiens anhören zu müssen, die
sich denn auch wirklich als Eächer bezeigen, sie rauben, sen-
gen, brennen und morden, als hätten sie's aus irgend einer
Legende des Mittelalters gelernt, was aber am Meisten hier
verdriesst, scheint der Mangel an Höüichkeit zu sein. Ich
habe schon verschiedene Male sagen hören: „Les soldats des
auires nations pren7tent, 7nais poliment^ ce n'est pas comme ces
Prussiens!'^ — Unterdessen habe ich mir das Vergnügen ge-
macht, mich m.it Soldaten von einem Eegiment brauner Husaren,
das vor unserm Garten während acht Tagen kampirte, zu
unterhalten, und mich des gesunden graden Sinnes, und der
EechtUchkeit, die ich bei manchen von ihnen gefunden, gefreut.
Ich habe ihnen Vorwürfe gemacht, dass sie es den Franzosen
so in ihren Räubereien nachahmen, während die englischen
Truppen sich so gesittet und edel bezeigen, da antwortete mir
einer, der das eiserne Kreuz hatte: „Wir sind nun einmal
gehasst in Frankreich, es ist alles eins." — Wundern kann
es Dich, lieber Abraham, so wenig als mich, wenn ich Dir
erzähle, wie in der Gegend von Paris gehaust wird, aber be-
trüben wird es Dich doch, wie diese schöne Sünderin so
traurig endet. St. Denis, Montmorency, St. Cloud, Sevres,
Sceaux, Malmaison sind auf Jahre hinaus verheert, und Paris
ist zum zweiten Mal, wie durch ein Wunder verschont ge-
blieben, wähi-end man sich so ganz in der Nähe mit der
grössten Erbitterung schlug. Welche angstvolle Tage ich ver-
lebt habe, kannst Du Dir leider denken, da Ilir ähnliche kennt,
aber dennoch hatten die letzten Zeiten einen fürchterlicheren
Charakter, als alle, die Ihr in Deutsclüand erlebt, denn Ihr
wart einig, und hier war der Ausbruch des schrecklichsten
Bürgerkrieges täglich zu erwarten, während die fremden
Armeen vor den Thoren waren, die sich nur öffneten, um die
5*
68 Henriette Mendels söhn
grosse Zahl der Verwundeten einzulassen, die stündlich die
andringende Gefahi' hekannt machten. Viele Nächte liindurch
zog der Pöbel der Vorstädte unter dem Namen der Federes
mit wüthendem GehrüU dui'cli die Strassen, und ohne die wahr-
haft heroische Anstrengung und das edle Benehmen der
Garde nationale waren wir gewiss verloren. Wie nun aber
auch das Ungeheure in Paris eine leichtsinnige Gestalt an-
nimmt, geschah es, dass während jener Jammeitage Theater
und Spaziergänge, sowie alle öffentlichen Plätze mehr als je
besucht wui'den; geputzte Damen fuhi-en in Kaleschen dem
feindlichen Lager so nahe als möglich, und es fehlte nicht
viel, so hätte die Reihe der Stühle auf den Boulevards, auf
welchen Herren und Damen sich gemächlich streckten, sich
bis ins englische Lager bei Neuilly hingezogen. Sie hielten
diese stupide Sorglosigkeit für die beste Weise, ihi'em Könige
Anhänglichkeit zu beweisen. — üebrigens ist es mir selbst
widerfahren, obgleich der leichte Sinn mir eben nicht zu Theil
geworden, dass ich eines Abends mit der Kleinen ruhig in den
Tuilerien sass, und mit Mme. Brochay plauderte, während ganz
Paris in der fürchterlichsten Bewegung war, ich ward es aber
nur gewahr, als ich schon zu Haus gelangt war, und nun
einen schrecklichen Tumult und Flintenschüsse auf den Strassen
und in den Champs Elysees hörte. Tags darauf las ich in der
Zeitung, dass am vorigen Abend eine Verschwörung entdeckt
und vereitelt worden sei, deren Absicht war, Paris in die
Luft zu sprengen. Diesem Salto mortale wären wii* also
innerhalb 15 Monaten zum zweiten Mal entgangen!*) —
*) Zur Rechtfertigung der Preussen gegenüber den Engländern
— wenn überhaupt eine Verschiedenheit im Verhalten beider Ar-
meen stattgefunden — Hesse sich wohl anführen, dass die Eng-
länder nicht wie wir den Feind im Laude gehabt hatten: die Er-
bitterung eines Menschen, der sein Gut verwüstet, sein Vieh fort-
getrieben, seinen Hof niedergebrannt, seine Frau oder Tochter
gemisshandelt weiss, ist natürlich grösser, wenn er sich in der
Lage sieht, Wiedervergeltung üben zu können, als die eines andern,
der Alles dies nur vom Hörensagen kennt.
Marschall Davonst. 69
Auf dem Lande lebte Eenriette einige Jalire als nahe
Nachbarin von Davoust, und sie sclu*eibt über diesen folgender-
massen: „Als eine merkwürdige Thatsache muss ich Ihnen
doch erzählen, dass dieser fürchterliche Davoust, der Schrecken
des Nordens, der Urheber so unsäglicher Leiden, in seinem
Hause ganz ohne Willen ist. Er hat nicht den Muth, dem
geringsten Diener etwas zu befehlen, ohne die Einwilligung
seiner Marschallin, die das Hauskommando ebenso unerbittlich
streng übt, als er die eroberten Länder regierte." — Und in
«inem zweiten Brief: „Marschall Davoust, seine Frau, die
eigentlich das Hausregiment führt, und seine Kinder sind unsre
tägliche Gesellschaft. Als er das erstemal meinen Namen
hörte, frug er den General S., der eben mit uns war, ob ich
Verwandte in Hamburg habe, er hätte dort sehr ehrenvolle
und geehrte Personen dieses Namens gekannt. — Beinahe alle
seine Bediente sind Deutsche, seine Töchter lernen Deutsch
recht ernsthaft, und er bittet mich jedesmal inständig, ihm zu
sagen, ob sie etwas deutsch wüssten. Das politische Leben
dieses Mannes ist mir unerklärlich, wenn ich ihn im Hause
und unter seinen Kindern betrachte; er ist ein Vater, wie
Abraham nur sein kann, mischt sich in alle ihre Spiele mit
wahrer Herzlichkeit, und seine älteste Tochter, ein Mädchen
von 14 Jahren, die ihm ganz ähnlich sieht, ist das sanf-
teste Geschöpf, das ich kenne. Bloss auf eine Weise sind mir
die Gräuel, die unter seiner Herrschaft in Hamburg verübt
worden, erklärlich: Er scheint mir sehr einfältig, schwerfällig
und unwissend zu sein. In seinem Hause ist er ohne Einfluss,
und so war es gewiss während seines Kommandos; irgend ein
Elender hat an seiner Stelle gehandelt! Das ist aber freilich
den armen Bedrückten ganz einerlei, und er ist vielleicht noch
strafbarer, dass er so Ungeheures geschehen Hess." —
Henriette war, wie oben angeführt, zur katholischen
Religion übergetreten; bei Do.Tothea haben wir gesehen,
dass sie sogar zweimal die Religion w^echselte und auch
schliesslich zum Katholicismus gelangte. Die Strömimg der Zeit
begünstigte derartige Seelenzustände und Wandlungen. Auch
70 Henriette Mendelssohn.
die eine Scliwester Wilhelm Hensels*), die erst kürzHch ver-
storbene als Dichterin geistlicher Lieder bekannt gewordene
Luise Hensel war, obgleich Tochter eines protestantischen Pre-
digers, katholisch geworden. Ebenso, mn nur bei dem Kreis
der näher mit der Mendelssohn'schen Familie Verbundenen zu
bleiben, Marianne Saaling, die später noch erwälint wer-
den wird.
Henriette nahm es. wie gewöhnlich Pi'oselyten, mit der neu
angenommenen Religion sehr ernst.
Von der schönen gegenseitigen Toleranz, mit der solche
Sachen in der Familie behandelt wurden, zeugt ihr Testament,
dessen Eingang also lautet:
„Da ich in diesen Worten zum letzten Mal mit meinen lieben
Verwandten rede, sage ich ihnen hiermit Dank, sowohl für
alle Hülfe und Freundschaft, die sie mir im Leben bewiesen,
als auch dafür, dass sie mich auf keine W^eise in der Ausübung
meiner Eeligion gehindert, und keine Gehässigkeiten gegen
dieselbe an den Tag gelegt haben, so dass ich es mii* selbst
zuschreiben muss, wenn Gott der Herr mich nicht der Gnade
gewürdigt hat, meine Geschwister zur katholischen, wirklich
seligmachenden Kirche hinüberzuziehen. Möge der Herr Jesus
Christus mein Gebet erhören, und sie alle mit dem Lichte sei-
ner Gnade erleuchten! Amen!" — Nun folgen die Dispositionen
über ihr kleines Vermögen und viele Andenken, und der Schluss
heisst: „Ich ersuche meine Brüder, oder diejenigen Verwandten,
welche dies Testament eröffnen werden, mir die Todtenfeier
der katholischen Kirche zu gewäliren, übrigens aber mich in
aller Frühe so still als möglich, und ganz einfach bestatten
zu lassen. Die Namen Maria Henriette Mendelssohn möchte
ich auf dem Leichenstein, und auf dem Kreuze, das ich an
dem Grabe zu setzen bitte, die Worte: Redemisti me, Dens,
Dens veritatis!" Der Herr stehe mir bei in meiner letzten
Stunde, und gebe allen meinen geliebten Verwandten seinen
Segen, im Leben wie im Tode." —
") Siehe Pag. 111.
Heiiriettens Testament und Tod. 71
Heni'iette ging nach der Verheirathimg von Fanny Se-
bastian! nach Berlin zurück und lehte in innigem Verkehr mit
der Familie ihres Bruders, Abraham Mendelssohn Bartholdy,
der sie zusammen mit seinem ältesten Sohne Felix von Paris
abholte. Sie starb am 9. November 1831, wie ihre Nichte,
Fanny Hensel, in ihrem Tagebuche schreibt, „mit einer
Fassung, einem so klaren Bewusstsein und solcher Sorge für
Andre bis zum letzten Augenblick, dass sie ihrem schönen
Leben die Krone aufgesetzt hat."
Abraham Mendelssohn Bartholdy.
Abraham Mendelssohn*), dem zweiten Sohne von Moses,
war es vorbehalten, dem Namen wieder einen neuen xmd
^össeren Glanz zu verleihen, und zwar in seinem Sohn
Felix. Daher das bescheiden-humoristische Wort, was er ge-
sprochen: „Früher war ich der Solin meines Vaters, jetzt
bin ich der Vater meines Sohnes." Dieser Ausspruch ist
charakteristisch für ihn: er bildet aUerdings ein Mittel- und
Verbindungsglied zwischen dem festen Judcnthum Moses' und
dem innigen Christenthum Felix' und Fanny's, zwischen der
philosophischen Weltanschauung des Vaters und der künst-
lerischen der Kinder; aber er war selbst eine harmonische, in
sich ausgebildete, markige Natur; es war nichts Epigonen-
haftes in ihm.
Ueber seine Jugend bis zum Anfang dieses Jahrhunderts
fehlt es an Nachrichten; im Jahr 1803 finden wir ihn im
Fould'schen Comptoir in Paris als Kassirer. Er wird hier
häufig mit seiner Schwester Henriette in ihrem traulichen
Gartenhaus in der Rue Eicher über seine Zukunft und seine
Lebenspläne gesprochen haben, und es ist höchst wahrschein-
lich, dass es Henriette war, die seine Gedanken auf Lea oder
Lilla Salomon**), ihre intime Freundin, lenkte. Diese lebte in
Berlin in angenehmen Verhältnissen und ausgebreiteter Ge-
selligkeit. G. Merkel, der genau mit der Salomon'schen Familie
*) geboren den 11. December 1776.
**) geboren den 26. März 1777.
Lea Salomon. 73
befreundet war und mit Lea in lebhaftem Briefwechsel stand,
hat nach ilirem Tode (1842) einige dieser Briefe der Familie
zurückgegeben, zugleich mit folgender Jugendschilderung der
Schreiberin:
„Lea Salomon. Das war ihr Jungfrauenname. Bartholdy
nannte sich ihr älterer Bruder nach dem ehemaligen oder viel-
leicht angeblichen Eigenthümer des Gartens, den die Familie
besass.*) Lea war nicht schön, aber reizend durch ihr sprechen-
des, schwarzes Auge, durch ihren Sylphidenwuchs, durch ihr
zartes, bescheidenes Benehmen und ihre geistvolle Unterhaltung
voll heller VerstandsbHtze und treffendem, aber immer schonend
geäussertem Witz. Sie hatte sich jede Gattung modischer
Bildung angeeignet; sie spielte und sang mit Ausdruck und
Anmuth, aber selten und nur für Freunde; sie zeichnete treif-
lich; sie sprach und las Französisch, Englisch, Italienisch und
— heimlich — Homer im Original. Heimlich! wie hätten
Andere mit diesem Können geprunkt ! — Dir Geschmack, durch
klassische Schriftsteller so vieler Sprachen gebildet, war richtig
und feinsinnig, aber es hielt schwer, ihr ein Urtheil zu ent-
locken. Der am meisten sagende Zug ihres Charakters war:
sie hatte durch das Vermächtniss eines Verwandten ein be-
deutendes Vermögen, aber ihr Putz war immer nur zierlich
und einfach ; ihrer Mutter aber, die viel weniger besass, zahlte
sie ein reichliches Kostgeld iiud führte zugleich mit sorgfältiger
Häuslichkeit die einfache Wirthschaft derselben. Die nach-
folgenden Briefe vollenden durch ihre schöne Einfachheit das
Bild, das nach fast vierzigjähriger Unterbrechung aller Be-
ziehungen zwischen ihr und mir vor meinem Geiste steht."
Berlin, 2. Juli 1799.
„ Nach einem 4wöchentlichen Krankenlager starb mein
guter Grossvater. Ich brauche Ihrem gefühlvollen Herzen nicht
weitläuftig zu erklären, weshalb ich Ihnen damals nicht zu
*) Derselbe lag in der Köpenicker-Strasse an der Spree, ging
später in den Besitz von Abraham Mendelssohn über und wird
noch öfter unter dem Namen der „Meierei'' erwähnt werden.
Anm. d. H.
74 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
antworten vermochte. Immerwährende Unruhe und Bangigkeit,
heftige Spannung und Gemüthsbewegung bei seinen letzten un-
glücklichen Lebenstagen; der schreckenvolle Eindruck, den die
langsam verlöschende Kraft und endlich das fürchterliche Bild
des Todes auf meine Seele machten, die innige Betrübniss Aller,
meine herzliche Theihialime bei den allgemeinen Klagen und die
Bekümmerniss um meine gute Mutter, die diesen harten Schlag am
tiefsten fühlte, brachten in mir eine Stimmung hervor, die nicht
zur Mittheilung geschickt war. Ich vmsste überdies, dass Sie die
holde Wehmuth nicht eben sonderlich lieben, ich bedachte, dass
nur meine genauesten und nachsichtsvoUsten Freunde mich in
einer trüben Laune ertragen könnten, Ihr lebhafter Ausruf vive
la joie! tönte mir deutlich und als unharmonisches Echo meiner
schwermütlngen Rühnmg entgegen, — und so ist's ganz be-
greiflich und natürlich, was Ihnen und mir sonst unerklärlich
und sonderbar scheinen würde.
Jetzt bewegt die Zeit nur noch sanft mein Gemüth mit
stillem, liebevollem Andenken. Die milde Jahreszeit, der Genuss
heiterer, freier Luft, ein herrliches Leben in dem reizendsten
Garten, gesellige Freuden, das wichtige Amt einer Haus-
hälterin, die ernste Würde der Honneurs unsers gemeinschaft-
lichen kleinen Zirkels, angenehme Beschäftigungen, der liebliche,
ungestörte Anblick der schönen Natur geben meinem Herzen
das reinste Vergnügen, die wohlthätigste Stimmung. Ich hoffe,
Sie führen noch Ihren Plan aus, uns im Herbste hier in meinem
kleinen Paradiese zu besuchen. Erwarten Sie nach diesem
vielversprechenden Ausdrucke aber keine Wunderdinge. Bran-
denburgs flaches Land, sein magerer Boden, sein gänzlicher
Mangel an Allem, was zu einer romantischen Anlage gehört,
sagen Ihnen, dass bloss die Kunst hier das Reiche, VoUe, Grosse
einer trefflichen Natur ersetzen muss. Doch war man einsichts-
voll genug, nicht kleinliche Nachahmung von englischen Parks,
Modegrotten, Lilliputfelsen und neuangelegten Ruinen (wie in
Ihrem beliebten Monbijou etwa) hier hervorbringen -zu wollen.
Denken Sie sich die dichtesten, kühlsten Schatten ehrwürdiger
Kastanienbäume, Liuden und Platanen; hohe, gewölbte Lauben-
gänge ; ü'eundüche runde Plätze und niedliche Lusthänser ; eine
Lea Salomon. 75
Fülle von Florens und Pomonens Scliätzen, wie von Küchen-
gewächsen und Treibhäusern, deren Anblick als Bild des Fleisses
und der Betriebsamkeit gewiss wohl interessant ist, und Sie
haben eine richtige Idee unsers Sonuneraufenthalts. Eechnea
Sie dazu ein kleines, bequemes, ländliches Wohnhaus, an dem
sich Weinstöcke, Maulbeeren und Pfirsichbäume hinaufranken,
und in dem ich ein nettes, aber höchst einfaches Zimmerchen
besitze: mein Klavier, Bücherschrank und Schreibpult die einzigen
Meubles, das Bild meiner Jette und frische Blumen der einzige
Schmuck darin, Raum und Einrichtung nicht für einen glän-
zenden Zirkel, sondern bloss für den engen Ki'eis weniger
Freunde — das Ganze still, freundlich und einsam.
Verzeihen Sie, wenn mein Geschwätz über diese unbedeu-
tenden leblosen Gegenstände so weitläufig geworden. Unendlich
viel theure Erinnerungen umgeben mich in diesem geliebten
Garten: Unter diesen Bäumen, die mein guter Grossvater pflanzte
und an denen er mit wahrer Liebe hing, habe ich die rosen-
farbenen Träume der Kindheit durchschwärmt; jeder Gang,
jedes Plätzchen ist mir duixh süsse Andenken der Vergangen-
heit heilig und merkwürdig; hier entwickelte sich mein Ge-
fühl, hier entfaltete sich zuerst der jugendliche Sinn und
klar ward mir in dieser lieblichen Einsamkeit, was leise
unbewQSst in der Seele schlummerte: mit erhöhterer Empfindung
las ich hier meine Dichter; Schriftsteller der Freiheit, des Rechts,
der edlen Wahrheit wurden mir begi-eifiicher, werther und näher;
selbst die schwachen Töne, die meine ungel\bten Finger hervor-
locken, wähne ich hier melodischer und reiner. So umgiebt
meine Einbildungskraft dies Alles mit höherem Glanz, und Sie
müssen schon dem närrischen Mädchen einige Schwärmereien
zu Gute halten. Sie selbst haben ja in Sans-souci lebhaft ge-
fühlt, dass dasjenige, was man in den betrachteten Gegenst^^nd
hineindenkt und durch eigene Empfindung verschönert, ge-
meiniglich mehr werth ist und höheren Genuss giebt, als was
man von dem kalten Anschauen ge^vinnen kann.
Ihrer beliebten Weise gemäss haben Sie Freund Itzig auch
diesmal nicht Wort gehalten. Ich habe ziemlich fleissig Briefe
von ihm, und er hat schon längst die Hoffnung aufgegeben, Sie
76 Abraham Mendelssohn Eartholdy.
in Wittenberg bei sich zu sehen. Er lebt, seinem schönen
Vorsatze getreu, einsam in anhaltendem Studium: Spazieren-
gehn, Dichten, das Lesen angenehmer Bücher und Unterhaltung
mit vielen in seinem Wirthshause ankommenden interes-
santen Fremden sind seine einzigen Erholungen. Ich freue
mich ungemein, durch sein selbstständiges consequentes Betragen
ihn so früh zum achtungswerthen Manne heranreifen zu sehn.
Eecht glücklich schätze ich mich in der That, so ächte, be-
ständige Freunde zu haben, und zu fühlen, dass manche früh ge-
schlossene Verbindung sich mit den Jahren immer fester und
unauflöslicher knüpft.
Sein Jugendfreund, mein ältester Bruder lebt noch immer
in Mainz ; das Treiben und Thun der Franzosen und die nähere
Beleuchtung ihrer dortigen Verfassung hat viel Anziehendes
für ihn: mitunter schv^eift er in den göttlichen Gegenden um-
her, nnd hat erst kürzlich in Gesellschaft des Professors Eiese-
wetter, den er unvermutheter Weise in Mainz antraf, eine sehi*
schöne Fahrt den Rhein hinab bis Bonn und Coblenz gemacht.
Letzterer ist vor einigen Tagen hier angekommen und gab uns
recht beruhigende Nachi'ichten über die Lebensweise und den
dortigen Umgang meines Bruders.
Vor wenigen Wochen habe ich einen Ihrer Landsleute
kennen gelernt, und gleich im ersten Gespräch die erfreuliche
Entdeckung gemacht, dass er einer Ihrer Schulfreunde gewesen.
Er heisst Pölchau, und ist schon wieder nach dem Ort seines
gewöhnlichen Aufenthalts, Eambui'g, zurückgekehrt. Ein sanfter,
liebenswürdiger Mensch ! Seine einnehmende Physiognomie hat
den Ausdruck einer Herzensgüte, die ihm AUer Zutrauen und
Wohlwollen erwarb. Man hatte mir gesagt, dass sein Anstrich
stiller Melancholie einer unglücklichen Leidenschaft zuzuschreiben
sei; nun können Sie sich vorstellen, wie diese Idee meine Phantasie
in Bewegung setzte, welch innigen Antheü sie ihm gewann, wie
ich ihn tausendmal interessanter fand, da ich um aus Ueber-
mass der Zärtlichkeit und Treue leidend glaubte! Er liebt
Musik über alles, und hat die schönste, angenehmste Stimme,
die ich seit langer Zeit gehört. Die Wahl seiner Lieblings-
lieder scheint mir ganz seinem Charakter zu entsprechen: die
Lea Salomon. 77
französische tändelnde Manier und das Verzierte, Bunte der
Italiener widerstrebt seiner einfachen Empfindung; aber mit
welcher seelenvollen Begeisterung, mit welchem unnachahmlichen
Ausdruck sang er eines Reinhardts und Zelters herzliche Me-
lodien zu Göthens himmlischen Versen, eines Grauns süsse, be-
zaubernde Komposition! Es war ein Genuss, einen so reinen,
ungeheuchelten Enthusiasmus für Gegenstände der ächten, höhern
Kunst, so lauter, wahr und kindlich gefühlt, bei ihm anzu-
treS'en.
Weil ich der hohem Kunst erwähne, will ich Sie doch
geschwind um Ihr Urtheil über Wallensteins Tod befragen.
Ich hoffe, er hat Sie ganz mit den Piccolomini versöhnt mit
denen Sie, dünkt mich, unzufrieden gewesen. Meiner geringen
Meinung zufolge ist's ein Meisterstük. Diese Gedankenfülle,
dieser Reiz des Ausdrucks, diese hohe Siniachheit und dichterische
Schönheit mit dem interessantesten Stoffe verwebt werden lange
unnachahmlich und unerreichbar bleiben. Doch wenn sie auch
AUes tadeln wollten, so w^eiss ich doch wenigstens, dass Ihr
kiitisches Auge der Thekla ^^Trd Gerechtigkeit widerfahi^en
lassen. Dieser erhabene, himmlische Charakter hat sich Ihnen
in der freundlichsten, Ihrem Herzen werthesten Gestalt gezeigt.
(Sie haben den Wallenstein doch in Weimar aufführen sehn?)
Diesem Engel des Lichts und der menschlichsten Grösse wider-
standen Sie nicht! — Ich freue mich erstaunlich, es auf dem
Theater zu sehn; ich las es mit grosser Aufmerksamkeit, und
bin auf die Wirkung begierig, die das täuschende Anschauen
der lebenden, göttlichen Wesen und der Zauber der wirklichen
Darstellung auf mich machen werden.
Um auf einen Im^er LiebUnge zu kommen! was sagt man
denn in Weimar, diesem Sitz der Musen, des Genies und der
Iü"itik, von den Brückmannschen Elegien? Ohne freundschaft-
liche Partheilichkeit kommen sie mir recht schön vor, besonders
die an Klopstock, die sich durch einen feui'igeren, kühneren
Schwung von dem klagenden sanften Ton der übrigen aus-
zeichnet. Sagen Sie mir doch Ihre Meinung; ich ahne zwar,
wie sie ausfallen wird, indessen wünschte ich doch so sehr vor
Einseitigkeit bewahrt zu sein, dass mir Ihr ürtheil voll
78 Abraham Mendelssohn Baitboldy.
Strenge, Witz und Scharfsinn neben meinem freundlichen Wohl-
wollen recht nützlich wäre.
Sehen Sie Kotzebue, und wie gefällt er Ihnen? Mir ist
er als guter Bekannter meiner Freundin Henriette wohl inter-
essant, und ich möchte gern etwas von dem Menschen wissen,
obgleich der Schriftsteller in ihm mir sehr gleichgültig ist.
Wie lebt denn überhaupt die ganze Heerde — Scbaar wollte
ich sagen — der Autoren in Weimar? Friedlich oder kriegerisch ?
denn das müssen Sie ehrlich eingestehen, dass Sie alle, Herren
Gelehi'ten ! ein gar unverträgliches, wunderliches Völkchen sind !
— Bitte meine Freimüthigkeit zu entschuldigen. — Welcher
Gegenstand beschäftigt denn Dire Feder jetzt? Tiefe Politik,
ernste Geschichte, tändelnde Liebe? Huldigen Sie der feier-
licheren Muse oder den lächelnden Grazien und Liebesgötterchen?
Und haben Sie den entsetzlichen Plan aufgegeben, über die
Juden zu schi'eiben? Sagen Sie mir nur, welch ein Gott oder
welche Göttin könnte bei diesem Sujet präsidiren? Meiner
kleinen Kenntniss der Mythologie und der Bewohner des Parnass,
Heükon und Pindus nach, giebts keinen einzigen. Sie glauben
wohl, alle Ihre bisherigen Werke ohne den Einfluss solcher
höheren Mächte verfertigt zu haben? doch trauen sie dem Wort
einer Uneingeweihten! Unsichtbar und unbemerkt hat Sie bis-
her der herrliche Gott der Begeisterung imischwebt, hüten Sie
sich, Ihren stillen Schutzgeist zu verscheuchen! —
Nun darf ich wirklich Hu'e Geduld nicht länger ermüden !
Also geschwind nur noch viel herzliche Giüsse von allen den
Meinigen (die Aristokraten ausgeschlossen, beruhigen Sie sich!)
und die demüthige vielleicht zu gewagte Bitte um grossmüthige.
baldige Antwort. Lea SaloBion.
Berlin, 26. August 1799.
— — Wie gut war es, dass mein Brief Sie in so schöner
Gesellschaft und an einem so reizenden Aufenthalte traf! Er
störte Sie nicht im Genuss des angenehmen Gesprächs und
der lieblichen Natur ; einige der wohlthätigen Eindrücke folgten
ihm nur, als Sie ihn später in der Einsamkeit lasen, und ver-
schafften ihm eine günstige Aufnalime. Warum kann ich diesem
Lea Salomon. 79
Blatte nicht ein gleiches Schicksal sichern? Hätte ich den
liebenswüi'digen Beschützern der Haine, Fluren und Quellen
zu gei)ieten, so müssten Sie trotz irgend einem Feenprinzen
oder Idyllenhirten von allen ersinnlichen Lustwäldchen, rieseln-
den Bächen und Blumengefilden umgeben sein, und wenn Sie
„im Grase nach Schmetterlingen haschen" ein leichter Zephyr
oder, für Sie noch besser, eine schöne Nymphe Ihnen mein
Brieflein überreichen! doch alsdann wäre gar zu viel Zer-
streuung zu fürchten, und so lassen wii-'s immer bei dem alten,
gewöhnlichen Alltagsgange.
Die einfache Beschreibung meines geliebten Gartens war
gewiss nicht gemacht, einen Vergleich mit Ihi-em Tibur aus-
zuhalten, imd ich habe Ihnen ja gesagt, warum seine ehr-
würdigen Laubengänge gerade meinem Herzen theuer und
meiner Erinnerung lieb sind. Auch mache ich mich darauf ge-
fasst, dass Sie ilrn recht unerträglich finden werden, imd sehe Sie
schon im voraus der antigenialischen Symme4irie spotten wo
„grove nods to grove, each alley has its brother".
Doch Sie sollen ihn mir nicht verleiden, so herzlich ich auch
über Ihre witzigen Anmerkungen zu lachen bereit bin, denn
eine recht w^alire, dankbare Empfindung und das Andenken
mancher Scene der Jugend machen mir ihn interessant. Ich
erkenne auch wohl, dass Ihnen, die Sie glücklichere Gegenden
gesehen, unsere langweilige Einförmigkeit nicht gefallen kann ;
doch zu diesem traurigen vaterländischen Boden habe ich einen
stillen Sinn der Genügsamkeit bekommen, der wohl etwas
Höheres ahnet, aber demohngeachtet mit ächter Freude an
den einfachen Gegenständen der mich umgebenden Natur hängt.
Auch hier glänzen Blumen, winken Bäume mit malerischen
Aesten, und lachende grüne Ufer spiegeln sich in klarer Flut;
ich träume mir mein Arkadien und bin in meiner beschränkten
Mttelmässigkeit sehr glückUch. Glauben Sie aber nicht, dass
ich gegen eine reichere, edlere Natur unempfindlich bin : schon
die Beschreibung eines milderen Himmelsstriches erfüllt mich
mit Entzücken, und das Ideal aller Wünsche ist mir eine
Reise in solche herrliche Gegenden. Wäre ich in Italien, der
Schweiz oder dem südlichen Frankreich geboren, so wette ich
80 Abraham Meudelssohn Bartholdy.
fast, ich müsste eine Dichterin geworden sein, und das in einer
etwas langweiligen, nämlich der beschreibenden Gattung: mich
dünkt wii'klich, der Frühling würde mich dort begeistert haben,
und die armen Echo's hätten auch meine Klagen oder Freuden-
gesänge wiederholen müssen.
Itzig hat seine Studien in Wittenberg geendet und ist
seit einigen Wochen hier. Was werden Sie aber sagen, wenn
ich Sie mit seinem Uebergang zur christlichen Eeligion be-
kannt mache? Luthers Geburtsort und die heilige Stätte
seiner Lehren hat auf ihn gewii'kt, er konnte der Begierde,
unter dem Bilde dieses grossen Mannes getauft und gleichsam
dadurch von ihm beschützt zu werden, nicht widerstehen, und
hat vermittelst dieses Schrittes zum Seelenheil dann nebenher
den weltlichen Vortheil erlangt, nächstens in seinem Fache
angestellt zu werden. Leider erhält er aber wahrscheinlich
eine Stelle in Polen und ich zweifle beinah, ob eine be-
schwerliche Amtsführung in diesem Lande ihm Beharrlichkeit
und Geduld genug lassen wii'd, dem erwählten Stande treu zu
bleiben. Wie sehr ich dies wünsche, kann ich Ihnen nicht
beschi-eibea: die meisten Abtrünnigen haben bisher durch
schlechtes, oder doch inconsequentes Betragen eine Art von
Verächtlichkeit auf diesen Schritt geworfen, der auch die
Besseren brandmarkt. Träte Jemand auf, der diu'ch untadel-
haften Charakter, durch Ausdauer in seinen Vorsätzen und
Weltklugheit im Benehmen (nach welcher die meisten Urtheüe
ja, traurig genug, gefällt werden) ein achtungswerthes Muster
darstellte, so wüi'de ein grosser Theil dieser nur zu gegrün-
deten Behauptung verschwinden. Erfreulich wär's, wenn man
dieser Heuchelei entbehren könnte; aber der Drang nach
höherem Wirken, als dem eines Kaufmanns, oder tausend zarte
Verhältnisse, in denen der nahe Umgang mit andern Eeligions-
verwandten junge Gemüther verwickeln kann, lassen doch in
der That keinen andern Ausweg. — Mich dünkt ich habe nie
Dire Meinung über diesen Schritt gehört, und sie ist mir sehr
interessant und wichtig; sprechen Sie mir darüber sowohl, als
über die Ai't, mit der Sie diese Materie in Ihrem Buche zu
behandeln denken.
'S1
;^#
Ä#
Lea Salomon. 81
Ueberhanpt wäre mir's viel lieber gewesen, statt Ihrer
acht französischen galanten Pointe eine redliche deutsche
Auskunft über Ihr zu schreibendes Buch zu erhalten. Sachen
sind mir mehr werth als Phrasen, und wenn es Ihnen denn
eüimal um Schmeichelei zu thun ist, so will ich Ihnen gut-
müthig mein Genre sagen ; Es ist die Sprache der mittheilenden
Herzlichkeit, der vertraulichen Güte, jener herablassenden
Belehrung, mit der eiu denkender Kopf geringfügige Sterbliche
mit seinen Plänen und Ideen bekannt zu machen würdigt, —
ce rCest pas le ton des aimdbles riensj des fleurettes spirituelles,
des tournures ingenieuses. Ich habe Urnen das so französisch
sagen müssen, weil ich's dem angemessener finde, und weil
mir immer parisisch zu Muthe wird, wenn ich an übertriebene
Komplimente denke.
Da ich einmal im Zanken bin, so will ich Ihnen geschwind
einen Vorwurf über Ihren geheimnissvollen Argwohn machen.
Ich bin eben recht begierig etwas Näheres über Kotzebue zu
lesen, — da ziehen Sie das angefangene Wort schnell zurück,
mit dem bösen Zusätze „halt, Sie haben mir metue Bitte wegen
der Nichtmittheilung meiner Briefe nicht beantwortet." — So
wissen Sie denn, mein gar ängstlicher Herr ! dass ich von vielen
Dingen nicht spreche, weil sie sich von selbst verstehen. Kluge
Leute errathen das Meiste; und wenn aUes trügt, so täuscht
doch wenigstens der Charakter der Frauenzimmer darin nicht,
dass ihnen der Schein der Indiscretion und Plaudersucht so
ganz obenauf sch-svimmt, und diese Gabe sich am wenigsten
verbirgt. Wie es Ihnen also entging, dass ich die Ver-
schwiegenheit selbst bin, begreife ich nicht, und beinah möchte
ich's für eine Ihrer Bosheiten halten, mich nur zu einem
Geständnisse zu zwingen, bei dem meine liebenswürdige, hold
erröthende Bescheidenheit so sehr ins Gedränge kommt. Glauben
Sie übrigens nicht, dass ich in Ihr Geheinmiss dringen wül:
ich habe nie um Ihr Verhältniss zu Kotzebue, sondern um
Ihr Urtheil über ihn gefragt, und dies ist bei meiner
Offenheit immer so freimüthig, dass ich ohne Unbescheidenheit
mir Ihre Meinung erbitten zu können glaubte.
Der arme Pölchau! Vom Vavez hien arrange! — doch
Die Familie Mendelssolia. L Ö
82 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
ist wirklich ein kleiner Irrthum mit seiner romantischen Liebe
vorgegangen und ich habe später erfahren, dass seine Schwer-
muth zum Theil von dem unglücklichen Ende seines Bruders
herrülu't. Dafür muss ich üin aber desto mehr lieben, denn
wenn die Kraft zu einer Leidenschaft interessant ist, so hat
die stille, sehnende Brudertreue gar etwas Eührendes und An-
ziehendes. Sie fragen nach der Beständigkeit des
Schmachtens eines Mannes. Das ist nun wunderlich
genug zu beantworten, zumal für mich, die so gar keine
Eoutine in Zärtlichkeitsangelegenheiten hat. Der heftige aber
veränderliche Charakter der Männer giebt auch wenig Gelegen-
heit, erbauliche und trostreiche Betrachtungen über diesen
Gegenstand anzustellen, und wenn es einen Werther und
einen Pölchau giebt, so laufen dafür hunderttausend Flatter-
hafte umher, die ihre Aufwallungen zu Leidenschaften
adeln, und von dem immer schwächeren Abglanz jenes heiligen,
ewig glühenden Feuers zuletzt nichts als den Namen eines
Gefühls übrig behalten, dessen wahre Bedeutung ihnen auf
immer ein Geheimniss bleibt.
Führen Sie mir doch kein Publikum zur Autorität gegen
den Wallenstein an, wenn ich bitten darf. Das Aechte der
höheren Kunst wird gewiss nur von wenigen feineren Seelen
gefühlt und verstanden, und wenn eine bürgerliche, tragi-
komische Familienzwistigkeit von Ifflands gar natürlich scliil-
dernder Feder mehi' für den Gesichtskreis der Menge ist, als
Schillers erhabene Heldengestalten, so beweist dies doch wohl nicht
Ifflands grösseres Genie ? Das kann bei Birem schönen Kunst-
sinn doch keine Schlussfolge sein? Freilich darf ich über den
theatralischen Effekt nicht sprechen, da ich Wallenstein nur
gelesen, doch scheint es dem Stücke an Lebendigkeit der
Handlung nicht zu fehlen, und wenn der Held gegen sein
Schicksal nichts vennag, so ist dies wohl auf seinen Aber-
glauben gegründet, der ihn seinen Untergang erst spät ahnen
lässt. Flecks treffliches, geistvolles Spiel wird Sie vielleicht
eher mit dem unglücklichen Helden aussöhnen, als alles, was
ich Ihnen für ihn sagen könnte, darum sehen Sie ihn erst hier,
und erholen Sie sich von Ihi-er Erstarrung bei der Thekla an
Lea Salomon. 83
■der lieblichen Mde. Fleck, die in dieser Rolle ganz zartes Gefühl
und weibliche, treue Liebe sein soll.
Welche Zeilen im Allwill Sie zweihundert Mal gelesen,
kann ich wirklich nicht errathen, und Sie wären recht gütig,
wenn Sie meinem Mangel an Scharfsinn zu Hülfe kämen. Ich
beneide Sie recht eigentlich um das Glück, Wielanden so nahe
zu sein. Als ich kürzlich seinen prächtigen Agathodämon las,
ist mir's von Neuem recht fühlbar geworden. Welch ein be-
neidenswerthes Vorrecht, nach einem so ruhmvollen Leben
diese Thätigkeit und Geistesstärke im Alter übrig zu behalten,
und sich auch in den spätesten Werken gleich trefflich zu
erhalten! Ich habe mich ungemein gefreut, als ich neulich
erfuhr, dass er mit dieser ewigblühenden Jugendlichkeit der
Phantasie auch die beseligende Wärme des Herzens und das
innige Gefühl für's Schöne noch vereinige. Er hat der liebens-
würdigen Sophie Brentano ein ebenso feines als seelenvolles
und lieblich ausgedrücktes Kompliment gemacht. — Sie müssen
diesen Engel aber nothwendig kennen, und würden mich durch
Nachrichten von ihr überaus glücklich machen. Ich habe sie
nie gesehen, und liebe sie doch bis zur Anbetung. Aus Be-
schreibungen ihrer und meiner Freundin Henriette und aus
Briefen kenne ich sie. Man pflegt das Talent des Briefschreibens
aUen Frauenzimmern beizulegen: aber wenn Leichtigkeit den
Meisten diesen Lobspruch zugezogen hat, so giebt's noch gar
viele Abstufungen und schönere Eigenthümlichkeiten, die Sophie
im höchsten Grade besitzt. Diese himmlische Zartheit der
Empfindung, dieser feingebildete Geist, dies liebevolle Hingeben
und die unnachahmliche Grazie des Ausdrucks habe ich noch
nie so vollkommen vereinigt gesehn: sie ist einzig und unüber-
trefflich. Ebenso hinreissend und bezaubernd soll sie im Ge-
spräch und Umgang sein; Seele, Witz, Gefühl, Liebenswürdig-
keit, Bildung und Reiz, nichts hat die gütige Natur bei dem
seltenen Geschöpf vergessen. Wie ich nach ihrem Anblick
sehnlichst verlange, wie mich das nähere Anschauen so vieler
göttlicher Eigenschaften entzücken würde, das kann ich nicht
beschreiben. Sollte sie noch in Weimar sein, so rufen sie mich
ihr ins Gedächtniss zurück und vermögen Sie sie hierherzu-
6*
84 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
kommen. Die Eeise ist ja so klein, und ihre Grossmutter
würde wenigstens einen Gegenstand ihres Interesses hier finden
— die Gräfin Genlis, von der sie unglaublich eingenommen
ist. Die Genlis wohnt nah an unserm Garten, wir sehen sie
täglich, und es gäbe schon einen hübschen Vereinigungspunkt !
Welchen Enthusiasmus für Sophie hat mir meine liebe Henriette
eingeflösst! Sie war vor Bewunderung, Freude und Eührung
ausser sich, wenn sie von ihr erzählte, und gewiss war diese
Liebe keine blinde, mädchenhafte Zuneigung, sondern die
klarste Ueberzeugung einer schönen Natur, eines herrlichen
Charakters und veredelten Verstandes. Sie müssen mir recht,
recht viel von ihr erzählen, ich bitte, ich beschwöre Sie darum.
Ich kann Ihnen das Interesse für sie nicht lebhaft genug
schildern, und wenn Sie sie kennen, theilen Sie gewiss meine
anbetungsvolle Schwärmerei.
Arland hat mir geschi'ieben, und viel Grüsse für Sie auf-
getragen. Er lebt jetzt in Freienwalde, gebraucht dort die
Bäder und scheint jetzt im Genuss der schönen Natur sich
recht sehr zu erholen. Sein Leben, so ganz voll Entbelirungen,
eine Kette von kindlichen Pflichten und immerv/ährei^den
Opfern ist wahrlich ehrwüi^dig und musterhaft. Eine Auf-
wallung von Stärke und Grossmuth flammt wohl einmal in
jeder Brust : aber Ausdauer, fortgesetzte Anstrengung, die der
Enthusiasmus erzeugt und feste Beharrlichkeit ausführt, ist
selten und gross. Ach wie gerne gäbe ich ihm jetzt die Mittel,
ein schöneres Leben nach eigenem Sinn zu begiunen!" —
Dieses Mädchen scheint Abraham Mendelssohn auf einer
Reise von Paris in Berlin kennen und lieben gelernt zu
haben. Er stellte zuerst die Bedingung, dass sie mit ihm
in Paris leben soUte, da er Berlin nicht leiden konnte, während
die Mutter des Mädchens ihre Tochter nicht einem „Commis"
geben wollte. Henriette schreibt darüber an ihi-en Bruder:
^Wie gern ich Deine Hoffnung eines glücklichen Erfolgs theilen
möchte, sage ich Dir nicht, aber gestehen muss ich Dir, dass
es mir fast unmöglich scheint, dass es Dir unter Deiner Be-
dingung gelinge. Und doch Lieber! wäre diese Heirath ein so
Yerheiratlmng. 85
seltenes, in jeder Hinsicht so ausgezeichnetes Glück für Dich,
dass ich nicht genug bitten kann, nicht übereilt zu sein, Deiner
Lage, die freilich in diesem Augenblick nicht unangenehm ist,
aber die es vielleicht werden könnte, nicht zuviel aufzuopfern.
Mir ist, als wäre ich 20 Jahr älter als Du, und als könnte
ich Dir aus Erfahrung sagen, dass man gewöhnlich in Deinem
Alter sehr leichtsinnig das Glück verkennt, wenn man es aucli
wirklich auf seinem Wege findet; man hofft dann immer, dass
Alles sich noch besser nach unsern Wünschen eignen soU —
das Glück ist aber unterdessen schon fern und unerreichbar ! —
Ich hoffe in Deinem nächsten Briefe zu lesen, dass Du Lilla
schon gesprochen hast, und je öfter Du sie sprichst, je mehr
willst Du gesehen haben, dass Du selten, vielleicht nie wieder
eine Frau wie diese findest; ich billige es darum nicht, dass
die Lebensweise in Berlin, die Dir missfällt, einen solchen Ein-
fluss auf den wichtigsten Entschluss haben soll. Ich habe mich
nicht enthalten können, Dich einer jugendlichen Uebereilung
zu beschuldigen, wie ich die Stelle in Deinem Briefe gelesen
habe: „-T^ pre'fererais manger du pain sec ä Paris l^'' — Du pain
sec ist freilich nicht zu verachten, besonders hier, wo es so weiss
ist, ich fürchte aber immer, es könnte auf die Länge, wenn
Du so für Andre bloss arbeitest, ohne Mittel, Dich weiter zu
bringen, bei allen Deinen Talenten immer von der Laune und
dem Eigensinn, den wir kennen, abhängend — du pain amer
werden, und Gott behüte Dich, dass Du es je bereuen mögest,
wenn Du jetzt refusirst."
Solche Gründe, lebhaft unterstützt durch die Stimme des
eignen Herzens, verfelüten ilire W^ii^kung nicht. Abraham gab
seine Stellung in Paris auf, assocürte sich mit seinem Bruder
Joseph, heirathete Lea Salomon, und wir finden das junge Ehe-
paar in Hamburg, von wo ein Brief der jungen Frau aus den
ersten Tagen der Ehe 'den Zustand sehr lebendig schildert:
„Du willst wissen, beste Schwester, wie es in meiner Wohnung
und mit meinen häuslichen Einiichtungen aussieht? Rasend
liederlich a dire le vrai, wie bei dem tollsten Studenten; denn
an kein Kämmerlein, an keine Wirthschaft und Berliner Be-
quemlichkeit ist liier zu denken, und wenn ich mein remue manage
86 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
betrachte, habe ich Mühe zu glauben, dass ich wirklich ver-
heirathet bin, welche Standesänderung einen gewöhnlich in
Besitz einer Welt von Töpfen, Schüsseln, Lustres, Spiegeln und
Mahagonis zaubert, deren reizenden Anblick ich in meinem chez
moi bis jetzt entbehren muss. Doch lass ich mir, wenn Mama's
und Deine Ordnungsliebe es verzeihen kann, kern graues Haar
darum wachsen, und beruhige mich mit der Aussicht, dass der
geschäftigen l^Iartha das melodische Schlüsselklappern mit der
Zeit nicht entgehen soll. Morgen wird der erste grosse Ver-
such angestellt in unseren vier Mäuerchen zu diniren und
zwar vom französischen Eestaurateur. Weder Meubles noch
Wirthschaftssachen kann ich bis jetzt anschaffen, weil mir
nicht der geringste Raum bleibt; auch wird das Chaos erst
geordnet, wenn wir das Land beziehen, wozu uns schon ein
hübsches, an der Elbe dicht bei Neumühlen gelegenes und mit
eüiem Balconü! verziertes Landhaus vorgeschlagen worden,
das wir nächstens sehn wollen. — Den Abend meüier Ankunft
habe ich mir noch den Spass gemacht, mein Pariser Kistchen
nicht allein zu öffnen, sondern die beiden Prachtgewänder an-
zuziehn. Himmlisch ! Aber nur zur Cour bei Kaiser Napoleon
zu gebrauchen. Das herrlichste, reichste, glänzendste, seiden-
weichste, Chamois pekinartige Atlaskleid, und das zarteste,
mit Weiss vermischte fagonnirte Eosa, göttlich garnirt und
gemacht! Mendelssohn war im höchsten Enthusiasmus; ich be-
haupte aber, solche gehauchte zauberische Farben passen nur
für Miss Hebe. — Zur Beruhigung unsrer Damen übrigens
verkünde, dass die „Medicis" nichts Andres sei, als eine ver-
edelte „Stuart", und dass sie mit dem Kragen der schottischen
Königin grade so modern als mit dem der französischen ein-
herstolziren können." —
Bis zum Jahr 1811 lebten Abraham und Lea Mendelssohn
in Hamburg, wo ümen drei Kinder geboren wurden, Fanny,
die älteste, 1805 am 14. November; (in dem Anzeigebrief
des Vaters an die Schwiegermutter Salomon fügt er hinzu;
^Lea findet, das Kind habe Bach' sehe Fugenfinger''; eine Prophe-
zeiung, die sich allerdings bewährt hat;) Felixam S.Februar 1809,
und Rebecka am 1 1 . April 1811. Jenes Landhaus mit dem Balcon,
Uebersiedelung nach Berlin. 87
über dessen in Aussicht gestellten Besitz die Neuvermählte so
erfreut war, wurde erstanden; hier verlebte das junge Paar
die ersten, glücklichen Jahre eines im Ganzen und Grossen
ausserordentlich glücklichen Lebens, und als lange, lange Jahre
später — 1833 — Abraham auf dem Düsseldorfer Musikfest
seinen Sohn Felix als den gefeierten, auf Händen getragenen
Künstler mit kräftiger Hand die grossen Tonmassen lenken
sah, und doch in ihm nur den liebenden, zum Vater ehrfurchts-
voll emporblickenden Sohn fand, da schrieb er an seine Frau
— und man kann sich denken, aus welch dankbarem Herzen
die Worte kamen: „Liebe Frau, wir erleben einige Freude an
diesem jungen Mann, und ich denke manchmal Martens Mühle
soll leben." — So hiess jenes Hamburger Landhaus, imd vor
den Augen des Vaters standen die seligen Jugendzeiten, als
ihm sein erster Knabe geboren wurde, der ihm jetzt die schönste
Erfüllung seiner stolzesten Hoffnungen bereitete.
Wie die Familie während der französischen Herrschaft
Hamburg flüchtend verlassen musste und nach Berlin über-
siedelte, ist schon oben erwähnt. Die äusseren Verhältnisse
waren trübe. In Hamburg hatten sie die Zeit der Davoust'schen
Bedrückungen mitgemacht, in den ersten Jahren des berliner Auf-
enthaltes ging es dieser Stadt nicht viel besser. Dann kam die Er-
hebung 1813. Abraham, unbeirrt durch seine Vorliebe für Frank-
reich, stand ganz und voll auf Seite derDeutschen und rüstete selbst
auf eigene Kosten mehrere Freiwillige aus. — Sein gemeinnütziger
Sinn wurde in Berlin durch seine Wahl zumStadtrath anerkannt. —
Im Jahre 1813 am 30. October ward Paul als letztes Kind
geboren.
Schon in frühester Jugend zeigte sich bei Fanny und Felix
entschiedenes musikalisches Talent. Zuerst leitete ihre Mutter
den musikalischen Unterricht, dann L. Berger, zuletzt Zelter,
der auch gerngesehener Hausfreund war und von dessen Origi-
ginalität und urwüchsiger Grobheit die ergötzlichsten Traditio-
nen m der Familie sich fortgepflanzt haben. So wurde ihm
einstmals eine junge sehr schüchterne Dame behufs Prüfung
ihres Gesanges vorgestellt: „Singen Sie nur ganz ruhig," er-
munterte er die Zitternde, „was Einer aushalten kann, kann
68 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
ich auch aushalten." So ermuthigt begann sie, wurde aber
sofort von Zelter mit den Worten unterbrochen: „Eeissen Sie
das Maul nicht so auf." —Natürlich war es nun mit der Fas-
sung vorbei und die arme wirklich „Schwergeprüfte" brach in
Thränen aus. Das that Zelter leid und er tröstete sie: „Na
weinen Sie doch nicht, liebes Kind, ich habe es nicht so schlimm
gemeint; aber wirklich, wenn man so aussieht wie Sie, muss
man den Mund nicht so weit aufmachen." — Bei einem Ge-
spräch über Genie und seine Grenzen verstieg sich Zelter zur
Dlustrirung seiner Behauptung, dass dem Genie nichts un-
möglich sei, zu dem Kraftausspruch: „Ach was, ein Genie fri-
sirt ein Schwein und macht ihm Locken." — Bei Tische war
sein stehender Ausspruch: „Wenn ich Wasser habe, lasse ich
Bier stehen und trinke Wein." —
Die Erziehungsweise Abraham's war streng, es herrschte
noch etwas jüdischer Despotismus darin. „Treu und gehorsam
bis in den Tod," das war die Forderung, welche Abraham an
seine Fanny bei ihrer Einsegnung stellte. „Bei ihrer Einseg-
nung" — hierüber muss ich mich näher aussprechen. Von den
Kindern Moses', traten wie oben berichtet wurde, Dorothea und
Henriette zum Katholicismus über; die Söhne blieben vorerst
Juden; jedoch Abraham sah auch ein, dass diess eben nur eine
Frage der Zeit sein könne, und entschloss sich, seine Kinder
Christen und zwar Protestanten werden zu lassen. Er muss
wohl mit dem Bruder seiner Frau, der Christ geworden war
und den Namen Bartholdy angenommen hatte, darüber Eath
gepflogen haben, denn dieser schreibt in einem, leider nur
fragmentarisch vorhandenen Brief: „Du sagst. Du seiest es
dem Andenken Deines Vaters schuldig — glaubst
Du denn etwas TJebles gethan zu haben. Deinen Kindern die-
jenige Eeligion zu geben, die Du für sie für die bessere hältst?
Es ist geradezu eine Huldigung, die Du und wir Alle den Be-
mühungen Deines Vaters um die wahre Aufklärung im Allgemeinen
zollen und er hätte wie Du für Deine Kinder, vielleicht wie ich für
meine Person gehandelt. Man kann einer gedrückten, verfolgten
Eeligion getreu bleiben; man kann sie seinen Kindern als eine An-
wartschaft auf ein sich das Leben hindurch verlängerndes Märtyr-
Ursprung: des Namens Mendelssohn Bartholdy. 89
thum aufzwingen — solange man sie für die Alleinseligmacliende
hält. Aber sowie man dies nicht mehr glaubt, ist es eine Barbarei.
— Ich würde rathen, dass Du den Namen Mendelssohn Bartholdy
zur Unterscheidung von den übrigen Mendelssohn's annimmst, wel-
ches mir um so angenehmer sein wii'd, da es die Art ist, auch
mein Andenken bei ihnen zu erhalten und worüber ich mich
herzlich freue. So erreichst Du Deinen Zweck, ohne etwas
Ungewöhnliches zu thun — denn in Frankreich und überall
ist's Brauch, den Namen der Verwandten der Frau dem seini-
gen als Unterscheidung beizufügen.'* Abraham folgte diesem
Eath in allen Stücken.
So wurden denn die Kinder im Christenthum erzogen,
allerdings heimlich, um die Gefühle ilu-er streng jüdischen
Grosseltern, namentlich der alten Salomon zu schonen. Diese
war sehr orthodox, und als ihr Sohn, eben jener Bartholdy
Christ geworden war, hatte sie ihm geflucht und ihn Verstössen.
Fanny war ein grosser Liebling dieser Grossmutter, sie musste
oft zu ihr gehen und ihr vorspielen. Einmal, als sie ganz be-
sonders schön gespielt hatte, sagte ihr die alte Frau, sie könne
sich zur Belohnung ausbitten, was sie wolle. Da sagte Fanny:
„So vergieb dem Onkel Bartholdy" — und die Grossmutter,
gerührt über diese unerwartete Bitte des halben Kindes, von dem
sie vielleicht den Wunsch eines Hutes oder Putz gegenständes
erwartet hatte, versöhnte sich wii'klich mit dem Sohn „um Fanny's
willen", -wie sie ihm schrieb. Daher entspann sich eine grosse
Liebe zwischen Onkel und Nichte und ein langer Briefwechsel.
Er war ein merkwürdiger Mann, ein feiner Kunstkenner,
vielseitig gebildet. Er führte in seiner Jugend ein bewegtes
Leben; wir haben aus dem Jugendbriefe seiner Schwester ge-
sehen, dass er Ende des vorigen Jahrhunderts in Mainz lebte ;
später schloss er sich an Hardenberg an. Varnhagen begegnete
ihm öfter in Wien, in Paris ; schliesslich lebte er als preussischer
Generalkonsul in Rom, und legte, in einer Zeit, wo die wenigsten
Menschen für derartige Dinge Sinn hatten, mit Aufwand aller
seiner nicht sehr bedeutenden Mittel schöne Kunstsammlungen
an. Wir werden ihm noch öfter begegnen.
Es mögen hier einige Briefe Abraham Mendelssohn's aus
90 A"braham Mendelssohn Bartholdy.
verschiedenen Zeiten an seine Kinder folgen, ans denen er-
sichtlich ist, ein wie ausgezeichneter Pädagoge er gewesen.
Hamburg, 29. Oktober 1817.
„Eure Briefe, liehe Kinder ! haben mir sehr viel Vergnügen
gemacht; ich würde Euch auch jedem einen besondern Brief
schreiben, wenn ich nicht sobald wieder zu Euch käme, was
Euch denn doch wohl lieber ist, als ein Brief.
Du, liebes Beckchen, hast mir recht gut geschrieben, und
ich lobe Dich, dass Du Dich des Eichhörnchens erbarmt, und
es in die Stube hast bringen lassen. Wenn das Wetter bei
Euch so abscheulich ist, wie hier, so hätte es ein Eich-Ele-
phantchen auch nicht im Freien aushalten können. Was hat
denn aber Mutter dazu gesagt? Führe Dich gut, fleissig und
folgsam auf, ich bringe Dir etwas sehr Schönes mit, das Du
Dir aber auch verdienen musst.
Du, liebe Fanny, hast Dich in Deinem ersten Briefe recht
schöner Schrift befleissigt; der zweite war schon eiliger. Es
macht Dir Ehre, dass Dich B.'s üble Spässe nicht erfreuen; ich
finde auch keinen sonderlichen Geschmack daran, und es ist
ein sündhaftes Bestreben, Lachen erregen zu wollen auf Kosten
des Guten und Schönen. Leider beschränkt sich hierauf fast
allein die Unterhaltung und das Leben in der Gesellschaft.
Daher ist es ein übles, unlöbliches Leben, und eine goldene
Eegel, lieber zu schweigen, als etwas Unziemliches zu sagen.
Mit Dir, lieber Felix, ist die Mutter bis jetzt, wie sie mir
geschrieben, zufrieden, und das freut mich sehr; ich hoffe, ein
wahrhaftes und erfreuliches Tagebuch vorzufinden. Beherzige
meinen Wahlspruch: „Sei wahrhaft und gehorsam". Besseres
kannst Du nicht sein, und wenn Du es nicht bist, nichts
Schlechteres. Deine Briefe haben mir Vergnügen gemacht;
indessen waren in dem zweiten melirere Nachlässigkeiten, die
ich Dir zu Hause zeigen werde. Du must Dich bemühen,
besser zu sprechen, dann wirst Du auch besser schreiben.
Deine Briefe, o Du dreimal gerührter Mohrenkönig, sonst
auch Paul Herrmann genannt! waren die besten; auch nicht
ein einziger Fehler war darin, und sie waren so schön kurz.
Briefe an seine Kinder. 9X
Ich lobe Dich aber im Ernst, wegen Deiner guten Aufführung,
von der mir Mutter, Beckchen und Fanny schöne Dinge er-
zählen. Wo werde ich nun aber Ziegen für Dich herbekommen?
Ich freue mich sehr Euch alle bald wieder zu sehn, und
grüsse Euch von Herzen."
Amsterdam, 5. April 1819.
^Von Deinen zwei Briefen, liebe Fanny, war der zweite
mit Deinen tragikomischen Klagen über Mangel an Stoff besser,
auch sorgfältiger, fehlerloser geschrieben als der erste, in
welchem Du mir blos vom Theater sprichst. Du bist nun
schon weit genug, um ausser den Begebenheiten auch in Dei-
nen Gedanken Stoff genug zur Unterhaltung mit mir zu finden,
und es würde mir angenehm sein, wenn Da diejenigen, welche
Deine Beschäftigungen in Dir erzeugen müssen, von Zeit zu
Zeit mittheiltest. Namentlich hat mir, solange ich zu Hause
war, Mutter manches von Deinen Stunden beim Herrn Predi-
ger gesagt. Thue Du das jetzt, damit ich lese, da ich nicht
mehr sehen kann, welche Wirkung das, was Du lernst, auf
Dein Gemüth und Deinen Verstand hat. Lass es vor allem
die Wirkung haben, dass Du stets eifriger bemüht seiest, der
nie genug zu liebenden und zu ehrenden Mutter zu Gefallen
zu leben, durch Gehorsam zur Liebe, durch Ordnung zur Frei-
heit und Heiterkeit zu gelangen. Es ist das die würdigste Art,
dem Schöpfer zu danken und ihn zu ehren. Unser aller
Schöpfer. Es giebt — die Religion sei welche sie wolle —
nur einen Gott, nur eine Tugend, nur eine Wahrheit, nur
ein Glück. Du findest alle, wenn Du der Stimme Deines Her-
zens folgst; lebe so, dass sie immer im Einklänge mit der
Stimme Deiner Vernunft bleibe.
Wie es mir ergeht, seht Ihr aus meinen Briefen an die
Mutter, ich gedenke Eurer täglich und stündlich in Liebe."
Dein treuer Vater
A. M. B.
Paris, 2. Juli 1819.
„Ich kann mir das Vergnügen m'cht versagen, Dir, Hebe
Fanny, in einem eigenen Briefchen das herzliche Wohlgefallen
92 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
zu hezeugen, welches mir Deine letzten Briefe gewährt haben ;
sie sind durchgängig angenehm, ordentlich und leicht geschrieben,
und Du hast endlich das Geheinmiss gefunden, mir, recht wohl
gedacht und gefühlt, über Dich und die Unsrigen zu schreiben
— und nichts über's Theater. Je sparsamer ich mit meinem
Lobe bin, desto gewissenhafter ertheile ich es, wenn ich Ver-
anlassung dazu finde, und Deine Briefe gefallen mir zuerst
deswegen, weil sie sind, was sie sein können und sollen, natür-
lich und liebevoll für Deine Umgebungen. Gewiss habe ich
Dich auch recht lieb! Noch recht lieb, schreibst Du — ich
denke, es soll erst recht anfangen.
Lass Dich Deine Dicke nicht anfechten ; es ist eine Aehn-
lichkeit mehr, die Du mit Mutter hast (und Du kannst ihrer
gar nicht genug haben, denn besser als sie wii'd man nun
einmal nicht), die ebenfalls als junges Mädchen sehr stark ge-
wesen ist, und es hoffentlich wieder wird. Die Aehnlichkeit
mit mir wül ich Dir just nicht anpreisen, denn als Frau bin
ich höchstens in den Tableaux vivants reizend und an meiner
SteUe.
Paul's Gesclüchte seiner „Leiden und Freuden" hat uns
hier höchlich divertirt; leider habe ich bei Fanny Sebastiani
keine Spur von Eifersucht bemerkt ; sie liebt ihn sehr uneigen-
nützig.
Gieb Beckchen, und den Jungen, wenn sie still halten wollen,
einen Kuss für mich. Ich wende mich noch an jeden von ihnen
mit einigen "Worten.
Dein Vater und Freund
A. M. B.
P. S. Du schreibst: „M. versichert mich, wenn Du hier
gewesen wärest, sei sie nach B. mitgegangen" — das ist fehler-
haft, es muss heissen „würde sie nach B. mitgegangen sein."
Zuerst an Dich, lieber Paul! Mit Deinen beiden letzten
Briefen bin ich sehr wohl zufrieden gewesen, und danke Dir
dafür. Nur drückst Du zu sehr auf — die ? oder der ? Feder.
Frage Mutter, wie es heisst! Lass Dir einige Federn von
Herrn Gross schneiden, dann wird sie Dir Onkel Joseph ebenso
schneiden ; halte die Finger lose, und Dich grade. — Ich habe
Briefe an seine Kinder. 9E
Dir auf Deine Anfragen wegen Deiner Verheirathnng mit
Mieke niclit gleich geantwortet, weil ich mir die Sache erst
überlegen wollte. Nun denke ich, wir lassen es anstehn, bis
ich nach Hause komme, damit ich Mieke erst sehe. Wenn sie
dann ordentüch gewaschen ist, und Du Dich 14 Tage lang
artig aufführst, so lässt sich von der Sache reden.*)
Du lieber Felix musst recht vernünftig und deutlich
schreiben, was Du für Notenpapier haben willst, ob linürtes
oder unlinürtes? Im ersten Falle musst Du genau angeben,
wie es linürt sein soll; denn da ich in einem Laden war, um
welches zu kaufen, fand sich, dass ich garnicht wusste, was
ich eigentlich kaufen sollte, üeberlies Deinen Brief, ehe Du
ihn abschickst, und frage Dich selbst, ob Du ihn, wenn Du
ihn erhieltest, verstehen würdest, und eine Commission danach
besorgen könntest.
Du Beckchen! hast mir lange nicht geschrieben, und kannst
Dir einen Brief von mir malen. Wenn ich Dir einen Kuss
und einen Nasenstüber — schreibe, so magst Du zufrieden sein.
Dein letzter Brief war übrigens geschmiert; vermuthlich sind
die Meiereifedern daran schuld.
Ich erinnere Mutter an den Exerciermeister für Euch alle.
Er findet sich gewiss aufs Beste unter den Neufchatellern.
Felix soll fleissig aber nur in der Schule sch\\ammen.
Das Verbot des Turnens wird sich auf unsern unschuldigen
Platz wohl nicht erstrecken."
Euer Vater und Freund
A. M. B.
Im Jahre 1820 wurde dann Fanny emgesegnet. Der Ein-
segnungsbrief ihres Vaters lautet folgendermassen :
Paris.
„Du hast, meine liebe Tochter, einen wichtigen Schritt
in's Leben gethan, und indem ich Dir dazu und zu Deinem
ferneren Lebenslauf mit väterlichem Herzen Glück wünsche.
*) Mieke war die 4jährige Tochter des Gärtners. Paul war
damals 6 Jahr alt. Aum. d. H.
94 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
fühle ich mich gedrungen, über Manches, was bis jetzt zwi-
schen uns nicht zur Sprache gekommen, ernsthaft zu reden:
Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Theil unserer Selbst
ewig sei und, nachdem der andere Theil vergangen, fortlebe?
und wo? und wie? — Alles das weiss ich nicht und habe Dich
deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein ich weiss, dass
es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen
Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewis-
sen giebt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon
entfernen. Ich weiss es, glaube daran, lebe in diesem Glau-
ben und er ist meine Religion. Die konnte ich Dich nicht
lehren und es kann sie Niemand erlernen, es hat sie ein Je-
der, der sie nicht absichtlich und wissentlich verläugnet; und
dass Du das nicht würdest, dafür bürgte mir das Beispiel Deiner
Mutter, dieser edelsten, würdigsten Mutter, deren ganzes Leben
Pflichterfüllung, Liebe, Wohlthun ist, dieser Religion in Menschen-
gestalt. Du wuchsest heran unter ihrem Schutz, in stetem An-
schauen und unbewusster Nachahmung und Gewohnheit dessen, was
dem Menschen einen Werth giebt. Deine Mutter war und ist, und
mein Herz sagt mir, sie wird noch lange bleiben Deine und
Deiner Geschwister und unser Aller Vorsehung und Leitstern
auf unserem Lebenspfade. Wenn Du sie betrachtest, wenn Du
das unermessliche Gute, das sie Dir, solange Du lebst mit ste-
ter Aufopferung und Hingebung erwiesen, erwägst und dann
in Dankbarkeit, Liebe und Ehrfurcht Dir das Herz auf- und
die Augen übergehen, so fühlst du Gott und bist fromm.
Dies ist Alles , was ich Dir über Religion sagen kann,
alles, was ich davon weiss; aber das wird wahr bleiben, so-
lange ein Mensch in der Schöpfung existirt, wie es wahr gewe-
sen, seitdem der erste erschaffen worden.
Die Form, unter der es Dir Dein Religionslehrer gesagt,
ist geschichtlich und wie alle Menschensatzungen veränderlich.
Vor einigen tausend Jahren war die jüdische Form die herr-
schende, dann die heidnische, jetzt ist es die christliche. Wir,
Deine Mutter und ich, sind von unseren Eltern im Judenthum
geboren und erzogen worden und haben, ohne diese Form
verändern zu müssen, dem Gott in uns und unserem Gewissea
Einsegnungsbrief an Fanny. 95
zu folgen gewusst. Wir haben Euch, Dich und Deine Ge-
schwister, im Christenthum erzogen, weil es die Glaubensform
der meisten gesitteten Menschen ist und nichts enthält, was
Euch vom Guten ableitet, vielmehr Manches, was Euch zur
Liebe, zum Gehorsam, zur Duldung und zur Resignation hin-
weist, sei es auch nur das Beispiel des Urhebers, von so
Wenigen erkannt, und noch Wenigeren befolgt. —
Du hast durch Ablegung Deines Glaubensbekenntnisses
erfüllt, was die Gesellschaft von Dir fordert, und heissest
eine Christin. Jetzt aber sei, was Deine Menschenpflicht von
Dir fordert, sei wahr, treu, gut. Deiner Mutter, und ich darf
wohl auch fordern. Deinem Vater bis in den Tod gehorsam
und ergeben, unausgesetzt aufmerksam auf die Stimme Deines
Gewissens, das sich betäuben aber nicht berücken lässt, und
so wirst Du Dir das höchste Glück erwerben, das Dir auf Erden
zu Theil werden kann, Einigkeit und Zufriedenheit mit Dir selbst.
Hiermit drücke ich Dich mit väterlicher Innigkeit an mein
Herz und hoffe stets in Dir die würdige Tochter Deiner, unsrer
Mutter zu finden. Leb wohl und meiner Worte eingedenk."
Derselbe Ernst, dieselbe strenge Auffassung der Pflichten
der Kinder gegen die Eltern — aber auch der Eltern gegen
die Kinder, ging durch die ganze Erziehung. Dieser Vater
glaubte nicht genug gethan zu haben, wenn er den Kindern
die besten Lehrer gab, er erzog selbst und hielt keins seiner
Kinder bei seinen Lebzeiten seiner Zucht — sogar seiner Züch-
tigung entwachsen, wenn es auch erwachsen war.
Aus derselben Zeit, wie der soeben mitgetheilte Ein-
segnungsbrief, ist folgender:
Paris, 16. JuU 20.
Sonntags. Unvergleichlich schönes Wetter.
„Du hast mir, liebe Fanny, während meiner diesmaligen
Entfernung viel lange und gute Briefe geschrieben, mit denen
ich sehr zufrieden und Dir dafür dankbar bin. Ich bin da-
gegen in Deine Schuld gerathen, und das hat den Nachtheil
nicht allein, dass ich mich selbst deswegen anklagen muss,
sondern dass es nun zu spät geworden, Dir auf Vieles in Dei-
96 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
nen Briefen zu antworten und ich mich an die letzten hal-
ten muss.
Ich hoffe zuversichtlich, dass Mutter sich zur Reise entschlos-
sen haben wird und dass ich Tante Jette morgen dazu werde
bereden können. Beide können indessen ihre sehr guten Gründe
haben, nicht reisen zu wollen, die wir dann ehren und auf ein
gehofftes Vergnügen Verzicht leisten müssen. Wenn Dir das
schwerer wird als mir, weil Du jünger und neugieriger bist
als ich, so hast Du dagegen noch soviel mehr Zeit vor Dir,
Schönes zu erleben und zu sehen, während ich die wenigen
Jahre, die mir dazu noch bleiben, schnell zurückgelegt haben
werde. Wie schnell dieses zugeht, wenn einmal die Lebens-
ki'aft einen Stoss erlitten, davon sehe ich jetzt zu meinem
grossen Schmerz ein Beispiel täglich an der vortrefflichen Bi-
got, deren Zustand sehr beklagenswerth ist. Ihr werdet sie
wohl nicht mehr sehn uud würdet sie schwerlich wiedererken-
nen. Bei ihr fällt mir stets die grobe, aber ausdrucksvolle
Aeusserung Heine's über die unvergessliche S. ein: „Schade um
die schöne Seele in dem hundsföttschen Körper." —
Du forderst mich auf, wegen Deiner Gesellschaft mit M.
und A. ruhig zu sein; ich wüsste nicht, warum ich unruhig
sein sollte, denn dass Du Dich nicht lästig bezeugen würdest,
das habe ich von Deinem Verstand und Deiner Bescheidenheit
erwartet. Ich meines Theils habe stets eine gewisse Scheu
gehabt, zu zweien, sich in irgend einem Verhältniss nahe ste-
henden Personen, den Dritten abzugeben; dieser ist immer der
Sündenbock; der Vierte, Fünfte etc. verderben dann schon
nichts mehr und begründen vielmehr eine allgemeine Unterhal-
tung, während der Dritte nur die engere und vertrautere auf-
hebt. Wer sich hütet, der Dritte zu sein, ist fast gewiss,
stets gern, wenigstens nie ungern gesehen zu werden, und so
bildet sich Dein Lebensplan mit M. und A. von selbst.
Deine letzten Lieder sind in Viry, von wo ich sie morgen
zurückbringe und dann Jemand suchen werde, der sie mir leid-
lich vorsingt. Felix' letzte Fuge*) hat mir Herr Leo sehr
*) Felix war damals 11 Jahr alt.
Briefe an seine Kinder. 97
unvollkommen vorgespielt, er findet sie sehr gut und in achtem
Styl, aber schwer. Mir hat sie wohl gefallen; es ist viel und
ich hätte ihm kaum zugetraut, dass er sich sobald darin finden
würde, ernsthaft zu arbeiten, denn zu einer solchen Fuge ge-
hört denn doch gewiss Ueberlegung und Beharrlichkeit. Was
Du mir über Dein musikalisches Treiben im Verhältniss zu
Felix in einem Deiner früheren Briefe geschrieben, war eben
so wohl gedacht als ausgedrückt. Die Musik wird für ihn
vielleicht Beruf, wälirend sie für Dich stets nur Zierde, niemals
Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll; ihm
ist daher Ehrgeiz, Begierde, sich geltend zu machen in einer
Angelegenheit, die ihm selir wichtig vorkommt, weil er sich
dazu berufen fühlt, eher nachzusehn, während es Dich nicht
weniger ehrt, dass Du von jeher Dich in diesen Fällen gut-
müthig und vernünftig bezeugt und durch Deine Freude an
dem Beifall, den er sich erworben, bewiesen hast, dass Du ihn
Dir an seiner Stelle auch würdest verdienen können. Beharre
in dieser Gesinnung und diesem Betragen, sie sind weiblich,
und nur das Weibliche ziert die Frauen.
Ich danke Beckchen für ihren Brief und „Faul" für seine
Nachschrift, die leidlich geschrieben ist, jedoch gerathen h und
k immer noch sehr schlecht, letztere besonders haben einen
Bauch, der mich über meinen tröstet.
Dienstag. Sie haben gestern in Viry Deine Eomanzen
durchgenommen, es wird Dich freuen, zu wissen, dass Fanny
Sebastiani mir die „Les soins de mon troupeau'-^ recht niedlich
und rein vorgesungen hat und vielen Geschmack daran findet.
Ich gestehe Dir, dass dieses Lied mir das liebste ist, soweit
ich nämlich die anderen, die sehr unvollkommen vorgetragen
wurden, beurtheilen kann. Es ist heiter, fliessend, natürlich,
Eigenschaften, die den meisten andern abgehn, die zum Theil
zu weit sind für die Worte. Jenes Lied gefäUt mir so wohl,
dass ich mir es seit gestern sehr oft vorgesungen, während
ich von den andern nichts behalten habe, und Fasslichkeit
scheint mir eines der wichtigsten Erfordernisse eines Liedes;
dabei ist es nichts weniger als trivial, und die Wendimg „si
fai trouve pour eux une fontaine claire^^ sehr glücklich sogar,
Die Familie Mendelssohn. I. 7
98 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
nur scheint sie mir den Satz, der sich in den Versen an „s'e?«
sont heureux'-'' unmittelbar anschliesst, zu bestimmt zu enden.
Ich rathe Dir sehr, Dich möglichst an diese Natürlichkeit und
Leichtigkeit in Deinen ferneren Kompositionen zu halten.
Die Mutter schrieb mir neulich, dass Du Dich über Mangel
an Stücken zur Uebung der vierten und fünften Finger be-
klagt und dass Felix Dir sogleich darauf eins verfertigt habe.
Die Bigot meint, es läge keineswegs an Mangel an üebungs-
stücken, sondern an Mangel an ernster Uebung, wenn bei
Dir, me bei allen Menschen, diese Finger den andern nicht
nachwollten. Du müsstest jeden Tag einen Theil Deiner Uebungs-
zeit darauf verwenden, ohne Rücksicht auf die Musik, Ausdruck
oder sonst etwas, ganz mechanisch bloss die Finger zu beob-
achten und fest aufzusetzen; es gäbe im Ki'amer genug Stücke,
die auf diese beiden Finger berechnet wären, und es käme
darauf an, diese langsam und mit steter Beobachtung des
festen Aufsetzens der beiden Schwächlinge anhaltend duixh-
zuspielen. Auf diese Weise und durch unermüdete Geduld habe
sie es erlangt, und sei es möglich zu erlangen, dass alle Finger
gleich stark werden. Ich theile Dir dieses zur Beherzigung mit.
Da ich nicht recht glaube, dass Mutter nach Coblenz
kommen wird, so ist die Zeit unsres Wiedersehns etwas hinaus-
geschoben, und manchmal freilich ist aufgeschoben aufgehoben;
doch hoffentlich in diesem Falle nicht und wir treffen Alle
wieder gesund und wohlbehalten zusanmien.
Dein Vater.
Tante Jette lässt Dich gelegent-
lich um einige Deiner deutschen Lieder
bitten."
Zum 23. Geburtstage schrieb Abraham an Fanny folgender-
massen:
„Wir werden beide mit jedem Jahr 365 Tage älter; 'wer
weiss, wie lange ich Dir noch zu Deinem Geburtstage gratuliren
und ein ernstes Wort sagen kann; wer weiss, wie lange Du
letzteres noch hören kannst, oder willst.
So will ich Dir heute sagen, liebe Fanny, dass ich in allen
wesentlichsten Punkten, im Wichtigsten, mit Dir so zuüiedei
Briefe an seine Kinder. 99
bin, dass mir nichts zu wünschen übrig bliebe. Du bist gut
in Sinn und Gemüth. Das Wort ist verdammt klein, aber es
hat es hinter den Ohren, und ich sage es nicht von einem Jeden.
Aber Du kannst noch besser werden! Du musst Dich
mehr zusammennehmen, mehr sammeln ; Du musst Dich ernster
und emsiger zu Deinem eigentlichen Beruf, zum einzigen
Beruf eines Mädchens, zur Hausfrau, bilden. Die wahre Spar-
samkeit ist die wahre Liberalität, wer Geld wegwirft muss ein
Geizhals oder ein Betrüger werden. Der Frauen Beruf ist der
schwerste; die unausgesetzte Beschäftigimg mit dem Kleinsten,
das Auffangen eines jeden Regentropfens, damit er nicht in dem
Sande verdunste, sondern zum Bache geleitet, Wohlstand und
Segen verbreite, die stete unausgesetzte Beobachtung des Ein-
zelnen, die Wohlthat jedes Augenblicks und die Benutzung
jedes Augenblicks zur Wohlthat, das, und Alles, was Du Dir
dazu denken wirst, sind die Pflichten, die schweren Pflichten
der Frauen.
Es fehlt Dir wahrlich nicht am Gemüth, noch weniger am
Verstände, um sie treu zu erfüllen; aber am ernsten Willen,
an der Sammlung, an der rechten Wahl und Würdigung Deiner
Beschäftigungen wirst Du noch Stoff genug finden. Deine Kraft
zu üben. Thue es, so lange Du freiwillig kannst! ehe Du
es zu thun gezwungen bist. Uebe Dich, so lange es Dir noch
vergönnt ist, mit Deinen Eltern zu leben. Vieles besser zu
machen, als diese. Gieb dem Gebäude einen festen Grund, der
Zierden wird es nicht ermangeln.
Doch ich will ja nicht predigen und bin noch nicht alt
genug, schwatzhaft zu werden. Nimm noch einmal meine
väterlichen Wünsche für Dein Wohl und meinen wohlgemeinten
Rath zu Herzen."
Dein Vater.
Das war überhaupt Fundamentalgrundsatz dieser Erziehung,
dass jede erreichte Stufe nur eben eine Stufe sei, dass, was gut
ist, noch besser werden könne, dass mit einem Wort die Er-
ziehung nie zu Ende sei, und dass Vater und Mutter, so lange
sie leben, nie aufhören dürfen, Berather und Leiter ihrer Kinder
zu sein. Es ist dies eine specifisch jüdische Anschauungsweise
7*
l
100 Abraham Mendelssohn Bartholdy,
und sie wird zum Unheil, wenn erwachsene Söhne oder Töchter
gegen besseres Wissen sich dem kindisch gewordenen Willen
eines Greises beugen müssen und mit Gewalt unmündig gehalten
werden, bis der Tod die unnatürlichen Fesseln bricht. Wenn
aber, wie es hier der Fall war, der Vater mit der Zeit zum
väterlichen Freund wird, der sich die schöne Stelle des Leiters
durch die Vortrefilichkeit seines Raths erhält, dann ist es das
würdigste und wohlthätigste Verhältniss, das man sich denken
kann. Am schönsten gestaltete sich dies zwischen Abraham
nnd seinem Sohne Felix. Man kann dreist behaupten, dass
ohne diesen Vater Felix Mendelssohn nie das geworden wäre,
was er war. Die Laufbahn eines Musikers war damals eine
noch nicht so oft betretene als jetzt, und der Weg, namentlich
in Deutschland, ein dorniger, der Abwege viele. Ja, es gab
kluge und bedeutende Menschen, die den „Musicus von Profession"
garnicht als Lebensberuf anerkennen wollten. So schrieb sein
Schwager Bartholdy an Abraham:
„Ich bin nicht ganz einverstanden, dass Du Felix keine
positive Bestimmung giebst. Dies würde und könnte seiner
Anlage zur Musik, über die nur eine Stimme ist, keinen Ein-
trag thun. — Ein Musikus von Profession will mir nicht in
den Kopf. — Das ist keine Carriere, kein Leben, kein Ziel;
man ist zu Anfang so weit als am Ende und weiss es; ja,
in der Regel besser daran. — Lasse den Buben ordentlich
Studiren, dann auf der Universität die Rechte absolviren und
dann in eine Staats-Carriere treten. Die Kunst bleibt ihm als
Freundin und Gespielin zur Seite. So wie ich den Gang der
Dinge erkenne, bedürfen wir der Leute, die ein Studium ge-
macht haben, bald mehr als je. Soll er aber ein Kaufmann
werden, so gieb ihn früh in ein Comptoir." —
Abraham liess sich durch diesen Rath glücklicher Weise
nicht bestechen. Felix lernte und studirte ordentlich, hörte
auch juristische Collegia, dann aber liess ihn der Vater die
Musik als wirkliche „Carriere" ergreifen, und der Erfolg hat
bewiesen, dass es keine schlechte war. Nun aber war auch
des Vaters ganzes Streben darauf gerichtet, dieser Carriere
eiQ festes, ernstes Ziel zu geben; immer wies er seinen Sohn
Abraham und Felix. 101
auf die alten Meister, namentlicli auf Bacli hin; er drängte
ihn zur Composition des Paulus, bestand auf einer festen An-
stellung. Die Musik sollte ihm eben Ernst sein, und nicht
bloss eine Gespielin. In Bezug auf die von ihm übernommene
und bald wieder abgegebene Direktion des Düsseldorfer Stadt-
theaters schrieb er.*)
„Was die administrative Carriere betrifft, so veranlasst
mich diese zu einer Reihe von Betrachtungen, die ich Dir ans
Herz legen will: Jeder, der Gelegenheit und Lust hat. Dich
näher und innerlicher kennen zu lernen, sowie alle, denen Du
Lust und Gelegenheit hast, Dich deutlicher zu machen, werden
Dich liebgewinnen und achten. Das allein reicht aber wirklich
nicht aus, um thätig und wirksam ins Leben einzugreifen; es
wird vielmehr bei vorrückendem Alter, wenn Andern und Dir
jene Lust und Gelegenheit ausgehen, zu Isolirung und Miss-
muth führen: Selbst das, was wir für Fehler halten, will, wenn
es sich einmal durchgehends in der Welt festgesetzt hat,
respectirt, oder doch wenigstens geschont sein, und das In-
dividuum verschwindet in der Welt. Das Ideal der Tugend
hat der am wenigsten erreicht, der es am unerbittlichsten
von Andern fordert. Das strengste Moralprincip ist eine
Citadelle mit Aussenwerken, an deren Vertheidigung man nicht
gern seine Kräfte verschwendet, um desto sicherer in dem Kern-
werke sich halten zu können, welches man freilich nur mit
dem Leben aufgeben soll. Nun hast Du Dich unläugbar bis
jetzt noch nicht von einer gewissen Schroffheit und Heftigkeit,
von einem raschen Ergreifen und ebenso raschen Loslassen
trennen können und Dir dadurch selbst in praktischer Hinsicht
vielfache Hindernisse geschaffen. So muss ich Dir zum Bei-
spiel bekennen, dass ich Dein Ausscheiden von der aktiven
Theilnahme an der Detailverwaltung des Düsseldorfer Theaters
an und für sich gebilligt habe, die Art und Weise desselben
aber um so weniger, als Du sie freiwillig, und, wenn ich es
sagen soll, etwas unbedacht übernommen hattest. Du hattest
von Anfang an, sehr richtig. Dich nicht fest binden, sondern
*) Bereits in den Mendelssohn'schen Briefen veröffentlicht.
102 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
nur das Einstudiren und Leiten einzelner Opern übernehmen
wollen, diesem Entschluss gemäss auch ganz konsequent einen
Theater - Musikdirektor engagiren lassen. Wie Du nun vor
einiger Zeit hierherkamst, mit dem Auftrag Krethi und Plethi
zu engagiren, gefiel mir das Ding schon gamicht; ich meinte
aber, Du habest, da Du ohnedies hergekommen warst, diese
Besorgung als eine Gefälligkeit nicht verweigern können. Nun
aber, bei Deiner Rückehr nach Düsseldorf, und nachdem Du^
sehr vernünftig, eine weitere Reise zu Engagements gleich
abschlugst, statt in diesem Sinne fortzufahren und alle Odiosa
abzuweisen, lässt Du Dich damit überschütten, und da sie Dir,
wie natürlich, ekelhaft werden, lenkst Du nicht etwa ruhig
ein und schaffst sie Dir nach und nach wieder vom Halse^
sondern Du springst mit einem Male ab und zurück, giebst
Dir dadurch unläugbar den Anschein von Unbeständigkeit und
UnZuverlässigkeit, machst Dir einen Mann, den Du auf jeden
Fall politisch schonen musstest, zum entschiedenen Gegner und
höchst wahrscheinlich mehrere Mitglieder des Comite, unter
denen gewiss ganz respektable Leute sind, verdriesslich und
nicht zu bessern Freunden. Betrachte ich diese Sache falsch,
so belehre mich eines Bessern." — Und über die durch das
ganze Leben Felix' gehende und nie befriedigte Sehnsucht
nach einem guten, komponirbaren Operntext schreibt sein
Vater in demselben Brief: „Sodann will ich auch auf den
Punkt der dramatischen Carriere noch einmal zurückkommen,
weil sie mir allerdings für Dich sehr am Herzen liegt. Du
hast, meiner Einsicht nach, weder in produktiver, noch in
administrativer Hinsicht eine ausreichende Schule durchgemacht,
um gewiss wissen zu können, dass Deine Abneigung dagegen
eine innere, in Deinem Talent und Charakter gegründete ist.
Mir ist, ausser Beethoven, kein dramatischer Komponist be-
kannt, der nicht eine ganze Menge total vergessener Opern
gemacht hätte, ehe er den rechten Punkt zur rechten Zeit
gefasst und sich Platz gemacht. Du hast einen einzigen
öffentlichen Versuch gemacht, der zum Theil am Text ge-
scheitert und eigentlich weder gelungen noch misslungen ist.
Später hast Du an den Texten zuviel gemäkelt, — den rechten
Abraham und Felix. 103
Mann nicht gefunden, vielleicht aber auch nicht recht gesucht;
ich kann mich des Glaubens nicht erwehren, dass thätigere
Nachforschungen und billigere Anforderungen Dich zum Ziele
führen müssen." —
So waren die Rathschläge, die Abraham seinem Sohn in
Bezug auf seine Musiker-Laufbahn ertheilte. Aber darauf be-
schränkte sich der Beirath des einsichtigen Mannes nicht: er
hatte ein so richtiges musikalisches Verständniss, ein so feines
Ohr, dass Felix ihm z. B. einmal auf eine Kritik einer seiner
Kompositionen antwortet : *)
„Ich habe Dir noch zu danken für den letzen Brief und
mein Ave; ich kann es oft garnicht begreifen wie es möglich
ist, über Musik ein so genaues Urtheil zu haben, ohne tech-
nisch musikalisch zu sein, und wenn ich das, was ich dabei
empfinde, so klar und anschaulich sagen könnte wie Du,
sobald Du darüber sprichst, so wollte ich keine einzige konfuse
Rede mehr in meinem Leben halten. Habe tausend Dank da-
für und für Deine Worte über Bach.
Du hast nun freilich nach einmaligem unvollkommenen
Hören meines Stücks das herausgefunden, was ich nach langer
Bekanntschaft erst jetzt, und darüber sollt' icli mich wohl ein
wenig ärgern; aber daixU ist's mir doch wieder lieb, dass eine
solche Deutlichkeit des Gefühls bei Musik da ist und dass Du
die grade hast, denn was am Ende und in der Mittelstelle
verfehlt ist, liegt in so kleinen Fehlern, die sich mit so wenig
Noten (namentlich weggestrichenen) hätten verbessern lassen,
dass weder ich noch irgend ein Musiker ohne öfteres Hören
darauf gekommen wäre, weil wir das in der Regel viel tiefer
suchen. Es schadet der Einfachheit des Klanges, und wenn
ich auch meine, dass es bei vollkommener Aufführung, nament-
lich mit grossem Chor, weniger auffallen würde, so wird doch
immer etwas davon bleiben. Indessen will ich's ein andermal
schon besser machen."
Wenn Abraham auch, wie wir sahen, der Ansicht war,
dass die Hausfrau der einzige Beruf eines Mädchens sei, so
*) Mendelssohn'sche Briefe.
104 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
kam ihm doch viel darauf an, die grossen Talente, die in sei-
ner Tochter ruhten, vollkommen zu entwickeln, und Lea war
darin ganz mit ihm einverstanden. So lernte auch Fanny Ge-
neralbass, hatte Unterricht in der Kompositionslehre und war
im Klavierspiel in vielen Beziehungen dem Bruder ebenbürtig.
Von ihrem ungewöhnlichen musikalischen Gedächtniss legte sie
im Jahre 1818 als 13 jähriges Kind eine glänzende Probe ab,
indem sie zur Ueberraschung für den Vater 24 Bach'sche Prä-
ludien auswendig lernte. Charakteristisch für diesen ist, was
Henriette darüber schreibt: „Fanny's Meisterstück, 24 Präludien
auswendig zu lernen, und Dire Beharrlichkeit, liebste Lea, sie
einstudiren zu lassen, haben mich starr und stumm vor Er-
staunen gemacht, und ich habe nur die Sprache wiedergefunden,
um allen Menschen dies grosse Gelingen mitzutheüen. Nach-
dem ich aber Ihnen und Fanny meine ungetheilte Bewunde-
rung zuerkannt, muss ich doch gestehen, dass ich das Unter-
nehmen strafbar finde ; die Anstrengung ist zu gross, sie hätte
leicht schädlich werden können, man sollte das ausserordent-
liche Talent Ihrer Kinder bloss leiten, nicht treiben. Papa
Abraham ist aber ungenügsam, das Beste ist ihm eben gut genug.
Mich dünkt, ich sehe ihn, während Fanny spielte, in der Seele
vergnügt und zufrieden, und doch wenig äussernd. Die Kinder
werden's ihm aber bald abmerken, dass sie sein Stolz und seine
Freude sind, und sich die stoischen Mienen nicht sehr zu Her-
zen nehmen." — Dies ausgezeichnete, musikalische Gedächtniss
verüess Fanny auch in späteren Jahren nicht, und sie verfügte
z. B. während des Aufenthalts in Rom, wie wir sehen werden,
über ein sehr reichhaltiges Repertoir von Bach, Beethoven und
fast allen klassischen deutschen Meistern, was ihr sehr nützlich
wurde, da Noten dort garnicht zur Hand waren.
Den Unterricht in wissenschaftlicher Hinsicht übernahmen
anfangs die Eltern selbst; aber auch hierin sollte dem Vater
— nach Henriette's treifendem Ausdruck — „das Beste eben
gut genug sein," *) und wie er in musikalischer Beziehung
*) Citat aus Göthe's italienischer Reise, demnächst geflügeltes
Wort geworden.
Keise nach Paris 1819. 105
mit richtigem Blick Zelter als den geeigneten Mann heraus-
gefunden hatte, traf er für die Hauslehrerstelle eine nicht min-
der glückliche Wahl: es war Heyse, der spätere berühmte
Philologe, der Vater des Dichters Paul Heyse. Heyse war
längere Jahre im Hause und ihm verdankten die Kinder ihre
gründliche wissenschaftliche Bildung. Felix wollte nicht gern
allein Griechisch lernen, und so nahm seine jüngere Schwester
Kebecka an diesem Unterricht Theil und erwarb sich bei ih-
rem grossen Sprachtalent eine so genaue Kenntniss des Grrie-
chischen, dass sie noch in späteren Jahren Homer und Plato
mühelos las und sowohl ihrem Neffen, als ihren beiden eige-
nen Söhnen oft eine erwünschte Helferin bei den Schular-
beiten war.
Im Jahr 1819 machte Abraham allein eine Reise nach
Paris, wohin ihn Geschäftsangelegenheiten, die Eintreibung der
französischen, an Preussen zu zahlenden Kriegsentschädigung,
riefen. Wie schwer ihm die Trennung von seinem Familien-
leben wurde, kann man sich denken, das „pain seo ä Fans^
war nicht mehr so verlockend als damals. Henriette schreibt
an Lea: „Ich habe den guten, redlichen, edlen Bruder, Mann
und Erzvater mit wahrer Freude wiedergesehen, und er hat
mich auch schon hier auf dem Lande besucht, wo wir Ihrer und
der Kinder gedachten, wie Sie, und der herrliche Segen, den
ihm Gott in seinen Kindern gegeben, sich an AUes, besonders
Gutes aber, das ihm widerfährt, immer anschliessen. Wie es
aber der arme Mann anfangen wird, um seinen Sommer so
aUein in Paris zu verleben, das weiss ich noch nicht. Auch
die Opera buffa scheint ihn nicht mehr anzuziehen, und mit
Recht zieht er seine Hauskapelle allen berühmtesten Vir-
tuosen vor. Indessen scheint er mir ganz resignirt, und ich
muss es sagen, in manchem Andern noch sehr vortheilhaft ver-
ändert; er erkennt, dass er glücklich ist, fühlt es lebendig in
sich, und das hat ihn verjüngt; ich finde ihn garnicht mehr so
heraklitisch, bloss ernst, wie es einem Manne, und zuweilen
gerührt, wie es einem Gatten und Vater ziemt, der von allem,
was er liebt, getrennt ist." —
Der Aufenthalt zog sich länger hin, als man gedacht
106 Abraham Mendelssohn Barthol dy.
hatte; aus dieser Zeit sind die früher mitgetheilten Briefe an
Fanny; endlich im Herbst 1820 kehrte er zurück. In dem
Brief, den ihm Henriette mitgab, heisst es:
„ Liebste Lea, da haben Sie ihren lieben, edlen Mann wie-
der, lind zwar recht wie Sie ihn wünschen, mit einer Dosis
übler Laune gegen das neueste Frankreich; ob Berlin sehr
bei dieser Veränderung gewonnen, weiss ich nicht, aber er ver-
gisst es doch nie, dass da sein schönstes Glück blühte und zu
den herrlichsten Früchten reifte, dafür entbehrt er schon gern
einige materielle, die dort nicht reifen, besonders wenn er Sie,
wie jetzt geschieht, zu einer Weinlese am Ehein bewegen
kann." —
Dass das Frankreich vom Jahr 1820 auf den freisinnigen
fast republikanischen Mann, namentlich unter seinen persönlich
unbehaglichen Verhältnissen, einen äusserst ungünstigen Ein-
druck machte, ist wohl sehi* erklärlich. Indess lässt sich an-
nehmen, dass der pecuniaire Erfolg der E-eise ein selir guter
war, und so konnte schon ein nicht ganz angenehmes Jahr in
den Kauf genommen werden, umsomehr als das nun folgende
Jahi'zehnt von 1820 — 1830 sich zu einem ungetrübt glückli-
chen gestaltete.
Im Herbst 1821 wagte Felix den ersten Ausflug aus dem
elterlichen Hause und reiste mit Zelter, dem vertrauten Freunde,
nach Weimar, wo er 14 Tage im Göthe'schen Hause wohnte.
Kurz vor seiner Abreise hatte er angefangen, sich im Phan-
tasiren zu üben, und phantasirte in Weimar in Gegenwart
Göthe's, Hummel's, vieler Künstler und des Hofes. Es mögen
einige Stellen aus den Briefen folgen, die der damals 11 jähi-ige
Felix an die Eltern schrieb:
Weimar, den 6. November 1821.
„ — — Jetzt hört Alle, Alle zu. Heut ist Dienstag.
Sonntag kam die Sonne von Weimar, Göthe, an. Am Morgen
gingen wir in die Kii^che, wo der 100. Psabn von Händel
halb gegeben wurde. Die Orgel ist gross und doch schwach,
die Marien-Orgel ist, obwohl klein, doch viel mächtiger. Die
hiesige hat 50 Register, 44 Stimmen und Imal 32 Fuss. Nach-
her schrieb ich Euch den kleinen Brief vom 4. und ging nach
Felix bei Göthe. 107
dem Eleplianten , wo icli Lucas Cranach's Haus zeichnete.
Nach 2 Stunden kam Professor Zelter: „Göthe ist da, der
alte Herr ist da!" — Gleich waren wir die Treppe herunter
in Göthe's Haus. Er war im Garten und kam eben um eine
Hecke herum; ist das nicht sonderbar, lieber Vater, ebenso
ging es auch Dir. Er ist sehr freundlich, doch alle Bildnisse
von ihm finde ich nicht ähnlich. Er sah sich dann seine
interessante Sammlung von Versteineningen an, welche der
Sohn geordnet hat, und sagte immer: „Hm, hm, ich bin recht
zufrieden" ; nachher ging ich noch eine halbe Stunde im
Garten mit ihm und Professor Zelter. Dann zu Tisch. Man
hält ihn nicht für einen Dreiundsiebenziger, sondern für einen
Fünfziger. Nach Tische bat sich Fräulein Ulrike, die Schwester
der Frau von Göthe, einen Kuss aus und ich machte es ebenso.
Jeden Morgen erhalte ich vom Autor des Faust und des
Werther einen Kuss, und jeden Nachmittag vom Vater und
Freund Göthe zwei Küsse. Bedenkt!! Nachmittag spielte
ich Göthe über zwei Stunden vor, theils Fugen von Bach,
theils phantasirte ich. Den Abend spielte man Whist und
Professor Zelter, der zuerst mitspielte, sagte: „Whist heisst,
du sollst das Maul halten." Ein Kraftausdruck! Den Abend
assen wir Alle zusammen, auch sogar Göthe, der sonst niemals
zu Abend isst. Nun meine liebe, hustende Fanny: Gestern
früh brachte ich Deine Lieder der Frau von Göthe, die eine
hübsche Stimme hat. Sie wird sie dem alten Herrn vorsingen.
Ich sagte es ihm auch schon, dass Du sie gemacht hättest
und fragte, ob er sie wohl hören wollte. Er sagte: ja, ja,
sehr gerne. Der Frau von Göthe gefallen sie besonders.
Ein gutes Omen. Heute oder morgen soll er sie hören."*)
*) Göthe dichtete dann für Fanny folgendes Gedicht, das er
ihr eigenhändig aufschrieb und Zelter mit den Worten übergab,
»bringen Sie das dem lieben Kinde."
Wenn ich mir in stiller Seele
Singe leise Lieder vor,
Wie ich fühle, dass sie fehle,
Die ich einzig mir erkor.
Möcht' ich hoffen, dass sie sänge.
Was ich ihr so gern vertraut —
Ach! aus dieser Brust und Enge
Drängen frohe Lieder laut
108 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
Weimar, den 10. Novemher.
„ Montag war ich hei der Frau v. Henkel und auch
hei Sr. Königl. Hoheit dem Erhgrossherzog, dem meine g-moU-
Sonate sehr wohl gefiel. Mittwoch Abend war Oberen von
Wranitzky, eine recht hübsche Oper. Donnerstag früh kamen
die Grossherzogin und die Grossfürstin und der Erbgrossherzog
zu uns, denen ich vorspielen musste. Und nun spielte ich
von 11 Uhr mit Unterbrechung von 2 Stunden bis 10 Uhr
des Abends, und die Phantasie von Hummel machte den
Beschluss. Als ich letzt bei ihm war, spielte ich ihm die
Sonate aus g-moll vor, die ihm sehr wohl gefiel, wie auch
das Stück für Begasse, und für Dich, liebe Fanny. Ich spiele
hier viel mehr als zu Hause, unter 4 Stunden selten, zu-
weilen 6, ja wohl gar 8 Stunden. Alle Nachmittage macht
Göthe das Streicher'sche Instrument mit den Worten auf: „Ich
habe dich heute noch garnicht gehört, mache mir ein wenig
Lärm vor" und dann pflegt er sich neben mich zu setzen, und
wenn ich fertig bin (ich phantasire gewöhnlich), so bitte ich
mir einen Kuss aus, oder nehme mir einen. Von seiner Güte
und Freundlichkeit macht Ihr Euch gar keinen Begriff, ebenso-
wenig als von dem Heichthum, den der Polarstern der Poeten
an Mineralien, Büsten, Kupferstichen, kleinen Statuen, grossen
Handzeichnungen u. s. w. u. s. w. hat. Dass seine Figur im-
posant ist, kann ich nicht finden, er ist eben nicht viel grösser
als Vater. Doch seine Haltung, seine Sprache, sein Name, die
sind imposant. Einen ungeheuren Klang der Stimme hat er,
und schreien kann er, wie 10,000 Streiter. Sein Haar ist noch
nicht weiss, sein Gang ist fest, seine Rede sanft. Dienstag
wollte Professor Zelter mit uns nach Jena, und von da aus
gleich nach Leipzig. (Bei Schoppenhauer's sind wir oft, Freitag
hörte ich Molke und Strohmeier daselbst, hier auf dem Theater
ist eine 14jährige Sängerin, Fanny, die letzt im Oberon d frei
fasste, stark und rein, und f hat.) Sonnabend Abend war
Adele Schoppenhauer (die Tochter) bei uns, und wider Gewohn-
heit Göthe auch den ganzen Abend. Die Rede kam auf unsere
Abreise und Adele beschloss, dass vdr Alle hingehen und uns
Professor Zelter zu Füssen werfen sollten und um ein Paar
Felix bei Göthe. 109
Tage Zugabe flehen. Er wurde in die Stube geschleppt und
nun brach Göthe mit seiner Donnerstimme los, schalt Professor
Zelter, dass er uns mit nach dem alten Nest nehmen wollte,
befahl ihm, still zu schweigen, ohne Widerrede zu
gehorchen, uns hier zu lassen, allein nach Jena zu gehen
und wieder zu kommen, und schloss ihn so von allen Seiten
ein, dass er Alles nach Göthe's Willen thun wird; nun wurde
Göthe von allen Seiten bestüi-mt, man küsste ihm Mund und
Hand, und wer da nicht ankommen konnte, der streichelte ihn
und küsste ihm die Schultern, und wäre er nicht zu Hause
gewesen, ich glaube, wir hätten ihn zu Hause begleitet, wie
das römische Volk den Cicero nach der ersten Catilinarischen
Eede. Uebrigens war auch Fräulein Ulrike ihm um den Hals
gefallen, und da er ihr die Cour macht (sie ist sehr hübsch),
so that alles dies zusammen die gute Wirkung.
Montag um 11 Uhr war Concert bei Frau von Henkel.
Nicht wahr, wenn Göthe mir sagt, mein Kleiner, morgen ist
Gesellschaft um 11, da musst auch du uns was spielen, so
kann ich nicht sagen „Nein!" —
Lea hatte die Briefe an Henriette geschickt, und diese
macht ihrem Entzücken in folgenden Worten Luft:
^Wie kann ich Hmen, liebste Lea, je genug für die Freude
danken, die Sie mir dui'ch jene herrlichen Briefe gemacht! Sie
sind eine glückliche Mutter! Ihnen zu sagen, wie gerührt,
v/ie innig bewegt und erfreut ich geworden, ist unmöglich.
Ihnen muss, was ich empfinde, wenn ich an den herrlichen,
feurigen, reichbegabten, gefühlvollen, sanften und natürlichen
Knaben denke, wie Unsinn vorkommen, wenn ich Worte finden
könnte, es auszudrücken. Aber nein, Ihr fülilt es wohl, Sie,
liebe Mutter, fühlen es im Mutterherzen und sind dankbar gegen
die Vorsehung, die Ihnen solche Eünder und diesen Sohn ge-
geben ! Das ist ein Künstler in der vollsinnigsten Bedeutung,
selten hohe Fähigkeiten bei dem edelsten, weichsten Gemüth!
Wenn Gott diesen Knaben erhält, so werden nach langen,
langen Jahren seine Briefe einst Epoche machen ; bewahren Sie
sie wie ein Heiligthum, sie sind ja schon jetzt durch den Aus-
druck des kindlichsten, reinsten Gemüths heilig. — Wie muss
110 Abraham Mendelssohn Bartholdy.
es so schön gewesen sein, den Knaben so offen und zuthnlich
mit dem edlen Greise, dem Altvater Göthe, zu sehen. Was
wir in unsrer Jugend so oft träumten, wie erfreulich es sein
müsste, in Göthe's Nähe zu leben, das ist nun an Felix in Er-
füllung gegangen, sowie auch die jugendlichen und unaufliör-
lichen Bass-Triller des Vaters zum ausserordentlichen Talent
in dem Sohne gereift sind. Ich danke Gott dafür, dass er Euch
das Glück gewährt, es zu erleben, was unsere arme Mutter
nicht ahnte, wenn sie ungeduldig über Dein ewiges Singen,
lieber Abraham — es waren damals die Chöre der Athalia
von Schulz — ausrief: „Wie mies ist mir vor tout Vunivers!^^ —
Der weitere Lebenslauf Abraham Mendelssohn Bartholdy's
greift so in den seiner Kinder ein, dass wir ihn von hier an
im Zusammenhang mit diesem betrachten wollen.
Wilhelm Hensel
Es mnss hier ein Ereigniss erwähnt werden, das, so fern
liegend es auch dem Anschein nach ist, doch auf die Lebens-
schicksale der ältesten Tochter Fanny vom endscheidendsten
Einfluss werden sollte. Im Januar 1821 waren der Grossfürst
Thronfolger Nikolaus von Russland und seine Gemahlin in Berlin,
bei welcher Gelegenheit grosse Hoffestlichkeiten stattfanden.
Am 27. gab es lebende Bilder und pantomimische Darstellun-
gen, zu denen als Gegenstand das damals neue und die Runde
durch Europa machende Gedicht von Moore, Lalla Rookh, ge-
wählt war. Die dabei entwickelte Pracht, die Fülle der Edel-
steine und Perlen, die kostbaren Stoffe und Waffen, die Ver-
einigung der schönsten und vornehmsten Personen machten das
Fest zu einem seltenen, genussreichen. Als die Vorstellung,
vorbei war, rief die Darstellerin der Lalla Rookh — die Gross-
fürstin selbst — seufzend aus: „Ist es nun wirklich vorüber?
Und soUen andere, sollen spätere Zeiten keine Erinnerung an
diesen glücklichen Abend haben?" Der König hörte es, und
wie man sonst nach Gemälden lebende Bilder stellt, so beschloss
er, die lebenden Bilder durch den jungen Künstler, der sie ge-
stellt, in einem Prachtwerk malen zu lassen ; alle Mitwirkenden
Sassen zu ihren Portraits. Wilhelm Hensel stellte das vollen-
dete Werk, ehe es an seinen Bestimmungsort Petersburg für
die Grossfürstin abging, einige Tage in seinem Atelier aus und
lernte dort Fanny Mendelssohn Bartholdy, seine spätere Gattin
112 Wilhelm HenseL
kennen, die mit iliren Eltern sich eingefunden hatte, die schönen
Zeichnungen zu bewundern.
Wenn wir der Vorgeschichte dieses Künstlers nachspüren,
so ist es eine ganz andere Atmosphäre, die uns umweht, fast eme
andere Welt als die bisher geschilderte. Alle Anschauungen, Be-
griffe, Bildungsbedingungen sind andere, ja die Menschenrace ist
eine wesentlich verschiedene. Hatten wir es bis jetzt mit einer
Familie rein jüdischen Stammes zu thun, mussten wir nach
Palästina zurückblicken, um die Wurzeln des Geschlechts zu
finden, zeigte sich der kosmopolitische Charakter des Juden-
thums in den Wanderungen durch mancherlei Städte und Länder,
in denen wir die Vorfahren antrafen, in Dessau, Berlin, Paris,
Hamburg, war die Gesinnung zwar ein echt deutsche, die Bil-
dung aber vielfach auf französischem Boden wurzelnd, so führen
die Ursprünge der Hensel'schen Familie auf die Ureinwohner
der norddeutschen Tiefebene zurück, der Typus ist entschieden
„christlich germanisch". — So waren die Existenzbedingungen
durchaus andere und Wilhelm Hensel und Fanny M. B.,
beide recht ausgeprägte Eepräsentanten ihrer Eacen, waren als
solche so verschieden wie möglich; und doch zeigte es sich, dass
ihre Naturen sich sehr harmonisch in einander fügten und er-
gänzten und in dieser Ergänzung, zu der jeder Theil so Ur-
eigenes brachte, sich ausserordentlich glücklich fühlten.
Wilhelm Hensel's Vater war ein armer Landprediger, zu-
erst in Trebbin, wo Wilhelm am 6. Juli 1794 geboren wurde,
dann in Linum, beides kleine dürftige Orte in der Nähe Berlins,
in den öden, traurigen Sandsteppen der Mark gelegen, letzteres
von endlosen Torfmooren umgeben.
Bei einem spärlichen Einkommen, unter den Drangsalen
der napoleonischen Bedrückungszeit, verstand er es, seine zahl-
reiche Familie ehrenvoll in der Welt zu erhalten. Er starb
früh, seine Frau aber lebte noch bis zum Herbst 1835 und
hatte das Glück, nach langen Jahren der Sorge und Entbeh-
ning, die sie während und nach dem Kriege in ihrem langen
Wittwenstande durchlebt, die beginnenden Erfolge und die
Verheirathung ihres Sohnes zu sehen.
Dieser zeigte von früh an grossen Hang zur Malerei. AUe
Wird Künstler. 113
freien Stunden brachte er damit zu, theils zu malen, theils die
Mittel dazu, die Farben, aus Früchten, Blättern, Wurzeln her-
zustellen; denn Farbenkasten gab es in Linum nicht, und die
Mittel hätten auch wohl nicht ausgereicht, um sie in der er-
forderlichen Menge anzuschaffen.
Es erschien den Eltern unmöglich, Wilhelm seinen glü-
henden Wunsch, Maler zu werden, zu erfüllen, er sollte ein
Brodstudium ergreifen und widmete sich mit schwerem Herzen
dem Bergfach. Doch wurde noch jede freie Minute auf die
Kunst verwandt, und das Glück wollte es, dass eines Tages
ein feiner Kunstkenner eine von Hensels Zeichnungen zu sehen
bekam ; er fand grosses Talent in dem Bildchen und als er er-
fuhr, dass der Autor reiner Autodidakt sei, redete er ihm dringend
zu, die Bergcarriere zu verlassen und Künstler zu werden.
Aber er Hess es dabei nicht bewenden, sondern verhalf auch
zu den nöthigen Unterstützungen während der ersten Jahre.
So war Hensel zwar für den Augenblick am Ziel seiner
Wünsche, indessen vorerst erndtete er nur Sorgen und Mühen :
denn die Unterstützung, die er bekam, war nur eine sehr ge-
ringe, und hätte kaum hingereicht, ihm selbst das Leben zu
fristen ; nun aber entstanden für den kaum den Kinder jähren Ent-
wachsenen Verpflichtungen und Verantwortungen der schwersten
Art. Sein Vater starb und er wurde das Haupt der Familie;
die Wittwe mit ihren Töchtern war zu ernähren, sie durften
nicht darunter leiden, dass er sein Bergstudium an den Nagel
gehängt — so musste denn die Kunst, die erst erlernt werden
sollte, sofort Brod geben. Er scheute vor keiner Arbeit zu-
rück: er zeichnete für Taschenbücher und Kalender Hlustrationen ;
er lernte radiren, um den Verdienst von den radiiiien Blättern
nicht mit einem Andern theilen zu dürfen, er musste dazu die
Nächte und den Schein eines dünnen Talglichtes zu Hülfe
nehmen und diese Nachtarbeit legte den Grund zu seiner späteren
Kurzsichtigkeit. Zu seinen selbstradirten Blättern gehören
namentlich hübsche Illustrationen der Arndt'schen Märchen.
Mitten in diese angestrengte Thätigkeit schallte der Auf-
ruf zum Kriege 1813. Wilhelm Hensel war keinen Augen-
blick zweifelhaft, was er zu thun habe, er eilte als einer der
Die Familie Mendelssolin. L C
114 Wilhelm Hensel.
ersten Freiwilligen zu den Fahnen, machte beide Feldzüge eh-
renvoll mit und wurde mehrere Male verwundet.
Er zog beide Mal in Paris ein und nahm nach Abschluss des
Friedens seinen Abschied, um noch einige Zeit dem Studium
der Kunstschätze in Paris widmen zu können.
Nach der zweiten Rückkehr aus Frankreich trat eine
Periode des Schwankens bei ihm ein, ob er nicht, statt
Maler zu werden, sich schriftstellerischen Arbeiten zuwen-
den sollte. Einige Freunde, namentlich Brentano, Chamisso,
Arnim, auch Tieck, suchten ihn dazu zu bewegen. Es waren
traurige Zeiten und schlechte Aussichten für einen jungen
Maler. Der Wohlstand fast aller Familien war schwer zer-
rüttet, die Meisten hatten alle Elräfte anzuspannen, um das zum
Leben Noth wendigste zu erwerben; die harte Noth der über-
standenen Zeiten hatte allen Sinn für das Eeich des Schönen
und den Schmuck des Lebens ertödtet, es war wenig Aussicht
auf die Beförderung der Künste. Von Privatleuten geschah
fast Nichts und der Staat, wenn er auch den guten Willen ge-
habt hätte, war auch nicht im Besitz der nöthigen Mittel. Das
poetische Talent Hensel's war keineswegs gering anzuschlagen
— indess die Liebe zur Malerei behielt die Oberhand und die
Dichtkunst blieb ihm nur „ Freundin und Gespielin". — Durch
alle Hindernisse hindurch setzte er seinen W^eg unverdrossen
fort. — Hier möchte der Platz sein, einzuschalten, was Bar-
tholdy in dieser Zeit in Eom that, um ganz ähnlichen Zustän-
den, die auch dort sich fanden, einigermassen Abhülfe zu
schaffen. Er spricht sich in zwei Briefen an seinen Sshwager
Abraham darüber folgendermassen aus:
Rom, 25. Decbr. 1816.
Von Veit kann ich Dir nichts als Gutes sagen. Er
ist ein tüchtiger und zugreifender Mensch; er arbeitet jetzt
am zweiten Karton für mein Zimmer, und es ist ganz unglaub-
lich, was er seit den paar Monaten, dass er das erste Frescobild ge-
macht, gelernt hat. Ueberhaupt sind diese Malereien eine wahre
Wohlthat für unsere Künstler gewesen, nicht wegen der Sum-
men, die ich in meiner Armuth ihnen bewilligen konnte und,
Casa Bartholdy in Rom. 115
wie mir um's Herz ist, ohne Eigennutz gegeben habe, sondern
wegen der Entwickelung ihrer Kräfte, zu der ich die Hand
geboten und nicht unverständig sie, ihnen selbst unbewusst,
gezwungen habe." —
6. Februar 1817.
«Du willst etwas Näheres von meinen Fresco-Gemälden
wissen? Vorläufig Folgendes: Als ich hierher kam, fand ich
viele deutsche und preussische Künstler von entschiedenen An-
lagen und Talenten, jedoch ohne Gelegenheit, sie auszuüben;
keine Arbeit, keine Bestellung, als miserable Buchhändler-
Zeichnungen und hin und wieder ein Portrait, oder bei denen,
die es drängte, zu schaffen, eine kleine, halbvollendete Kom-
position, oder Gemälde in Oel. Hieraus entstand nicht nur das
Uebel, dass man jene Künstler nicht kannte, sondern auch das
vielleicht grössere, dass sie sich selbst nicht kannten, welches
bei einer gewissen Schwärmerei und Einbildungskraft oft die
Wirkung hervorbrachte, dass sie sich selbst überschätzten.
Mich jammerte dieser Zustand, indem ich zugleich die Hülflo-
sigkeit und Unbehülflichkeit dieser Leute einsah. Auf offiziel-
lem Wege war nichts zu thun, mein Einfluss, etwas der Art
zu bewirken, unzureichend. Auch hätte ich nicht gewusst, was
zu fordern und wie mich bei der Barbarei, die für die Künste
zu Berlm herrscht, verständlich zu machen. Also musste ich
mich selbst Aufopfemngen unterziehen und auch wohl Krän-
kungen, die bei keinem Unternehmen, was mehr oder weniger
ins Ganze greift, zu vermeiden sind, gewärtigen, — und dazu
habe ich mich denn mit Freude und Muth entschlossen, sowie
mich mein Vaterland immer bereit finden soll, wenn ich ihm
nützlich sein zu können glaube.
Die Frescomalerei war die schicklichste, alle Zwecke zu
vereinen : 1) Ein bleibendes Denkmal der Arbeit, wenn sie ge-
riethe und zwar zu Rom, dem Mittelpimkt der Künstlerwelt,
wo die Wahrheit, ob etwas mittelmässig, trefflich oder schlecht,
sich bald entdeckt, 2) das Mittel für die Künstler, sich selbst
kennen zu lernen, und zwar in einem Genre von Arbeit, die
eine gewisse Schnelligkeit erfordert und nicht ewiges Retou-
chiren und Denken und Grübeln zulässt, 3) Grösse der Figuren
8*
116 Wilhelm Hensel.
und Gemälde, die Fehler und Schönheiten aufdeckt, 4) Zu-
sammenarheiten von mehreren jungen Künstlern, wo einer bei
dem andern wenigstens keine ganz palpabeln Sclinitzer durch-
lassen wird und die Emulation sie anspornt, 5) endlich Brod,
um ein Jahr lang ihrem Fache zu leben.
Das Lokal ist schön, helle, heiter, mit einer grossen Aus-
sicht über Eom. *) Weder in den Sujets (Wahl und Anord-
nung), noch in irgend etwas, was die Kunst betrifft, habe ich
meine Künstler genirt, beim Vorlegen der Skizzen jedoch habe
ich ihnen meine Kritiken freimüthig gesagt, von denen die
meisten angenommen worden sind. — Mein Kontrakt für die
auszumalende Wohnung läuft noch 4 Jahre. Nachher, sollten
auch meine Verhältnisse in Italien noch dieselben sein, werden
die nicht billigen Wirthsleute mich vermuthlich so steigern,
dass ich nicht werde bleiben können. Auf die Cartons habe
ich renoncirt. Die Copien im Kleinen schicke ich Sr. Majestät,
So habe ich den Künstlern und denen, die um die Sache wis-
sen, gezeigt, dass keine Art Interesse mich leitet. Der Eitel-
keit wird man mich auch nicht beschuldigen, denn ich ziehe
mich zurück, so gut ich kann, und werde hierin der Undank-
barkeit nicht entgehen. Grott weiss es, dass diese Ausgabe
mich drückt, und dass ich bei so vielen andern, die meine Lage
nothwendig macht, und bei meiner Unfähigkeit zur Oekonomie
manche Nacht nicht gut schlafe, aus Sorge wie ich das viele
Geld, was ich verbrauche, zusammenschwindeln soll; aber die
wahrhaft reichen Leute thun ja nichts, oder thun es unge-
theüt und für sich." —
Henriette schreibt an Lea Mendelssohn über diese Fres-
ken: „Veit, Schadow und noch ein andrer deutscher, ich glaube
gar Berliner junger Maler**) malen in diesem Augenblick für
Bartholdy Zimmer al fresco: Finden Sie das nicht recht in sei-
nem grossen Styl? Er sollte nur Pabst werden! Bartholdy
*) Es ist die noch heut nach ihm genannte Casa Bartholdy am
Monte Pincio.
**) Cornelius, Overbeck und Schnorr nahmen ausser den Oben-
genannten an der Arbeit TheU
Bartholdy. 117
der Erste und Leo der Zehnte, der so wie Bartholdy alles
Grosse und Schöne liebte, ohne viel zu rechnen!* —
Bartholdy selbst war, wenn auch nicht in den bildenden
Künsten, so doch in der Litteratnr thätig: er hat namentlich
eine Geschichte der Tyroler Erhebung gegen die Franzosen
geschrieben, die Inunermann zu seinem Trauerspiel „Andreas
Hofer" mit Nutzen studirt zu haben bekannte, und von der
H. Heine im 2. Band der Reisebilder sagt: Bartholdy's „Krieg
der Tyroler Landleute im Jahre 1809" ist ein geistreich und
schön geschriebenes Buch und wenn Mängel darin sind, so
entstanden sie nothwendigerweise dadurch, weil der Verfasser,
wie es edeln Gemüthern eigen ist, für die unterdrückte Partei
eine sichtbare Vorliebe hegte, und weil noch Pulverdampf die
Begebenheiten umhüllte, als er sie beschrieb.
Auch das Leben seines Freundes und Gönners des Car-
dinais Consalvi hat er geschrieben. Die schönen Sammlungen,
die er anlegte, sind schon oben erwähnt.
Ein solcher Freund und Beförderer der Künste fehlte da-
mals in Berlin, und da Bartholdy mit der Barbarei, die dort
für die Kunst herrschte, nur allzu Becht hatte, so waren die
berliner Künstler eben auf die jämmerlichen Subsistenzmittel
angewiesen, denen sie Bartholdy in Rom, soweit an ihm lag,
enthoben hatte — hauptsächlich auf „miserable Buchhändler-
zeichnungen." — So wie jetzt die Volkskalender, waren da-
mals die Taschenbücher an der Tagesordnung, und seine Ar-
beit für diese nahm Hensel eifrig wieder auf und lieferte auch
litterarische Beiträge. Endlich aber sollte sein Fleiss belohnt
werden; jene Lalla-Rookh -Zeichnungen machten ihn allgemei-
ner bekannt, und er erhielt von der preussischen Regierung
ein Stipendium nach Rom und zugleich den Auftrag, die Trans-
figui-ation von Raphael in der Grösse des Originals zu kopiren.
Diese Reise wurde für seine künstlerische Entwickelung ein
entscheidender Wendepunkt
Glücklicherweise war aber sein Deutschthum, die ganze
Richtung seines bürgerlichen Lebens vorher unverrückbar fest-
gestellt durch die Liebe zu Fanny. Eine förmliche Verlobung
gestatteten die Eltern aber nicht vor seiner Rückkehr. Sie
118 Wilhelm Hensel.
■wollten ihr Kind vor möglichen Enttäuschungen bewahren;
man kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie nach kurzer
Bekanntschaft Hensel's Charakterstärke und die Tiefe seiner
Liebe nicht ganz erkannten. Namentlich fürchteten sie einen
Uebertritt zum Katholizismus, und die Besorgniss war bei
seiner poetischen Natur, dem Vorgang seiner Schwester Luisa
und dem Kreise seiner oben erwähnten nächsten Freunde, die
allesammt katholisch waren oder mit dem Katholizismus be-
denklich liebäugelten, nicht so ganz ungerechtfertigt. Nur
Fanny hatte hierin, wie in allem Andern festes Vertrauen
auf ihn.
So musste er denn, ohne bestimmte Zusage, auf lange
Jahre wegziehn ; aber grade diese Unbestimmtheit, dies Unab-
geschlossene gab dem Verhältniss eine grosse Frische und
einen Reiz mehr. Vor der Heise zeichnete er noch die ganze
Familie und den Kreis der Nächststehenden und nahm mit
diesen Zeichnungen gleichsam geistig seinen Platz in dem
Kreise ein, dem er ganz anzugehören wünschte. Diese Bilder
und die Briefe von Lea waren in der ganzen Zeit seine einzige
Verbindung mit der Familie, denn auch emen Briefwechsel mit
Fanny hatte die gestrenge Mutter gänzlich untersagt. Ueber
die Gründe dieses Verbots spricht sie sich in einem Brief
folgendermassen aus:
^ Im Ernst, lieber Herr Hensel, können Sie mir
wii'kKch nicht böse sein, weil ich keinen Briefwechsel zmschen
Ihnen und Fanny gestatten will. Haben Sie nur die Billigkeit,
sich einen Moment an die Stelle einer Mutter zu setzen und
Hir Interesse gegen das meine zu tauschen, dann wird Ihnen
meine Weigerung natürlich, billig und vernünftig erscheinen,
statt dass Sie sie in Ihrer Heftigkeit mit den allerbarbarischsten
Namen belegen. Aus demselben Grunde, der kein Versprechen
zuliess, erkläre ich mich fest und bestimmt gegen jede
Korrespondenz. Dass ich Sie wahrhaft schätze, Ihnen sogar
herzlich gut bin, wissen Sie; ebenso dass ich gegen Ihre
Person nichts einwende: meine Gründe, mich bis jetzt nicht
für Sie bestimmen zu können, sind: die Ungleichheit des Alters
und das Ungewisse Ihrer Lage. Ein Mann darf nicht daran
Briefe von Lea Mendelssohn. 119
denken, sich zu verheirathen, bis seine Verhältnisse einiger-
massen gesichert sind, wenigstens darf er die Eltern des
Mädchens nicht schelten, welche, da sie Erfahrung, Vernunft
und kaltes Blut haben, für ihn und sie zu überlegen von der
Natur bestimmt sind. Der isolirte Künstler ist ein glückliches
Wesen, alle Zirkel stehn ihm offen, Hofgunst ermuntert ihn,
die kleinen Sorgen des mühseligen Lebens schwinden; heiter
und leicht übersteigt er die Klippen, welche Unterschiede der
Stände in der Welt aufgethürmt haben; er arbeitet, was und
v\deviel er will, sucht seine Lieblingsgegenstände in der Kunst
auf und schwärmt, das seligste, heiterste Wesen der Schöpfung,
poetisch in andere Sphären versetzt, einher ! Sobald Familien-
und Brodsorgen sich seiner bemächtigen, schwindet all' der
magische Zauber; er muss arbeiten, um die Seinigen zu er-
halten; das ganze liebliche Colorit ist farblos geworden! —
Ich strebte bei Erziehung meiner Kinder freilich dahin, sie
einfach und prunklos zu gewöhnen, um sie nicht zu zwingen,
reich heirathen zu müssen, aber eine gesicherte Existenz,
ein massiges, doch festes Einkommen sind in den Augen der
Eltern unerlässiiche Bedingung zum sorglosen Leben, und
wenn mein Mann auch jedem seiner Kinder eine hübsche Bei-
steuer geben kann, so ist er nicht reich genug, das ganze
Schicksal eines Jeden von ihnen festzustellen. — Sie beginnen
Ihre Laufbahn und zwar unter schönen Aussichten ; lassen Sie
diese verwirklicht werden, benutzen Sie Zeit und Gunst mög-
lichst, und seien Sie versichert, dass wir Ihnen nicht entgegen
sein werden, sobald Sie uns nach beendeten Studien über Ihre
äussere Lage beruhigen und sich genügend ausweisen können.
Schelten Sie mich vorzüglich nicht als eigennützig und geizig,
lieber gelinder Wüthikus! Sonst muss ich Sie erinnern, dass
ich meinen Mann geheirathet habe, ehe er einen Pfennig be-
sass. Aber er hatte ein sicheres, obwohl sehr massiges Ein-
kommen bei Fould in Paris und ich vnisste, dass er mein ihm
zugebrachtes Vermögen würde geltend machen können. Der
Ehrgeiz meiner Mutter war aber nicht zufrieden, dass ich die
Frau eines Commis werden sollte, und Mendelssohn musste
desshalb Associe seines Bruders werden, von welcher Epoche
120 Wilhelm Hensel.
sich Gottlob! beider Prosperität hersclu'eibt. — Fanny ist
sehr jung und dem Himmel sei Dank ! bis jetzt völlig harmlos
und ohne Leidenschaft. Sie sollen sie durchaus nicht in jene
verzehi^ende Empfindung reissen wollen und sie durch verliebte
Briefe in eine Stimmung schi^auben, die ihr ganz fremd ist
und die sie auf mehrere Jahre sehnsüchtig, schmachtend, ver-
zehrend machen würde, indess sie jetzt blühend, gesund, heiter
und frei vor mir steht."
Lea hielt ihr Wort und schrieb fleissig; freilich ein un-
genügender Ersatz für das, was Hensel sich wünschte. Aber
er wusste sich zu helfen; er verlieh seiner Kunst Worte, um
sich mit der zu unterhalten, der er nicht schreiben durfte.
Die reizenden Zeichnungen sind noch vorhanden, die er nach Berlin
schickte; in allen kehren die ideaUsirten, in poetischem Licht
und Gewand dargestellten Figuren des Mendelssohn'schen
Kreises wieder, in allen spielt Fanny die Hauptrolle. Solche
Huldigung war wohl unwiderstehlicher als der beredteste Brief.
Aber auch zu dem Mutterherzen war damit der richtige Weg
gefunden, wie zwei Briefstellea beweisen mögen:
^ Lassen Sie mich zuerst Dinen füi' das ^\lllkommene
Geschenk der Stammbuchzeichnung den längst schuldigen, doch
nicht minder herzlichen Dank aussprechen. Ich kann Thnen
nicht sagen, wie sehr die ausnehmende Schönheit der ausge-
führten Zeichnung und die feine zarte Idee derselben uns über-
rascht und gerühi't hat. Eine vergeistigte, ä la Hensel ver-
schönerte Aehnlichkeit mit meinen vier Kindern ist dem Auge
der Eltern nicht entgangen. Indessen haben sie sich seit Ihrer
Abwesenheit so verändert und vergröbert, dass jene idealistische
Zartheit nur iu der Erinnerung noch gleichen kann, wiewohl
Schadow's scharfer, für Aehnlichkeit unübertrefflicher Blick das
Original des Orgelspielers gleich entdeckte. Ich habe nicht
allein von Ihnen, sondern von Niemandem etwas Zierlicheres,
Sauberes, Anmuthigeres, Vollendeteres, Ausgeführteres in dieser
Gattung gesehen. Die Lieblichkeit der Gruppe, die dem Ernst
vermählte Grazie, der holde Kindesausdruck jedes Kopfes, dem
doch soviel Denkendes zugesellt ist, die Anordnung der vier
Engelein, über die eine wahrhaft Eaphaelische Cäciüe wacht.
Briefe Ton Lea Mendelssohn. 121
alles beweist zu meiner Freude aufs Neue, dass Sie sich den
ersten, reinsten aller Künstler zum Ideal ausersehen. — "
Berlin, 6. März 1826.
„Den besten Dank für das beste, reizendste Bildchen!
die Köpfe der Muse und der Sphinx sind so ausdrucksvoll, als
man es in so kleinem Eaume nicht ausführbar glauben sollte.
Wir sind aber sämmtlich zu dumm, den verborgenen Sinn des
Räthsels zu entziffern, obwohl jede Person und jedes Attribut
vollkommen deutlich erscheint. Kolorit, Gruppi ng, Anordnung
sind höchst anmuthig und graciös. Dass Sie meinem Liebling
Eaphael stets nachstreben, sehe ich wieder daran, und be-
wundere die Tiefe der dunkeln Augen, die sich trotz des sehr
kleinen Raumes offenbart. Herzlich wünschte ich aber, dass
Sie Ihre Zeit nicht durch so viele kleine Arbeiten zersplitterten.
Doch, Sie müssen am besten beurtheilen, wie die Eintheilung
und Fortsetzung des Angefangenen am füglichsten zu bewerk-
stelligen sei und welche Ruhepunkte der Künstler sich in den
Zwischenräumen zu gönnen habe. —
Vielen, vielen Dank auch für alle Mühe beim Ordnen der
Bartholdy'schen Sammlungen. *) Wäre dies Chaos nur erst
entwirrt! der Bericht über das Ablösen der Fresken ist sehr
interessant. Aus vielen Gründen werden wir aber keinen Ge-
brauch davon machen. Die Kosten wären für uns nicht allein
bei Weitem zu bedeutend für eine Liebhaberei, aber die Schwie-
rigkeit, derart grosse Bilder zu placiren, muss auch berück-
sichtigt werden und, unter uns gesagt, so interessant die
Fresken als Versuche und Erstlingsblüthen sein mögen, bleibt
doch die Frage, ob sie den Aufwand von Geld und Mühe ver-
dienten. Kui'z, lassen Sie uns nichts mehr davon erwähnen,
ebensowenig als von Frescobildem in unserem Hause hier.
Wenn ich auch Ihre gütige Absicht mit Dank erkenne, so müs-
sen Sie doch einsehen, dass das Genre solcher kostbaren und
zeitraubenden Ausschmückungen schlechterdings nicht für ein
Bürgerhaus passt; zuerst müssten wir jahrelang auf den Ge-
*) ßartholdy war kurz vorher gestorben.
122 Wilhelm Hensel.
nuss eines solchen Zimmer verzicliten, und wenn Sie eine kleine
Vorstellung von der Unruhe, dem Schmutz, dem Fracas und
den ungeheuren Kosten hätten, die das leider viel zu grosse
Haus*)uns noch täglich verursacht und bis spät in den Som-
mer hinein machen wird, so würden Sie meinen Schauder bei
dem blossen Gedanken an neues Abreiben der Wände, an Kalk,
Gerüste u. s. w. begreifen. Dazu finde ich in jetzigen Zeiten,
wo alles Eigenthum flüchtig ist und höchst selten auf die
zweite Generation gelangt, sich etwas Kostbares anmauern und
dadurch unbev>^glich machen zu lassen, einen wirklich unver-
antwortlichen Eingriff in die Rechte der Nachkommen. Was
meinem Bruder als TJnverheirathetem und im Lande der Künste
Lebendem wohl anstand, wäre strafwürdig an meiner Stelle,
die keines ihrer vier Kinder versorgt weiss. Wir leben auf ei-
nem so liberalen Fusse und mein Mann hat eme so grosse
Freude am Weggeben, dass man uns unstreitig für viel rei-
cher hält, als wir siud.
So viel Verdiaiss und Unruhe mir nun auch der Besitz
unseres so äusserst kostspieligen Grundstücks verursachte, so
ist es doch vielleicht der Summe, die mein Mann hineingesteckt
hat und die sich weit höher belief als wir geglaubt, meisten-
theils zuzuschreiben, dass sein Verlust in der jetzigen schreck-
lichen Zeit nicht noch bedeutender geworden. Hier allein sind
18 Häuser gefallen, worunter die festgegründetsten, in Leip-
zig der berühmte Eeichenbach, in London der auf viele Mil-
lionen geschätzte Goldschmidt. Bekannte von uns sitzen im
Gefängniss, andere haben sich das Leben genommen; die Zer-
störung, Muthlosigkeit, der gegenwärtige Euin und die trübe
Aussicht für die Zukunft sind nicht bange genug zu schildern.
Eothschild's Wuth nach ungeheuren Geschäften wird es haupt-
sächlich zugeschrieben, dass der Massstab in der handehiden
W^elt sich riesenmässig gesteigert hat und, wie alles auf die
höchste Spitze Gestellte, endlich sinken musste."
Hensel benutzte seine Zeit in Italien, von der er den über-
wiegendsten Theil in Eom zubrachte, vortrefflich. Vor allen
Dingen war die Copie der Transfiguration eine nicht hoch ge-
nug zu schätzende Schule für den Maler. Die Arbeit an der
*) Leipzigerstrasse 3. S. weiter unten S. 139. ff.
Bückkehr nach Deutschland. 123
Copie nahm nahezu 4 Jahre in Anspruch; sie begann mit ei-
ner gründlichen Eeinigung des Originals, bei der eine Masse
unter einer Kruste von jahrhundertaltem Schmutz versteckt
gewesener Details zum Vorschein kamen. Das Bild hat im
Eaphaelsaal in Sanssouci seine Stelle gefunden.
Ausserdem beschäftigte ihn ein grosses eigenes Bild „Chris-
tus und die Samariterin", das in den Besitz des Königs von
Preussen überging.
Nach fünfjälirigem Aufenthalt verUess Hensel Italien, das
ihm trotz seiner Sehnsucht nach Deutschland sehr lieb gewor-
den war, und das er stets als sein zweites Vaterland betrach-
tete. In einem kleinen zweirädrigen Wägelchen, wie man es
in Italien zu schnellen Reisen brauchte, eilte er, ohne Unter-
brechung Tag und Nacht fahrend, über die Alpen, dann auf
die schnellste Weise nach Berlin. Er wurde belohnt; Fanny
war noch frei; auch sie hatte ereignissreiche, für ihre Ent-
wickelung wichtige Jahre erlebt.
Wir verlassen hier den Lebenslauf Hensels dessen Fort-
setzung sich weiterhin dem der Familie Mendelssohn Bartholdy
anschüessen wird.
Die Schweizer Reise.
Am 6. Juli 1822 mitemalim Abraham M. B. mit der gan-
zen Familie eine Reise nach der Schweiz. Die Gesellschaft
bestand aus den Eltern, den 4 Kindern im Alter von 16, 13,
11 und 9 Jahren, dem Hauslehrer Heyse, einem Dr. Neuburg,
nebst einigen Dienstboten. In Frankfurt a. M. gesellten sich
noch zwei sehr geistvolle muntere junge Mädchen hinzu Marianne
und Julie Saaling die nachherige Frau Heyse's. Eine solche
Reise war damals etwas ganz Aussergewöhnliches. Eine Reüie
sehr ausführlicher Briefe von Fanny an eine Freundin gerich-
tet, schildert uns die Erlebnisse auf das Anschaulichste. Gleich
am ersten Reisetage — von Berlin bis Brandenbrn^g — fiel
ein kleines Reiseabenteuer vor: Felix wurde in Potsdam ver-
gessen. In jedem Wagen glaubte man bei der Abfahrt, er be-
finde sich in dem andern und erst auf der ersten Station hinter
Potsdam, Grosskreuz, 3 starke Meilen entfernt, bemerkte man
seine Abwesenheit. Der Hauslehrer fuhr sogleich zurück und
die Gesellschaft hatte sich auf 4—5 Stunden Aufenthalt gefasst ge-
macht, iudess schon nach Verlauf einer Stunde kam Heyse mit
dem verlorenen Sohn wieder an: er war in Potsdam gerade
gekommen, als die Wagen abgefahren waren, und lief sogleich
nach, auf der Chaussee lange zwar den Staub der Wagen im
Auge behaltend, aber nicht im Stande, sie zu erreichen. Indes-
sen wanderte er immer fort und hatte sich vorgenommen, nach
Brandenburg zu folgen. Ein Bauernmädchen gesellte sich zu
Frankfurt a. M. 125
ihm, sie brachen sich starke Stücke ab und gingen getrost wei-
ter, bis Heyse eine Meile von Grosskrenz Felix fand. Sein gu-
tes und entschlossenes Benehmen (vielleicht auch die unerwartet
frühe Erlösung vom Warten) ersparte ihm den zugedachten
Verweis. Die zweite Tagereise — sie war sehr ermüdend —
ging bis Magdeburg.
Nach einem Abstecher in den Harz reisten sie über Göt-
tingen, wo Eebecka 36 Jahr später ihr Leben beschliessen
sollte imd wo die Bekanntschaft Blumenbach's gemacht wurde,
nach Kassel, wo mit Spohr ein lebhafter musikalischer Verkehr
stattfand. In Frankfurt „war grosse Conferenz von Vater,
Dr. Neuburg und H. Heyse wegen des Weges, der zu nehmen
sei. Noch habe ich nichts erfahren, aber sie behaupten, nie
sei eine Eeise so eingerichtet worden."
In Frankfurt gab ihnen Aloys Schmitt eine Musik, die
Fanny folgendermassen beschreibt: „Mit welcher Sehnsucht
dachte ich an Henning, an Rietz, an Kelch, Eysold etc. Du
glaubst nicht, wie die lieben Leute uns die Ohren voUgerakelt
haben. Da kam zuerst ein VioUnspieler aus Paris, Femy,
Schüler von Baillot, der einen grossen Euf hat. Aufrichtig
gesagt, gefiel er mir nicht im geringsten. AUes weich, ver-
schwommen und verwischt, keinen Strich, keinen Ton, keine
Kraft. Felix war meiner Meinung. Dann begleiteten sie dem
armen FeUx sein Quartett. Mein einziges Vergnügen dabei
war, Physiognomik zu studiren. Dann musste ich etwas spie-
len — und nun heiss mich nicht reden, heiss mich schweigen.
Das ganze Zimmer voU wildfremder Menschen, Schüler und
Freunde von Schmitt, die Begleitung sehr schlecht, ich zitternd
an jeder Fiber, warf so komplett um, dass ich vor Aerger
mich und die Andern hätte prügehi mögen. Mich vor zwanzig
Klavierspielern so zu blamiren! Ich gehe darüber hinweg,
sonst erhitze ich mich wieder. Dann spielte Femy noch ein
Quartett und zuletzt Schmitt's jüngerer Bruder Variationen von
seiner Komposition. Schmitt hat eine gar nette Baumschule
um sich: der jüngere Eliot aus Strelitz war auch hier und
Ferdinand Hiller, sein Lieblingsschüler, ein schöner Knabe von
10 Jahren, mit freiem und offenem Aeussern."
126 Die Schweizer Reise.
Von Frankfurt zog nun die ganze lustige Karavane dem
Süden zu, über Darmstadt und Stuttgart nach Schaifhausen.
Die beiden Saaling'schen Mädchen, übersprudelnd von Witz und
Laune, trugen nicht wenig zum Aufrechthalten des unumgäng-
lichen guten Reisehumors bei. „Das Lachen nimmt kein Ende",
schreibt Fanny, „und namentlich des Abends beim Schlaf engehn
(ich schlafe immer mit ihnen) siud sie ganz einzig. Marianne
hat überall Bekannte und wii'd, wo sie hinkommt, mit Ent-
zücken aufgenommen. — Eben sitzen wir alle beisammen und
schreiben; es kann im Bureau des Staatskanzlers nicht fleissi-
ger zugehn. Du glaubst nicht, wie es bei uns aussieht: Kraut
und Rüben sind ein Putzzimmer dagegen. Wir amüsiren uns
über alle Maassen, und wenn ich es Dir so zerstreut und un-
zusammenhängend schreibe, so beschuldige nicht mich. Es ist
ein schrecklicher Spektakel hier im Zimmer." —
Am Gotthard wurde umgekehrt und die stillen Hoffnungen
von Fanny auf einen Blick nach Italien waren für diesmal
gestört. Sie schreibt:
„Ich habe einen Tag erlebt, Marianne,*) einen Tag, der ewig
unauslöschlich in meinem Innern steht, dessen Andenken für
lange hinaus auf mich wirken wird. In Gottes grösste Natur
bin ich getreten, das Herz hat mir gebebt vor Schauer und
Ehrfurcht, und als ich wieder beruhigt, das menschlich
Schönste, das anmuthig Lieblichste erbückte, als ich an der
Grenze von Italien stehe, da ruft mein Schicksal: bis da-
hin und nicht weiter. Nie, nie habe ich solche Empfindimg
gehabt, inniger Dank gegen Gott, der mich diesen Tag hatte
erleben lassen, Sehnsucht nach dem, was mir die Berge ver-
hüllten, feste Vorsätze, die ich in meinem Innern fasste, aUe
diese Gefühle vereinigt strömten aus in heissen, wohlthätigen
Thränen. Gestern Abend wollte ich nicht an Dich schreiben,
Du siehst mich nicht gern allzu heftig gestimmt; ich war exal-
tii-t, aber ich behielt's für mich, ich wollte warten, bis ich ru-
higer wäre, aber noch jetzt, bei der Errinnerung an gestern
*) Marianne Mendelssohn, die Gattin von Alexander Mendels-
sohn, dem Sohn von Joseph.
Gotthard. 127
und heute früh, wird mir das Herz weit und gross, verlässt
mich alle Euhe. — Ich will versuchen, Dir in möglichster
Ordnung zu erzählen, was ich gesehen, was ich erlebt.
Gestern früh um 7 Uhr fuhren wir bei etwas bewölktem
Himmel von Altdorf ab, dem klaren Himmel zu, nach Süden.
Bürglen und das Schächenthal links lassend, kamen wir in's
Eeussthal, welches hier mit hohen Felsen umschlossen, aber
sehr breit und überaus fruchtbar ist. Nussbäume, andre
Fruchtbäume und Tannen von ausserordentlicher Schönheit.
Man fährt an einem Thurm Gessler's und der alten Veste
Zwing Uri vorbei. Links die Surenengletscher, Windgalle,
Bristenstock und andere Schneeberge und Gletscher. Auf den
vorderen Bergen herrliche Alpen sichtbar. So, in mannig-
faltiger wechselnder Umgebung, gelangt man nach Amstäg,
3 Stunden von Altdorf, am Fuss des Gotthard. Hier be-
ginnt die neue Gotthardstrasse , welche diesseits 2 Stunden
weit bis Wasen fahrbar und auf der Tessiner Seite fertig ist.
Die Strasse ist bald rechts bald links von der Reuss in den
Felsen gesprengt, trefflich gebaut und durch Mauern gesichert,
üeber die Abgründe wölben sich kühne Brückenbogen. Ein
Riesenwerk und ewiges Denkmal für die Kantone Uri und
Tessin. Es ist erhebend, zu sehn, wie menschliche Beharr-
lichkeit den Willen der Natur beugen kann. Hinter Wasen
hört allmälig die Vegetation auf, das Thal verengt sich mehr
und mehr, immer schroffer steigen die Felsen, immer wilder
braust die Reuss. Bei Göschenen, dem einzigen Dorf auf dem
ganzen Wege, zeigt sich zur Linken der Reuss, der furchtbare
Göschener Alpgletscher; er war der erste, dem wir so nahe
traten. — Sobald man die Schöllenen erreicht, verschwindet
die letzte Spur von Leben und Nähe der Menschen. Rings
umher siehst Du nichts als himmelhohe Felsen, zwischen
denen sich die Reuss ihr furchtbares Bette gebrochen hat.
Hier verliert sie ganz das Ansehn eines Stromes, sie bildet
einen fortdauernden, wüthenden Wassersturz. So steigt das
Entsetzen mit jedem Schritt, bis es endlich an der Teufels-
brücke seinen höchsten Gipfel erreicht. Du befindest Dich in
einem vollkommen geschlossenen Felskessel, vor Dir, in mehreren
128 Die Schweizer Reise.
Absätzen herunterstürzend, die ungeheure Wassermasse, hoch
darüber wegführend die schmale, aber sichere Brücke. Der
schneidende Wind, der gegen Abend hier weht und Gletscher-
wind heisst, die hier und da hervorblickenden Schneespitzen,
die Dämmerung, welche in diesem Höllenthal zu herrschen
begann, jede Umgebung trug bei, den Schrecken zu mehren.
Wenig aufwärts von der Teufelsbrücke ist das Urner Loch,
ein Felsendurchgang von etwa 80 Fuss, und am Ausgange
dieses Thores blieb ich wie versteinert über das Wunder,
welches ich erblickte. Ausgebreitet vor meinen Augen ein
liebliches stilles Thal mit den üppigsten Wiesenteppichen, an
beiden Seiten eingefasst von grünen Hügeln, einzelne Hütten
darüber hingestreut, im Hintergründe das anmuthige Dorf
Andermatt und Ursern, auf der Höhe eine Kapelle, aus der
mir die stille Abendglocke entgegentönte, rechts der Gotthard,
dessen Gipfel sich klar in der blauen Luft zeichnete, links
der St. Annengletscher, grünlich glänzend mit einer Fort-
setzung von Schneebergen. Seitwärts die Furka mit ihrem
Gletscher, der Gotthardgletscher und der Crispalt, aus dem
der Ehein entspringt. Verschwunden das wilde Tosen des
Stroms, der hier schnell aber ruhig über den Felsenboden
gleitet, verschwunden jede Spur des Entsetzens, welches mich
noch eben umgab. Rings um mich her Ruhe, tiefer Frieden,
welcher nie aus diesem stillen Thal zu weichen scheint. Es
war ein unvergesslicher Eindruck! —
Wir gingen noch einige hundert Schritt weit über die
Wiesen, um den Annen gletscher besser zu betrachten, die
Kälte nöthigte uns bald zur Rückkehr. Die einzigen Kenn-
zeichen einer höheren Luftregion sind eben diese kalte Luft,
die man einathmet, und der Mangel an Vegetation. Weniges
Nadelholz steht in der Nähe von Andermatt, sonst ist der
Erdboden nur mit üppigen Wiesen bedeckt. Das was man
nicht sieht, wirkt nicht weniger heftig auf das Gemüth, als
die sichtbaren Umgebungen, — die Idee des Landes, welches
hinter jenen Gebirgen beginnt, ja selbst die fühlbare Nähe
Italiens, der kleine Umstand, dass die Landleute alle in
Italien waren, italiänisch reden und den Wanderer mit den
St. Gotthard. 129
süssen Lauten der lieblichen Sprache hegrüssen, rührte mich
unendlich. Wäre ich an diesem Tage ein junger Bursche
von 16 Jahren gewesen, bei Gott! ich hätte zu kämpfen ge-
habt, um keinen dummen Streich zu begehen. Und wenn mich
auf der einen Seite die heftigste Sehnsucht nach Italien trieb,
so hatte ich auf der andern den grössten Wunsch, über Furka
und Grimsel nach dem Hasüthal zu gehen, eine Eeise, die wir
leicht hätten machen können, wenn wir uns vorher darauf
eingerichtet hätten. Den ganzen Tag hatte ich die Möglich-
keit berechnet, noch Abends, wenn auch allein mit Dominique*),
auf den Gotthard zu steigen, es sind nur noch 3 Stunden von
IJrsernthal, aber es war nicht möglich, ich musste mich be-
scheiden. — Abends, allein auf meinem Zimmer, verlebte ich
eine Stunde, die ich nie vergessen werde. — Gestern früh
wurde mir der Abschied sehr schwer. Es wollte mir garnicht
in den Sinn, das liebliche schöne Thal zu verlassen, wieder
nördlich zu reisen, wieder in die schreckliche Wildniss zu gehen
und das betäubende Geräusch des Stromes zu ertragen. In der
Morgenbeleuchtung war das Thal unendlich reizend, die kleine
KapeUe Mariahilf war schön beleuchtet, die Matten glänzten
im Thau, die Gletscher waren mit grünlichem Licht überstrahlt,
der Gotthard erhob sein Haupt in die reine Luft, nichts glich
der Ruhe dieser Morgenfeier, ich kann Dir nicht sagen, wie
bewegt ich war: und nun aU dieser holden Anmuth den Rücken
wendend, wieder durch die Schauerhöhle, in die wilden Schluchten.
Allein auch diese verloren in der Morgenklarheit von ihren Schreck-
nissen, uns wenigstens imponirten sie lange nicht so, wie am
Abend vorher.
Ich ging einen grossen Theil des Weges ganz allein, mir
still überdenkend, was ich gesehen und was mir das innerste
Gemüth so sehr bewegt. — Von fernher vernahm ich die Morgen-
glocken aus dem Dorfe Göschenen, ihr Klang war gar feierlich
und schön und der Gletscher hinter dem Dorf vom hellsten
Sonnenlicht beschienen. Ich muss einige wunderschöne Mädchen
erwähnen, mit welchen wir uns In Wasen unterhielten. — Wir
*) Der Führer.
Die Familie Mendelssolm. L 9
130 Die Schweizer Reise.
fuhren über Bürglen zu Hause, wo wir noch einmal Tell's Ka-
pelle und den alten, mit Epheu bewachsenen Thurm besuchten
und uns im frischen Schatten der Nussbäume von der Hitze
erholten. Das Thal ist auch ungemein schön und romantisch.
Mit Marianne, H. Heyse und Kebecka ging ich dann einen
schönen Fusspfad nach Altdorf zurück." —
Ueber Interlaken, mit den Ausflügen nach der Wengern-
Alp in's Haslithal, zum Staubbach meist bei schlechtem Wetter,
ging's an den Genfer See nach Vevey. Hier blitzte noch ein-
mal die Hoffnung einer Ueberschreitung der Alpen, eines Blickes
nach ItaUen auf, und wieder jubelt Fanny bei dem Gedanken
aus voUer Seele:
„Heut schreibe ich Dir wieder in einer Art von Trunken-
heit! Es scheint mir, als habe ich noch nie etwas Schöneres
gesehen, als diese Gegend, diesen See. Dazu ist heut das gött-
lichste Wetter, und wenn es so bleibt, fahren wir übermorgen
früh nach den Borromäischen Inseln. Denke Dir! Nach den
Borromäischen Inseln ! — Ich danke dem Himmel, dass da die
Grenze ist, denn gingen wir weiter, ich glaube, ich hielte es
nicht aus. Zuviel auf einmal für mein armes Menschenherz.
Wenn der Himmel uns ferner gutes Wetter giebt, so machen
wir eine Keise! Du brauchst nur auf der Karte unsern
Weg zu verfolgen, um zu sehen, wie wir vom See ab in's
Wallis, bei Leuck vorbei, über den Simplon nach dem Lago
maggiore gehen, und Du wirst begreifen, dass mir zu Muthe
ist, als sollte ich auf Wolken in's Paradies getragen werden.
Ich weiss nicht warum? aber ich glaube immer, es muss uns
auf den Inseln irgend etwas Ausserordentliches, Unerwartetes
begegnen; ich bin in einer grossen, gespannten Erwartung. —
Kaum habe ich in meiner jetzigen Stimmung Muth und Lust,
Dir von unserm 3 tägigen Stadtaufenthalt in Bern zu sprechen,
allein der Ordnung wegen muss ich dazu zurückkehren, zu seiner
Zeit war er uns auch sehr angenehm." —
Man machte noch einen Abstecher in's Chamouny, dann
aber wurde die Rückreise angetreten, mit längeren Aufenthalten
in Frankfurt a. M., um Schelble's Bekanntschaft zu machen, der
den Cäcilienverein mit Meisterschaft leitete und wo Felix mit
Besuch bei Göthe. 131
Beifall phantasirte, und in Weimar, um die Göthe'sche Familie
kennen zu lernen, bei der Felix so freundliche Aufnahme während
seines Besuches mit Zelter gefunden hatte. Nie ermüdete Göthe,
Felix zuzuhören, wenn er am Klavier sass, und mit dem Vater
unterhielt er sich fast nur über Felix. Diesem selbst sagte er
eines Tages, als er sich über irgend etwas geärgert hatte: „Ich
bin Saul und Du bist mein David, wenn ich traurig und trübe
bin, so komm Du zu mir und erheitere mich durch Dein Saiten-
spiel!" — Eines Abends erbat er sich von Felix eine Fuge von
Bach, welche die junge Frau v. Göthe ihm bezeichnete. Felix
wusste sie nicht auswendig, nur das Thema war ihm bekannt und
dies führte er nun in einem langen fugirtenSatz durch. Göthe war
entzükt, ging zu der Mutter, drückte ihr mit vieler Wärme die
Hände und rief aus: „Es ist ein himmlischer, kostbarer Kjiabe!
Schicken Sie mir ihn recht bald wieder, dass ich mich an ihm er-
quicke.*—Felix seinerseits fühlte wohl den ganzen Werth einer sol-
chen Anerkennung; obgleich die Damen in Weimar sich die grösste
Mühe gaben, ihn zu verhätscheln und ihm zu schmeicheln, so hatte
er doch für nichts Sinn, als für Göthe's Liebe und Zufriedenheit.
Solche Erlebnisse sind in dem Alter, in dem Fanny und
auch schon Felix standen, ausserordentliche Bildungs- und Ent-
wickelungsmittel. „Die Wirkungen der Reise", schreibt die
erstere, „äusserten sich bei Felix unverzüglich nach unserer
Zurückknnft. Er war bedeutend grösser und stärker geworden,
Züge und Ausdruck des Gesichtes hatten sich mit unglaub-
licher Schnelligkeit entwickelt und die veränderte Haartracht
(man hatte üim seine schönen langen Locken abgeschnitten)
trug nicht wenig dazu bei, sein Anselin zu entfremden. Das
schöne Kindergesicht war verschwunden, seine Gestalt hatte
etwas Männliches gewonnen, welches ihn auch selir gut kleidete.
Er war anders, aber nicht weniger schön als frülier." —
Das grösste Literesse erregte die Eeise bei der Tante
Henriette in Paris. Mit ilirer leidenschaftlichen Natur erfasst
sie den Plan und begleitet die Reisenden in Gedanken und als
gewiegte Erzieherin weiss sie zugleich den Werth für die Ent-
wickelung der Kinder zu schätzen. Der eine Brief ist zu
charakteristisch, um ilin zu übergehen:
9*
132 Die Schweizer Reise.
„Liebste Lea, liebster Bruder, Kinder, Freunde — ich
möchte nur gleich Eure Dienerschaft auch zu denen, die ich
hegrüsse, rechnen, denn Euer Zug durch das so oft gepriesene,
nie genug gelobte Land macht mir eine so herzliche Freude,
dass ich Millionen umschlingen möchte. Sie aber, liebste Schwes-
ter, liess ich mir bei dieser AUerweltsumarmung 'pom^ la lonne
houche, denn ich habe Ihnen auf eine ganz besondere Weise zu
danken. Mehrere Briefe sind mir aus Berlin zugeschickt wor-
den, Briefe an Ihre Mutter, an Tante Levy, an Marianne und
diese verspricht, die noch fehlenden nachzusenden. Nicht nur,
weil man Ihre Briefe gleich könnte drucken lassen, liebe ich
sie, das wäre das Wenigste, aber weil sie ein wirkliches Band
für die zerstreuten Glieder der Familie sind. Von Ihnen geht
die Eegsamkeit aus, die diese (ich meine die Mr. Mendelssohn's
in der Familie) gemssermassen zwingt, sich bei aller Liebe
und Freundschaft nicht ganz zu vergessen! Dabei sind diese
lieben Briefe ein wahres — nicht mehr Panorama, sondern Dio-
rama, ein viel vollkommeneres Kunstwerk, das uns die Gegen-
stände in der möglichsten Wahrheit mit allen Veränderungen
an Licht und Schatten, wie sie das wechselnde Tageslicht her-
vorbringt, darstellt. Wir besitzen solches Kunstwerk jetzt in
Paris: eins der Gemälde stellt das Sarnenthal vor, einen See
und Gletscher in der Ferne. Mir war's, liebe Lea, als müsste
ich Sie am Ufer des Sees und die Uebrigen auf den umliegen-
den Bergen erblicken. Denn wem\ der wilde Jäger mit
seinem Heer von keiner Euhe wissen wiU, so bleiben Sie
doch gewiss in irgend einem freundlichen Thale imd lassen
sich's von den liebenden Kindern erzählen, wie es auf jenen Bergen
aussieht. Gehörte ich zu Ihnen, ich bliebe mit Ihnen, denn ich lobe,
oder weiss vielmehr nichts an den Bergen zu loben, als dass sie
Thäler bilden — ich habe nie einen bestiegen. — Nicht wahr^
Liebe, das hätten wir uns in unserer Wiege beim hohen Ofen
nicht träumen lassen, dass der Schnee auch etwas anderes bil-
den kann, als BaUen, oder wenn es hoch kommt, eine manns-
hohe Figur? Und wenn wir auch später Manches gelesen ha-
ben, wie verschwindet das vor dem Anblick solcher Schweizer-
Gegend! — Wie ganz anders wird die Seele erfüllt, erheitert
Brief von Henriette. 133
und znm lebendigsten Dankgefiihl erhöht auf jenem gesegneten
Boden, in jener reinen Luft und in Gegenwart der grössten
und zugleich der lieblichsten Naturscenen. Ich erinnere mich
in diesem Augenblick nicht, in welcher Gegend der Schweiz
der Besitzer eines schönen Eigenthums an einer Stelle, von
welcher man die herrlichste Aussicht geniesst, eine Säule mit
der Inschrift hat errichten lassen: ^Völker lobet den Herrn!"
— Mir schien das vortrefflich. —
Ich liebe Sie wahrlich noch besser. Hebe Lea, nun Sie über
diese Eeise Ihre Abneigung vor dem Eeisen abgelegt haben.
Es ist aber auch nicht möglich, sich etwas Angenehmeres zu
denken, als Eure Einrichtung und Gesellschaft. Nicht wie Zi-
geuner, aber ^^1e Fürsten, die zugleich Dichter und Künstler
wären, reist IluM — Wie werdet Ihr das wohlgeordnete, reiche
Berner Gebiet, wie den dunkelblauen Genfer See mit seiner
herrlichen Umgebung gefunden haben? Ich hoffe, Sie begnügen
sich, Uebe Lea, den Mont-Blanc mit Bu'er Lorgnette aus ei-
nem Fenster des Secheron zu bewnindem. Möchtet Ihr doch
meiner Meinung sein und die deutsche Schweiz vorziehen! Ich
mag die hohe Einfalt jener Gegenden viel lieber. Sie haben
doch wohl den Thuner See und Interlaken gesehen? —
Es war mir sehr angenehm, in Ihi^em Briefe an Ihre Mut-
ter Manches über Beckchen zu lesen. Fanny Sebastian! und
ich, wii' wollten eben Yorwüi^fe an Sie richten, dass Sie der
Kleinen nie erwähnen.
Nun, mein Felix! Du bist ja ein rechter Held! Deine Wan-
derung von Potsdam nach Grosskreuz hat mich recht gerührt!
Indessen hoffe ich, dass Du nach überstandener Probe Deines
selbstständigen Muthes und Deiner kräftigen Natur Dich dennoch
an ii'gend einem Eockzipfel hältst und Dich und die Deinigen
nicht mehr beunruliigst. Ich empfehle Dir ganz besonders ei-
nen gewissen Kuchenbäcker in Bern, der hinter der Haupt-
kii'che wohnt. Es ist kein Laden, sondern ein Zimmer im
untern Geschoss; Du wii'st mir für diese Empfehlung danken,
der Mann komponirt auf seine Weise herrliche Werke. Kaufe
Dir die Taschen voll und verzehre sie an einem hellen Morgen
auf der Plateform, wie sie's in Bern nennen, im Angesicht der
134 Die Schweizer Eeise.
herrlichen Schneegebirge des Oberlandes und freue Dich, wie
wir alle, die Dich lieben, Deines Daseins. Gott erhalte Dich,
mein brauner Felix! —
Du, meine liebste Fanny, solltest wohl einen eigenen Brief
haben, der Deine hätte es verdient. Du hast aber Besseres zu
thun, als mich zu lesen. Wie musst Du's Deiner lieben Mut-
ter danken, dass sie sich zu dieser Reise entschlossen, und wie
den Vater lieben dafür, dass er sie veranstaltet. Sei doch nur
recht froh und glücklich, und gelingt es Dir nicht, eigentlich
lustig zu sein, so tröste Dich mit Göthe's Ausspruch: „Auch
das Leben bedarf dunkler Blätter im Kranz." Geniesse recht
froh und unbefangen, ohne Dich zu sehr zu quälen, ob Du es
auch gehörig benutzest. Bei einem so trefflich vorbereiteten
Sinn, wie der Deine, kommt das eigentliche Resultat einer
Reise später, wie die Wirkung einer Badekur. — Gott erhalte
Dich gesund und froh.
Wie gern hätte ich Dir für diese Reise so ein lächerliches
Kleid geschickt, wie man es diesen Sommer in Paris trägt. Es
sind sehr weite, faltige Fuhrmannshemden, Blouse genannt, die
grade so me jene oben am Halse und auf den Schultern mit
bunten Stickereien verziert sind und gar keine Form haben,
sondern von einem ledernen Gurt unter der Brust festgehalten
werden. Du hast Dich mir aber als so korpulent geschildert,
dass. ich nicht den Muth hatte. Fanny Sebastian! trägt dieses
IJmstandes wegen auch kein solches Ding, denn bloss Kinder
oder Nymphen -Gestalten sehen erträglich darin aus.
Habe ich doch über allem Schwatzen keinen Raum, Dich,
mein dreimal glücklicher Altvater, auch nur zu begrüssen.
Nun bist Du ja recht in Deinem Element, wie Abraham der
Erste an der Spitze Deiner zahlreichen Familie durch das Land
ziehend! Und wenn ich nun denke, dass Du auch gar keinen
Grund zu irgend einer Beunruhigung zurückgelassen hast, son-
dern mit Deinen Augen über Alles wachen kannst, so bin ich
beinahe so froh, wie Du es sein musst. Nun, Gott behüte
Dich und die liebe Caravane." —
Leipziger Strasse No. 3.
Nach der Eückkehr trat Jeder wieder in seine gewohnten
Beschäftigungen ein, die fleissige Arbeit nahm ihren Fortgang.
In den nächsten Jahren entwickelte sich Felix' musikalisches
Talent mit raschen Schlitten und, mit dem seinigen zusammen,
das seiner Schwester Fanny. Die innige, neidlose Freund-
schaft der beiden Geschwister — „sie sind wirklich eins für
das andere eitel und stolz" — sagt ihre Mutter einmal, blieb
ungetrübt bis zu ihrem Lebensende. „Bis zu dem jetzigen
Zeitpunkt", schreibt Fanny 1822, „besitze ich sein uneinge-
schränktes Vertrauen. Ich habe sein Talent sich Schritt vor
Schritt entwickeln sehen und selbst gewissermassen zu seiner
Ausbildung beigetragen. Er hat keinen musikalischen B,ath-
geber als mich, auch sendet er nie einen Gedanken aufs
Papier, ohne ihn mir vorher zur Prüfung vorgelegt zu haben.
So habe ich seine Opern z. B. auswendig gewusst, noch ehe
eine Note aufgeschrieben war." — Felix' Thätigkeit war —
und blieb sein ganzes Leben hindurch — eine rastlose, denn
ausser der wissenschaftlichen Ausbildung verwandte er auch
aufs Zeichnen viel Zeit und Fleiss. Wenn auch seine Begabung
hierin natürlich seiner musikalischen weit nachstand, so brachte
er es doch für einen Dilettanten recht weit und vervoll-
kommnete sich namentlich in den späteren Lebensjahren sehr.
Von der letzten Schweizerreise im Jahre 1847 brachte er
Aquarellen mit, deren sich kein Künstler hätte zu schämen
136 Leipziger Strasse Nr. 3.
brauclien. Namentlicli aber seine musikaliche Eülirigkeit sclion
in jenen frühen Ejiabenjahren ist ausserordentlich, wie aus
einer kleinen ungedruckten Biographie Felix' von Fanny her-
vorgeht, der in jedem Jalir Verzeichnisse der komponirten
Stücke beigefügt sind. So z. B. lautet die Liste des Jahi^es
1822, in welches die grosse Eeise fiel, auf der doch gewiss
nicht viel Ai'beitszeit blieb: 1) Der 66. Psalm für 3 Frauen-
stimmen, 2) Concert a-moll für's Fortepiano, 3) 2 Lieder für
Männerstimmen, 4) 3 Lieder, 5) 3 Fugen für's Ciavier, 6) Quar-
tett füi- Ciavier, Geige, Bratsche und Bass (c-moll, in Genf
komponirt, erstes gedrucktes Werk), 7) 2 Symphonien füi-
2 Geigen, Bratsche und Bass, 8) Ein Akt der Oper: „Die
beiden Neffen", 9) Jube Domine (c-dur) für den Cäcilienverein
von Schelble in Frankfurt a. M., 10) Ein Violinconcert (füi-
Eietz), 11) Magnificat mit Listrumenten, 12) Gloria mit Listru-
menten. — Sein erstes öffentliches Auftreten fand statt in
einem Concert von Gugel am 24. October 1818, sein zweites
in einem Concert von Aloys Sclimitt am 31. März 1822. Ln
Jahre 1822 trat er am 5. December in Berlin in einem Con-
cert der Milder auf. In diese Zeit fällt auch die Stiftung der
„Sonntags-Musiken", die später bei Fanny Hensel eine so grosse
Ausdehnung ge\^ännen sollten. Vorläufig bei dem beschränkten
Lokal, welches den Eltern damals (auf der neuen Promenade)
zu Gebote stand, vereinigte sich eben nur der engere
Freundeskreis; hier wurden Felix' Compositionen aufgeführt;
die Kinder gewöhnten sich daran, vor Leuten zu spielen,
und hatten Gelegenheit, das Urtheil Anderer zu hören; schon
fand sich bei diesen Musiken ein, was von bedeutenden
fremden Musikern Berlin berührte. So im Jahre 1823 Kalk-
brenner, von dem Fanny schreibt: „Er hat viel von Felixens
Sachen gehört, mit Geschmack gelobt und mit Freimüthigkeit
und Liebenswüi'digkeit getadelt. Wir hören ihn oft und
suchen von ihm zu lernen. Er vereinigt die verschiedenartigsten
Vorzüge in seinem Spiel, Präcision, Klarheit, Ausdruck, die
grösste Fertigkeit, die unermüdlichste Kraft und Ausdauer. Er
ist ein tüchtiger Musiker und besitzt einen erstaunlichen üeber-
blick. Von seinem Talent abgesehen, ist er ein feiner, üebeas-
Felix' musikalische Ent Wickelung. Eeise nach Schlesien. 137
würdiger und selir gebildeter Mann, und man kann nicht an-
genehmer loben und tadeln."
Im selben Jahr im August machte Abraham mit den
Söhnen Feüx und Paul eine Reise nach Schlesien. Felix schreibt:
}, Hjuog d' TipiyivEia ^dvrj podo^dxTvXcg TjWg*) gingen
wir Alle zu Berner in die Kii'che. Er kam. Zuerst zog er
sich seinen Rock aus und eine leichte Weste dafür an; dann
musste ich ihm ein Thema aufschreiben und nun fing er an.
Er nahm das tiefe c im Pedal und dann stürzte er sich mit
aller Macht auf's Manual und nach einigen Läufen fing er ein
Thema auf dem Manual an, ich hatte keine Idee, dass man
es auf dem Pedal spielen könne, denn so war es:
doch bald fiel er mit den Füssen ein und führte es nun mit
Manual und Pedal durch. Nachdem er das Thema gehörig
durchgeknetet hatte, fing er das meinige im Pedal an, führte
es ein Weilchen durch, nahm es im Pedal in der Verlängerung,
setzte ein schönes Contrasubject dagegen und arbeitete die
beiden Themata prächtig durch. Er hat eine ungeheure Fer-
tigkeit auf dem Pedal. Als er geendigt, trank er einige
Gläser Wein, den er sich mitgebracht, imd setzte sich dann
wieder auf die Orgelbank. Nun spielte er Variationen in
Vogel'scher Manier, die mir, obwohl sie auch sehr schön waren,
doch nicht so gefielen, wie sein voriges Spiel.
Die Kirche füllte sich nach und nach an und die Leute
waren sehr verwundert, den Berner zu hören, denn er hatte
ganz Breslau weiss gemacht, er sei nach dem Bade gereist;
nun spielte er aber Orgel in St. Elisabeth, das konnten sie
sich nicht zusammenreimen. Nachdem er wieder ein Gläschen
getrunken, holte er Variationen von sich über den Choral „vom
Himmel hoch", die sehr schön sind. Die letzte Variation ist
eine Fuge, deren Thema der verkürzte Choral ist, er spielte
sie auf dem Mittelcia vier. Nun machte er Miene zu schliessen,
*) Citat aus Homer: Als die frühgeborene rosenfingerige Eos
emporstieg.
138 Leipziger Strasse Nr. 3.
brachte das Thema alla Stretta, schlug den Dominantenakkord
an nnd fing dann plötzlich auf dem Unterclavier, das gekoppelt
war, mit der ganzen Stärke der Orgel den einfachen Choral
an, modulirte noch prächtig auf der Melodie und schloss
so. Es machte einen himmlischen Effekt, als der Choral
mit aller Macht einschlug, die Töne strömten aus der Orgel
von allen Seiten her. Das griff ihn aber sehr an, so dass er
zwei oder drei Gläser Wein trinken musste. Doch bald setzte
er sich wieder hin und spielte Variationen auf God save the
King^ in denen er dies Thema phrygisch und dann aeolisch
behandelt, und gegen das Ende spielte er es auch mit voller
Orgel, was eine ebenso schöne Wirkung wie vorher that.
Somit war das Orgelconcert beschlossen und Berner sehr er-
müdet. Die Leute verliessen die Kirche und er gab der Flasche
Wein den Rest. Dann zeigte er mir das Innere der Orgel
selbst, Bomben und Granaten sind in sehr viele Pfeifen ge-
fahren, so dass sie unbrauchbar sind. —
Wir sprachen noch eine Weüe, Vater, er und ich. Berner
erzählte uns lustige Schwanke, die er ausgeführt, und dann
gingen wir essen, Berner mit uns. Beim Spielen steht ein
Chorjunge neben ihm, der üim die Register herauszieht oderhinein-
stösst, die Berner mitten im Spielen mit dem Finger antippt. —
Nun genug von Phrygisch, Aeolisch, Dominanten, Registern,
Pfeifen, Manual, Pedal, Ventil, 32 Fuss, Mixtur, Concert, Wein-
flaschen, Gläsern, Fugen und Verlängerungen.'' —
In Reinerz ward Felix aufgefordert, an einem Concerte
für die Armen sich zu betheüigen. Die Probe begann 3 Stunden
vor dem Concert und man legte Felix ein Concert von Mozart
vor. Nachdem man das erste Solo eine Stunde lang wieder-
holt hatte, sah Felix eia, dass es auf diesem Wege nicht gehen
würde. Der Contrabass, der zugleich die Stelle des Cellos ver-
trat, stimmte nicht, die meisten Instrumente fehlten ganz, und
der Rest, würdige Dilettanten des Städtchens, verstanden weder
zu spielen, noch zu pausiren; es war eine tolle Katzenmusik.
Er schlug also vor, zu phantasiren, Hess durch den Schul-
meister die Ursache dieser Veränderung bekannt machen, wählte
einige Themata von Mozart und Weber und spielte mit allge-
Zelter und Felix. 139
meinem Beifall. Gleich nach dem Concert reiste er ab und
empfing* noch heim Einsteigen in den Wagen von einem hübschen
Mädchen einen Blumenstrauss. „Eine Fürstin (so schreibt Lea
an Hensel in Rom), deren Gemahl fanatico per la musica ist,
lud sie dringend ein, mehrere Tage auf ihrer Herrschaft zuzu-
bringen und im Falle das nicht möglich sei, ihr etwas von Felixens
Komposition zu leihen, die sie mit eigenen hohen Händen ko-
piren wolle. Sie kennen den Hliberalismus meines Liberalen
zu genau, um nicht zu ahnen, dass solche Hofparthie nichts
für seinen freien Geist sei." —
Am 3. Februar 1824, an welchem Tage Felix 15 Jahr alt
wurde, war die erste Orchesterprobe seiner Oper: ,,die beiden
Neffen", zu der der später bekannte Arzt Caspar den Text
geschrieben hatte. Zelter benutzte diese Gelegenheit zu einer
kleinen, für ihn charakteristischen Feier. Als nach der Probe
beim Abendessen einer der mitsingenden Dilettanten Felix' Ge-
sundheit ausbrachte, nahm Zelter diesen bei der Hand und
stellte ihn vor die Gesellschaft mit den Worten: „Mein lieber
Sohn, von heut ab bist Du keiu Junge mehr, von heute an
bist Du Gesell. Ich mache Dich ziun Gesellen im Namen
Mozart's, im Namen Haydn's und im Namen des alten Bach."
— Dann fasste er den Knaben in setae Arme und drückte und
küsste ihn herzlich. Die Gesellensprechung Mendelssohn's wurde
dann noch durch Zelter'sche Lieder und Tafellieder froh ge-
feiert. Die Oper wurde im Eltemhause mit BeifaU aufgeführt,
iudess blieb sie doch nur ein Uebungswerk, wurde als solches
zurückgelegt und Felix machte sich sofort an die Composition
einer zweiten: „die Hochzeit des Camacho", die, jweit umfassen-
der angelegt, die bekannte Episode aus dem Don Quixote be-
handelt und deren Schicksal wir später kennen lernen werden. —
Im Jahre 1825 trat ein Ereigniss ein, das auf die Ent-
wickelung der Kinder, auf die ganze Gestaltung des Lebens
der Familie auf Generationen hiriaus vom bestimmendsten Ein-
fluss werden sollte und das auch deshalb zur üeberschrift dieses
Kapitels gewählt wurde: Abraham kaufte das schöne Grund-
stück Leipziger Strasse No. 3. In diesem wundervollen Hause
und Garten verlebten Abraham und Lea den Rest ihres Lebens,
140 Leipziger Strasse Nr. 3.
hier heirathete Fanny und lebte auch bis zuletzt hier. Allen
Mitgliedern der Familie war aber dies Haus nicht ein gewöhn-
licher Besitz, ein todter Steinhaufen, sondern eine lebendige
Individualität, ein Mitglied, theilnehmend am Glück der Familie,
es war ihnen und den Nächststehenden gewissermassen Reprä-
sentant derselben. In diesem Sinne brauchte Felix oft den
Ausdruck „Leipziger Strasse 3" und in diesem Sinne liebten
alle das Grundstück und betrauerten seinen Verlust, als es nach
Fanny's und Felix' Tode verkauft und — das Herrenhaus
hineinverlegt wurde.
Die Strassenfront des Hauses ist noch dieselbe wie damals.
Die Räume darin waren stattlich, gross und hoch mit jener
angenehmen Raumverschwendung gebaut, die in den Zeiten der
hohen Grundstückspreise den Architekten fast ganz abhanden
gekommen und für deren Werth kaum mehr das Verständniss
— oder die Mittel — vorhanden zu sein scheinen. Namentlich
war ein Zimmer nach dem Hof hinaus mit einem daranstossenden,
durch drei grosse Bogen damit verbundenen Kabinet wunder-
schön und zu Theatervorstellungen wie geschaffen. Hier wurden
denn auch viele, viele Jahre hindurch zu Weihnachten, Geburts-
oder andern Festen die reizendsten von Witz und Laune spru-
delnden Aufführungen veranstaltet. Für gewöhnlich war dies
Lea's Wohnzimmer. Man hatte aus den Fenstern desselben
die Aussicht auf den sehr grossen Hof, umgeben von niedrigen
Seitengebäuden und geschlossen durch die einstöckige Garten-
wohnung, über welche hinweg die Kronen der hohen Bäume
ragten. Diese Gartenwohnung hatten Hensels von ilirer Ver-
heirathung ab ione. Sie ist jetzt niedergerissen und hat dem
Sitzungssaal des Herrenhauses Platz gemacht. Die Wohnung
hatte im Winter grosse üebelstände : sie war kalt, feucht, jedes
Zimmer war Durchgang und keins hatte Gegenhitze, da das
Gartenhaus nur ein Zimmer tief war. Doppelfenster waren
damals in Berlin grosse Seltenheit, diese W^ohnung besass keine
und täglich strömten von den gefrorenen Scheiben grosse Wasser-
massen, die fortwälirend aufgewischt werden mussten. Ueber
eine Zimmertemperatur von 13° kam es im Winter selten. Dafür
aber war die Wohnung im Sommer bezaubernd schön. AUe
Hausankauf. 141
Fenster sahen nach dem Garten hinaus, in blühende Flieder-
büsche, in Alleen schöner alter Bäume, das Weinlaub die
Scheiben umrankend — und für alle Jahreszeiten hatte sie
andere grosse Vorzüge: namentlich die vollständige Ruhe und
Stille; durch den grossen Hof und das hohe Vordergebäude
wurde jeder Ton von der geräuschvollen Strasse abgeschnitten;
man lebte wie in der tiefsten Einsamkeit des Waldes und war
doch nur 100 Schritt von der Strasse entfernt. Kein
Vts-ä-vü als die herrlichen Bäume des Gartens, mit lustig
zwitschernden Vögehi und keinen Miether über, imter oder
neben sich; nach dem Strassenlärm tiefste, fast ländliche Stille
und Abgeschlossenheit und vor den Fenstern das Grün der Bäume.
Das Schönste an der Gartenwohnung war der grosse, in der
Mitte gelegene Saal. Derselbe fasste mehrere hundert Men-
schen und bestand nach dem Garten zu aus lauter zurück-
schiebbaren Glaswänden mit Säulen dazwischen, sodass er in
eine ganz offene Säulenhalle zu verwandeln war. Wände und
Decke, letztere eine flache Kuppel bildend, waren in etwas
barocker aber phantastischer Weise mit Frescobildem geziert.
Hier war das eigentliche Lokal, wo die Sonntagsmusiken ihre
volle Ausdehnung gewinnen soUten. Man genoss aus ihm den
üeberblick über den 7 Morgen grossen, parkartigen Garten,
der bis an die Gärten des Prinzen Albrecht reichte und, ein
Ueberrest des Thiergartens, der sich noch zu Friedrichs des
Grossen Zeiten bis hierher erstreckt hatte, einen grossen Reich-
thum der schönsten alten Bäume besass. Ueber den beabsich-
tigten Ankauf dieses Grundstücks schrieb Lea an Hensel nach
Rom (1. Februar 1825): ^Ist es Dinen nicht auch überraschend
gewesen, dass mein Mann ernstlich damit umgeht, sich hier
durch Kauf anzusiedeln? Das Grundstück, aus dem etwas sehr
Schönes werden kann, lockte ihn freilich. Das Haus ist zwar
ganz so verfallen und vernachlässigt, als es bei vielen Besitzern
(die V. d. Reck'sche Familie), die nie eines Sinnes werden und
nie Gemeingeist haben, stets der Fall ist, und es muss viel
verwandt werden, um es nur in wohnbaren Stand zu setzen.
Der Garten ist aber ein wahrer Park, mit herrlichen Bäumen,
einem Stück Feld, Rasenplätzen und einer höchst angenehmen
142 Leipziger Strasse Nr. 3,
Sommerwolinung, und dies allein tentirt meinen Mann sowohl
als mich." — Die Hausfreunde aber jammerten vorerst und
klagten, dass Mendelssohns soweit aus der Welt und in eine
so abgelegene todte Gegend zögen, wo das Gras auf den Strassen
wächst — denn das Potsdamer Thor war damals die „Ultima-
Thule", wo die Berliner Geographie aufhörte. —
In diesem Hause und Garten entfaltete sich nun ein äusserst
eigenthümliches, poetisches Leben; es bildete sich der Kreis
von Freunden, der mit wenigen Ausnahmen in persönlichem
oder brieflichem Zusammenhalten ausharrte, bis der Tod Einen
nach dem Andern abrief. Der Hannoveraner Klingemann, Diplo-
mat, eine sehr fein poetische Natur, Dichter des Liederspiels ,,die
Heimkehr", das nachher ausfühi'lich zu erwähnen sein wird, war
einer der bedeutendsten und treuesten aus diesem Kreise. Nament-
lich durch die späteren öfteren Aufenthalte von Felix und Hensel
in London, wo Klingemann bei der Gesandtschaft angestellt
war, und durch fortgesetzten, lebendigen Briefwechsel wurde
diese Freundschaft dauernd und fest geknüpft. Louis Heide-
mann, der Jurist, und sein Bruder, Wilhelm Hörn, der Sohn
des berühmten Arztes und selbst Arzt, der Violinspieler Rietz
und für längere Zeit vor allen Dingen Marx, damals Redakteur
der musikalischen Zeitung in Berlin, waren die intimeren Freunde
von Felix. Marx, äusserst genial, war Vorkämpfer der neuen
Schule in der Musik, die Beethoven's Fahne entfaltete, und hat
zu dem Bekanntwerden desselben viel beigetragen. Er fasste
innige Zuneigung zu Felix, mit jugendlichem Feuer suchten
Beide sich im Austausch Uirer anfänglich weit auseinander-
gehenden Meinungen näher zu kommen. —
Auch Moscheies hielt sich im Herbst 1824 in Berlin auf
und Felix erkannte wülig seine Ueberlegenheit in der Technik,
seine Grazie, Eleganz und Koketterie des Klavierspiels an und
lernte in dieser Beziehung von ihm, wenn er auch solchen
Virtuosenkünsten nie eine unbillige Herrschaft zugestanden
hat. Aber auch Moscheies würdigte Felixens Talent und es
knüpfte sich eine dauernde Freundschaft zwischen Beiden an.
Von sehr bedeutendem Einfluss war auch Spohr's Anwesenheit
auf ihn. Dieser war nach Berlin gekommen, um selbst die
Reise nach Paris. 143
Jessonda einzustudiren und trotz, oder vielleicht gerade wegen
der allergrössten Hindernisse, die Spontini ihm in den Weg
legte, nahm das Publikum Spohr und sein Werk mit um so
grösserem Beifall auf. Spohr war viel im Mendelssohnschen
Haus und die im Jahre 1822 in Kassel angeknüpfte Bekannt-
schaft nahm einen erfreulichen Fortgang.
Zu all diesen musikalischen Anregungen kam für Felix im
März 1825 eine Keise mit seinem Vater nach Paris, unter-
nommen, um Henriette nach Deutschland zurückzubringen. In
Paris war grade ein grosser Zusammenfluss bedeutender Musiker:
Hummel, Moscheies, Kalkbrenner, Pixis, Eode, Baillot, Kreuzer,
Cherubini, Eossini, Paer, Meyerbeer, Plantade, Lafont und viele
Andere trafen sich oft in einem Salon, in einer Loge. Aber
das Kleinliche, Hämische und Neidische so mancher dieser
Männer machte auf den ganz anders angelegten Felix einen
abstossenden Eindruck, wie er denn auch späterhin nie mit
Paris und dem dortigen musikalischen Wesen sich befreunden
konnte.
Dasselbe war in seinen guten sowohl, wie in seinen schlechten
Seiten seiner Natur zuwider. Das Streben nach dem Glänzenden,
Pikanten, nach dem Effekt Hess ihn kalt, das Intriguenwesen,
die Unbekanntschaft mit den grossen Meistern der Deutschen,
die Oberflächlichkeit der Arbeiten stiess ihn ab, durch das für
ihn persönlich sehr entgegenkommende Wesen der Musiker liess
er sich nicht bestechen. Nur mit Cherubini scheint er in ein
etwas näheres Verhältniss getreten zu sein.
In einem Brief vom 6. April sprach er sich mit grosser,
ihm sonst garnicht eigener Schärfe und Heftigkeit über Pariser
Personen und Zustände aus. Natürlich fehlte es nicht an
Widerspruch in den Antworten der Mutter und Schwester.
Einige Briefstellen mögen seine Auffassung der Verhältnisse
scliildern:
Felix an die Familie.
Paris, 23. März 1825.
„Wie soll ich es anfangen, am ersten Morgen, den ich in
Paris erlebe, einen ordentlichen, regelmässigen und vernünftigen
Brief zu schreiben? Dazu bin ich noch viel zu verwundert, zu
144 Leipziger Strasse No. 3.
neugierig, zu verdreht. — Da ich aber versprochen hahe, ein
Tagebuch nach Berlin zu senden, so falle ich also gleich mit
der Thür in's Haus und melde, dass wir gestern, 22. März
Ahends 8 Uhr, in Paris eingerückt sind. Als wir die Barriere
de Pantin passirt hatten, fuhren wir eine starke Viertelstunde
im schärfsten Trabe der tüchtigen Pferde durch einen neuen
Stadttheil von Paris, den Vater noch garnicht gesehen hatte
Das ist der Fauhourg St. Lazare. Es sieht zwar noch an manchen
Stellen sehr öde und confus da aus, doch meistentheils stehen
schon Häuser da. Wir kamen nun bald in die alte Stadt und
endlich auf den Boulevard. Das ist ein Leben und Treiben,
ein Easseln und Schnarren, ein Schreien und eine Lustigkeit
unter den Leuten; alle Läden sind mit Gas vollkommen er-
leuchtet und auch auf den Strassen verbreitet dies solche Helle'
dass man bequem lesen könnte. Es ist so laut und so hell da,
wie etwa bei einer Hlumination in Berlin. Leo und Meyer
besuchten uns ganz früh schon und schienen ganz verwundert,
dass ich mich ihnen nicht mehr auf den Schooss setzte, keine
Stühle umwarf, kein Geschrei machte u. s. w. Wir besuchten
nun Tante Jette und trafen sie schon auf der Strasse, auf dem
Wege zu uns. Ihr mildes, ernstes, lebhaftes und überaus gütiges
Wesen machte einen nicht geringen Eindruck. Und wie geist-
reich spricht sie! Wie freue ich mich darauf, sie Euch zurük-
zubringen." —
Den 1. April 1825.
„ Montag früh besuchte ich Hummel und fand bei
ihm Onslow und — Boucher; der erkannte mich erst nicht,
als er aber meinen Namen hörte, wurde er wie toll, um-
armte mich hundertmal, lief in der Stube herum, brüllte und
weinte, hielt mir eine übertriebene, unsinnige Lobrede gegen
Onslow und lief mit mir fort, um Vater zu sehen; da der aber
nicht mehr zu Hause war, so machte er im Hotel einen Lärm,
dass die Leute zusammenliefen, nahm Abschied, rannte mir
dann auf der Treppe nach, umarmte mich etc. Gestern früh
kam er mit vier Trägem zu uns gerumpelt und brachte den
Flügel seiner Frau und nahm sich unser schlechtes Instrument
dafür."
Französisches Theater. 145
Paris, 20. AprU.
„ Damit Du aber nicht ferner zürnest, will ich Dir
gleich erzählen, dass wir gestern Abend im Feydeau waren
und den letzten Akt einer Oper von Catel, l'aubergiste, und
Leocadie von Auber sahen. Das Theater ist geräumig, freund-
lich und hübsch. Das Orchester ist recht gut. Wenn auch
die Geigen nicht so vortrefflich sind, wie die der Opera buffa,
so sind doch die Bässe und Blaseinstrumente, auch das Ensemble
besser als da. Auch wird in der Mitte dirigirt. Die Sänger
und Sängerinnen singen ohne Stimme, doch nicht übel, spielen
lebhaft und schnell, und so geht das Ganze recht gut zusam-
men. Aber nun die Hauptsache, die Komposition! von der er-
sten Oper will ich nicht sprechen, denn ich hörte nur die
Hälfte und die war zwar matt und kraftlos, aber doch nicht
ohne hübsche, leichte Melodie. Aber die berühmte Leocadie
vom berühmten Auber! So was Erbärmliches kannst Du Dil-
garnicht vorstellen. Das Sujet ist aus einer schlechten Novelle
von Cervantes schlecht zu einer Oper umgearbeitet und ich
hätte nicht geglaubt, dass so ein gemeines, unziemliches Stück
sich auf dem Theater der Franzosen, die doch sehr feines Ge-
fühl und richtigen Takt haben, nicht nur halten, sondern so-
gar gefallen könnte. Zu dieser Novelle aus Cervantes' roher,
wilder Periode hat Auber eine zahme Musik gemacht, dass es
ein Jammer ist. Ich spreche nicht davon, dass kein Feuer,
keine Masse, kein Leben, keine Originahtät in der Oper zu
finden, dass sie aus Eeminiscenzen abwechselnd aus Cherubini
und E-ossini zusammengeklebt ist; ich spreche nicht davon,
dass nicht der geringste Ernst, nicht ein Fünkchen Leidenschaft
drin ist ; nicht davon, dass in den entscheidenden Augenblicken
die Sänger Gurgeleien und Trillerchen und Passagen machen
müssen; aber instrumentiren, was jetzt so leicht geworden
ist, da die Partituren von Haydn, Mozart, Beethoven verbrei-
tet sind, instrumentiren sollte doch wenigstens der Liebling
des Publikums, der Schüler Chembini's, ein Mann mit grauen
Haaren, können. Auch das nicht. Denke Dir, dass in der
ganzen, an Musikstücken reichen Oper vielleicht drei sind, in
denen die kleine Flöte nicht die Hauptrolle spielt. Die Ouver-
Die Familie Mendelssoliu. I. 10
146 Leipziger Strasse Nr. 3.
ture fängt mit einem Tremiüando der Saiteninstrumente an und
alsbald kommt die kleine Flöte auf dem Dache und das Fagott
im Keller und dudeln eine Melodie dazu; im AUegrothema ma-
chen die Saiteninstrumente die spanische Begleitung und die
kleine Flöte dudelt wieder eine Melodie, Leocadiens erste me-
lancholische Arie: paucre Leocadie, il vaudraü mieux mourir^
wird von einer kleinen Flöte angemessen begleitet. Die kleine
Flöte malt des Bruders Wuth, des Liebenden Schmerz, der
Bauermädchen Freude, kurz, das Ganze Hesse sich vortrefflich
für 2 Flöten und Maultrommel ad libitum einrichten. 0 weh ! —
Du schreibst mir auch, ich soll mich zum Bekehrer auf-
werfen und Onslow und Eeicha Beethoven und Sebastian Bach
lieben lehren. Das thu' ich schon ohne das, soweit es geht.
Aber bedenke, liebes Kind, dass die Leute hier keine Note
aus Fidelio kennen! dass sie Sebastian Bach für eine recht
mit Gelehrsamkeit ausgestopfte Perrücke halten! Onslow habe
ich die Fidelio - Ouvertüre auf einem ganz schlechten Klavier
vorgespielt und er war ganz ausser sich, kratzte sich im
Kopfe, instrumentii'te sie in Gedanken, sang am Ende in der
Entzückung mit, kurz, war ganz toll. Neulich spielte ich auf
Kalkbrenner's Begehr die Präludien aus e- und a-moll für die
Orgel. Die Leute fanden beide „wunderniedlich" und Einer
bemerkte, der Anfang des a-moU-Präludiums habe auffallende
Aehnlichkeit mit einem beliebten Duett aus einer Oper von
Monsigny. Mir wurde grün und blau vor den Augen.
Rode bleibt fest bei seiner Weigerung, eine Geige in die
Hand zu nehmen. Aber mit Baillot, Mial und Norblin habe
ich neulich bei Mde. Kiene mein Quartett aus h-moU gespielt.
Der Erstere fing zerstreut, ja sogar nachlässig an, aber bei
einer Stelle im ersten Theil des ersten Stücks kam er in's
Feuer und spielte den Rest des ersten und das ganze Adagio
sehr kräftig und gut. Aber dann kam das Scherzo. Da musste
ihm wohl der Anfang gefallen und nun fing er an zu spielen
und zu laufen. Die Andern immer hinterdrein, ich wollte sie
halten, aber halt' einer mal drei Franzosen, die durchgehen.
Und so nahmen sie mich mit, immer toller und toller und schneller
und stärker , besonders hieb Baillot bei einer Stelle am Ende, wo
Pariser Musikzustände. 147
das Thema des Trios in der Höhe gegen den Takt kommt,
ganz füi'chterlich ein und als er vorher einen Fehler mehrere
Mal machte, wüthete er ordentlich gegen sich selbst. Sowie
es aus war, sagte er mir kein Wort als: JEncore une fois ce
morceau. Nun ging's glatt, aber noch wilder als das erste Mal.
Im letzten Stück Avar nun aber gar der Teufel los. In der
Stelle ganz am Ende, w^o das Thema in h-moll noch ein-
mal fortissimo kommt, raste Baillot wirklich furchtbar in
die Saiten; ich bekam vor meinem eigenen Quartett Furcht.
Und so wie es aus war, kam er a,uf mich zu, wieder ohne ein
Wort zu sagen, und umarmte mich zweimal, als wollte er mich
erdrücken. Auch Rode war sehr zufrieden und sagte mir lange
nachher noch einmal: „Brav, mein Schatz I" auf Deutsch."
Doch die Berliner waren nicht zufrieden und Hessen nicht
nach, in ihren Briefen Lanzen zu brechen für das ihrer Mei-
nung nach ungerecht behandelte Paris. Felix liess sich nicht
irre machen. Am 9. Mai schreibt er an seine Schwester
Fanny :
„ — — Ueber Deinen vorigen Brief war ich etwas wü-
thend und beschloss, Dir eüiige Schelte zu reichen, die Dir
auch noch nicht geschenkt sein sollen, aber die Zeit, der
wohlthätige Gott, wii^d sie wohl mildern und Balsam giessen
in die Wunden, die mein flam.mender Zorn Dir schlägt. Du
schreibst mir von Voruilheilen und Befangenheit, von Brum-
men und Schuhu-ismus, vom Lande, w^o Milch und Honig fliesst,
wie Du dies Paris nennst? Besinne Dich doch, ich bitte Dich?
Bist Du in Paris, oder bin ich es? Da muss ich's doch besser
kennen als Du! Ist es meine Art, von Vorui'theilen befangen
über Musik zu urtheilen? Wäre sie das aber auch: Ist Eode
befangen, wenn er mir sagt: c^est ici une degringolade mimcale!
Ist Neukomm befangen, der mir sagt: Ce rCest pas icile pays des
orchestres. I^t Herz befangen, wenn er sagt: Hier kann das
Publikum nur Variationen verstehen und goutiren. Und sind
10,'JOO Andere befangen, die auf Paris schimpfen! Du, Du bist
so befangen, dass Du meinen höchst unpartheiischen Berichten
weniger glaubst, als einer lieblichen Vorstellung von Paris, als
einem Eldorado, die Du Dir gebildet hast. Nimm den Consti-
10*
148 Leipziger Strasse Nr. 3.
tutionnel in die Hand: was giebt man in der italienischen
Oper als Rossini? Nimm den Miisikcatalog zur Hand: was
kommt heraus, was geht ab, als Romanzen und Potpourris?
Komme doch nur erst her und höre Alceste, höre Kobin des Bois*),
höre die Soireen (die Du mit Salons übrigens verwechselst, denn
Soireen sind Concerte für Geld, und Salons Gesellschaften),
höre die Musik in der königlichen Kapelle, und dann urtheile,
dann schilt mich, aber nicht jetzt, wo Du von Vorurtheilen
befangen und gänzlich verblendet bist! ! !"
Im Mai kehrten sie mit Henriette nach Berlin zurück
und besuchten Göthe, wie dies auch schon auf der Hinreise
geschehen war.
Gedenken wir hier auch der litterarischen Ereignisse, die
die Jugend jener Zeit frisch erlebte, denen sie sich mit En-
thusiasmus hingab. Dass den Enkeln Moses Mendelssohn's die
Lessing'schen Schriften geläufig waren, dass dem Gastfreunde
Göthe's Faust und Werther ^strahlende Lichter" waren, wie
Fanny sich ausdi^ückt, versteht sich von selbst. Wie Schiller's
Meisterwerke ihnen immer gegenwärtig blieben, beweisen Fanny's
und Felix' Briefe aus der Schweiz. Aber vor allen waren es
zwei Schriftsteller, die gewaltig auf die Mendelssohn'schen
Kinder und ihren Kreis wirkten : Jean Paul und Shakespeare. —
üeber J. Paul hat das Schönste Börne, das Witzigste Heine
in der romantischen Schule gesagt. Rebecka schrieb über ihn
einmal: „Du willst, ich soll den Hesperus lesen, wenn ich
recht traurig bin. Na, das lass ich bleiben. Jean Paul
hilft den Mühseligen und Beladenen nicht, ihr Kreuz tragen,
er redet ihnen zum Maule und macht ihnen ihre Last schwerer,
indem er ihnen die Kräfte zum Tragen erschlafft. Dass ich
Dil* das sage, hilft aber garnichts, Du bist grade jetzt in dem
Alter oder vielmehr in der Jugend, wo es eben nur Jean Paul
giebt, wo seine Schreibart, seine Ironie nachgemacht wird, wo
Jünglinge und Mädchen nicht gern dick werden wollen, um
Victor und Clotilde oder Liane mehr zu gleichen, womöglich
auch ein bischen früh sterben wollen, aber nur auf kurze Zeit.
*) Französische Bearbeitung des Freischütz.
Jean Paul. 149
Wenn ich mir den Gram überhaupt weglesen wollte, so möchte
ich lieber Lessing oder Mendelssohn oder Geschichte lesen und
mich an den Mensehen erbauen, die sich durch Schicksale und
Widerwärtigkeiten hindurchgekämpft und sich keine ironische,
sondern eine tugendhafte Heiterkeit, Ergebenheit und Kraft
zum Weiterkämpfen en^ungen haben. Es ist aber der kleine
Unterschied zmschen uns, dass ich so nahe an vierzig bin,
wie Du an zwanzig. Und wüsste ich nicht sehr gut, wie der
Jean Paul in der Jugend thut, ich überfiele Dich in Deiner
Landeinsamkeit und autodafeisirte den ganzen Hesperus.
Bei Gelegenheit der von Dir behaupteten Aehnlichkeit der
Jean Paul'schen Clotilde mit X möchte ich Dir gerne eine Ge-
schichte erzählen, wenn ich nicht gewiss wüsste, dass Du sie
übel nimmst. Ich will sie aber doch erzählen: Ein taub-
stummer Schüler des Professor Wach malte einst eine Ma-
donna, die Wach sprechend ähnlich sah. Zu seiner Recht-
fertigung gab er an, Wach wäre sein höchstes Ideal, die
Madonna auch, also müsste die Madonna aussehen wie Wach! —
Die Nutzanwendung versteht sich von selbst. Sei aber nicht
böse. — Als Deine Mutter und ich jung waren, sah Victor
im Hesperus aus wie der jetzige Regierungsrath und Ee-
actionair Dr. Y.** —
Als Trost hatten jene Kinder den J. Paul auch nicht
nöthig: und doch giebt es eine Zeit in der Jugend, wo Jeder,
auch der Glücklichste, sich lieber unglücklich fühlen möchte
und wie Rebecka schreibt, „ein Bischen früh zu sterben wünscht,
aber nicht auf lange Zeit." — Wie dem auch sein möge und
welche Seite des Dichters auch jeden von ihnen angesprochen
haben mag, faktisch ist, dass Alle sehr für ihn schwärmten
und dass diese Schwärmerei bis zuletzt sich erhielt. Felix giebt
dieser Vorliebe noch in späteren Briefen einen warmen Ausdruck.
Nächstdem Shakespeare: Die Schlegel -Tieck'sche Ueber-
•setzung war erschienen und in dieser der Shakespeare zum
ersten Male in geniessbarer Form geboten. Mit dem Englisch
der Geschwister war es damals noch nicht so bestellt, dass sie
den Shakespeare in der Ursprache hätten lesen können. Der
Eüidruck war ein ungeheurer; die Tragödien, vor allen aber
150 Leipziger Strasse Nr. 3.
die Lustspiele, und unter diesen ganz besonders der Sommer-
nacbtstraum, waren die "Wonne der Mendelssolin'sclien Kinder.
Ein eigenes Geschick wollte, dass grade in diesem Jahr 1826
sie selber in dem wunderschönen Garten, bei dem herrlichsten
Wetter auch ein traumartig phantastisches Leben führten.
Das Gartenhaus bewohnte mit ihnen zusammen eine alte Dame
nebst ihren schönen und liebenswürdigen Nichten und Enkelinnen.
Mit diesen Mädchen waren Fanny und Rebecka eng befreundet,
Felix mit seinen jungen Leuten schloss sich an und die Sommer-
monate ^vurden zu einem ununterbrochenen Festtag voll Poesie,
Musik, sinni-eicher Spiele, geistvoller Neckereien, Verkleidungen
und Aufführungen. In einem Gartenpavillon lag beständig ein
Bogen Papier mit Sclireibmaterial, auf den jeder hinwarf, was
ihm eben von tollen oder hübschen Einfällen durch den Kopf
schoss. Diese „Gartenzeitung" wui-de im Winter unter dem
Titel „Thee- und Schneezeitung" fortgesetzt und enthielt viel
Reizendes in Scherz und Ernst. Selbst die älteren Personen,
der Vater Abraham, Zelter, Humboldt, verschmähten nicht,
Beiträge zu liefern oder wenigstens mitgeniessend sich dem
geschmackvollen, eigenthümlichen Treiben anzuschliessen. Dies
ganze Leben hatte unverkennbar eine höhere, luftige Stimmung,
eine idyllische Farbe, einen poetischen Schwung, wie man ihn
selten im gemeinen Leben findet. Kunst und Natur, Geist,
Witz und Herz, die aufstrebende Genialität Felixens, alles trug
dazu bei, dem Treiben Färbung zu leihen, das dann seinerseits
wieder mitwirkte, die Knospen in Felixens Schaffen zur Ent-
faltung zu bringen. Es ging mit ihm eine sclinelle, durch-
greifende Veränderung vor, und es folgten in raschem Fluge
bedeutende Arbeiten, weit verschieden von den bisherigen Kinder-
Kompositionen : zuerst das für Rietz als Geburtstagsgeschenk
bestimmte Ottett. Durchaus neu in demselben ist das luftige,
geistige und geisterhafte Scherzo. Er versuchte die Stelle aus
dem Walpurgisnachtstraum des Götheschen Faust zu komponii'eni
Wolkenfliig und Nebelflor
Erhellen sich von oben.
Luft im Laub und Wind im Rohr,
Und Alles ist zerstoben.
Ottett. Sommernachtstraum-Ouverture. 151
„Und es ist walirlicli gelungen," bemerkt Fanny in ihrer Be-
sprechung des Ottetts in Felixens Biographie. „Mir allein sagte
er, was ihm vorgeschwebt. Das ganze Stück wird staccato
und pianissimo vorgetragen, die einzelnen Tremulando-Schauer,
die leicht aufblitzenden Pralltriller, alles ist neu, fremd und
doch so ansprechend, so befreundet, man fühlt sich so nahe
der Geisterwelt, so leicht in die Lüfte gehoben, ja man möchte
selbst einen Besenstiel zui' Hand nehmen, der luftigen Schaar
besser zu folgen. Am Schlüsse flattert die erste Geige feder-
leicht auf — und Alles ist zerstoben."
Das Scherzo des Ottett war aber nur der Vorläufer einer
bedeutenderen, gleichartigen Schöpfung : aus jener seltsam poe-
tischen Stimmung ging als Lichtpunkt und Summe die Ouvertüre
zum Sommernachtstraum hervor. Man kann sie gewissermassen
als etwas selbst Erlebtes bezeichnen, denn sie ist ebensosehr
hervorgerufen durch die Ereignisse des Sommers 1826 im Mendels-
sohn'schen Hause, als durch die Anregung des Shakespeare'schen
Stücks; und man müsste sich sehr täuschen, oder es ist eben
diese Entstehungsart, die der Ouvertüre den ausserordentlichen
Uli' innewohnenden ßeiz verleiht. Gerade daraus, dass sie so
aus der innersten Natur Mendelssohn's hervorgequollen, erklärt
sich ein, vielleicht in der Musikgeschichte nicht zum zweiten
Mal vorkommendes Faktum, dass fast zwanzig Jahr nachher
der Componist, an diese Jugendarbeit anknüpfend, die weitere
Musik zum Sommernachtstraum schreiben konnte, ohne dass
an der Ouvertui'e irgend etwas zu ändern gewesen wäre; sie
war eben durchaus Shakespearisch und durchaus Mendelssohnisch
und so konnte die weitere Musik auch nur im selben Geiste
fortfahren.
Vielleicht war dies die glücklichste Zeit im Leben Abra-
ham's: die Existenz gesichert und fixii't in einem der schönsten
Grundstücke des damaligen Berlin, an seiner Seite eine innig
geliebte, kluge und geistreiche Frau, in langer Ehe ihm treu
verbunden, alle Kinder mit schönen Anlagen heranwachsend,
Felix über die Zeit des Schwankens hinaus, auf sicherm Wege
zum Höchsten, w^as der Mensch erstreben kann, wohlverdientem
Euhm in der Kunst, Fanny ihm ebenbüi-tig an Talent und Be-
152 Leipziger Strasse Nr. 3.
^abnng und doch nichts Anderes hegehrend, als bescheiden in
den Schranken, die die Natur den Frauen gesetzt, zu verbleiben,
Bebecka zu einem schönen klugen Mädchen sich entwickelnd,
auch talentvoll und nui* in Schatten gestellt durch die her-
vorragende Begabung der älteren Gesch^^1ster , Paul tüchtig
und lleissig und ebenfalls sehr musikalisch, alle ^ier gesund
an Körper und Geist und sich mit einer seltenen Liebe zuge-
than ; dazu ein Freundeskreis, Alles, was von bewährten, älteren
Männern, bedeutend in fielen Lebenskreisen, Alles, was von
hoffnungsvoller, aufstrebender Jugend in Berlin lebte, umfassend,
ein Haus, besucht, gekannt und geliebt von so Vielen in der
ganzen gebüdeten Welt, das waren die Verhältnisse Abraham
Mendelssohn's im Jahre 1826.
Im Februar 1827 unternahm Felix eine Eeise nach Stettin
zur Auffühi'ung der Sommernachts-Ouverture, wo er sehr ge-
feiert wiu'de. Auf der Eückreise legte er, als die Schnellpost
umgeworfen wurde, Proben von Geistesgegenwart ab. — Alle
hatten den Kopf verloren, er ritt bei ausserordentlicher Kälte
Nachts auf einem ausgespannten Postgaul eine Meile zurück,
Hülfe zu holen. Zurückgekehit, erwartete ihn in Berlin un-
angenehme Ai-beit: er musste an's Einstudiren seiner Oper:
„die Hochzeit des Camacho" schi-eiten und lernte dabei zum
ersten Mal die Leiden eines Bühnenautors kennen. Die Klein-
lichkeit der Dii-ektion, die Intriguen hinter den Coulissen, das
Schauspieler- und Probewesen oder Unwesen — wenn ihn auch
alles das zuerst amüsirte, so fing es doch bald an, ihm zumder
zu werden. Am 29. April ward die Oper gegeben. Wie sie
aufgenommen worden, das lässt sich so eigentlich nicht recht
bestimmen, da sie keine Wiederholung erlebte. Im Ganzen
war es wohl nui' ein „Achtungserfolg". Man hatte Felix aller-
dings gerufen und die Familie und die näheren Freimde fassten
es als eine gelungene Aufführung auf, — er selbst aber liess
sich mit richtigem Gefühl nicht täuschen, war im höchsten Grade
niedergeschlagen, kam spät imd betrübt nach Hause geschlichen.
Krankheiten imd sonstige wirkliche und erdichtete Hindernisse
vereitelten eine — melu-mals angesetzte — Wiederholung und
die ^anze Sache machte für den Augenblick einen sehr üblen
Felix^ Fusswanderung nach Süddeutschland. 153
Eindruck auf seine Laune und sogar auf seine Gesundheit, noch
verschärft durch den Tod eines Jugendfreundes, August Han-
stein's. Aber bei seiner durch und durch gesunden, lebensfrohen
und tüchtigen Natur konnten derartige Perioden der Erschlaffung
und Muthlosigkeit nicht lange dauern. Zu Pfingsten brachte
er einige Tage sehr heiter auf dem Magnus'schen Gut Sakrow
bei Potsdam zu und dichtete und komponirte daselbst ein Lied,
das später dem a-moll-Quartett zu Grunde gelegt wurde. Im
Sommer unternahm er mit einigen Freunden eine schöne Ferien-
reise nach dem Harz, Franken, Baiern, Baden und dem Rhein,
wo die Weinlese mit Joseph Mendelssohn in Horchheim bei
Coblenz gefeiert wurde. Er schrieb Briefe voU frischen Lebens
und glücklicher Laune nach Haus, von denen hier Einiges
folgen möge:
^^ Wir fingen um VaB an, im Hsenthal nach dem
Brocken hinaufzusteigen, von einem grauen Führer aus Werni-
gerode begleitet. Die Sonne schien hell, es wurde warm und
der Hsenstein wurde voll Vergnügen passirt. Heydemann stellte
sich auf einen Stein mitten in dem Bach und plätscherte mit
der Hand im vorbeiriesekiden Wasser, hob dann einen Kiesel
auf und zeigte mir, wie nun das Wasser anders flösse, und
das Alles di'ückten wir in Eitter'schen Phrasen aus; Magnus*)
ging voran, pfiff und äusserte: das gefiele ihm. Eietz mur-
melte: das ist gottvoU, und da der alte Führer unter der Last
unserer vier Mäntel ziemlich gebeugt ging, so war es in die-
ser erweichten Stimmung natürlich, ihm die Bürde abzunehmen
und sie im Schweisse unseres Angesichts selbst zu tragen.
Das war der erste Fehler, denn der Alte zog eine Pulle
Schnaps und trank auf unsere Gesundheit, und leider muss er
das nachher noch oft gethan haben. Denn nachdem wir nun
zwei Stunden steil gestiegen hatten und der Himmel mit Wol-
ken sich bezog, stellte er sich auf einmal vor uns und sagte
lachend: wissen Sie's Neuste? Wir sind ganz und gar irre;
wir müssen eine Viertelstunde zurück, dann bringe ich Sie acd'
den richtigen Weg. Ich merkte gleich den Sauerbraten und
") Der bekannte Physiker Gustav Magnus.
154: Leipziger Strasse Nr. 3.
schimpfte wie ein Rolirsperling. Errare humanuni^ meinte Hey-
demann. Wir gingen zurück, der Fülirer fing an, Unsinn zu
sprechen und zu wanken: er wüsste gar nicht den Weg; was
wir denn von ihm wollten? es sei ja hier im Walde recht
hübsch, und dergleichen, so dass wir dem Instinkte nach einen
Weg einschlugen und glücklich nach einer kleinen Zeit ein
Haus liegen sahen. Wir Alle bringen dem Haus ein Vivat,
stürmen hin, pochen an — keine Antwort, die Thür verschlos-
sen, die Fenster versperrt, das Hüttchen ist von keiner Seele
bewohnt. Der Fülirer wii'd gebracht, er kennt das Haus nicht,
hat es nie gesehen, er weiss aber der Lage nach nur, dass der
Weg rechts abgeht. Es wurde Abend, wir waren verdiiesslich.
Die Harzkarte wird geholt. „Hier sind wir," sagt der Eine,
^nein hier, nein hier!" — Kurz, wir verständigen uns nicht
und folgen dem Fühi-er, der uns nun einen steilen, beschwer-
lichen Weg Berg ab führt und dabei immer behauptet, nun
müssten wir bald oben sein. Endlich aber meinte er, er kenne
den Weg nicht und sei hier nie gewesen. Wir stiegen auf
einen Granitblock und visii'ten durch's Fernrohr, es fing an zu
regnen! Da nichts zu sehen war, verfolgten wir unsern Fuss-
steg, der nach und nach weich, schlüpfrig und nass wird. Es
dämmert, der Eegen giesst und wir sehen keinen Menschen
kommen. Ein kleiner Junge mit Aexten und einem Sägeblock
steigt des Weges aus dem Thal herauf, wir umringen ihn und
fragen, wo wii' sind? „Eine halbe Stunde von Hsenburg! ! !"
antwortete er. Wir fragen, was das verlassene Haus sei; „ein
verlassenes Jagdschloss, anderthalb Stunden nur vom Gipfel des
Brockens entfernt." Nun war kein Haltens mehr. Wir liefen
mit den Stöcken auf den Führer los, um ihn zu schlagen; da
er aber den Hut abnahm und lächelnd sagte: „Schlagen Sie nui*,
was geht es mich an?" so begnügten wir uns, ihm die Sachen
abzufordern und ihn wegzujagen. Er verschwand uns auch sogleich
aus dem Gesichte. Köhler heisst er. Hol' ihn der Teufel! —
Im grässlichsten Eegen gelangten wir nach vier Stunden Wegs
wieder nach Hsenburg zurück."
Felix' Fusswanderung nacn Süddeutschland. 155
Erbich (ein Nest), am 31. August 1827.
Abends im herrlichen Mondschein.
^Wüssten drei der vortrefflichsten Familien Berlins, dass
drei ihrer vortrefflichsten Söhne sich mit Fuhrleuten, Bauern
und Handwerksburschen Nachts auf der Landstrasse herum-
treiben und mit ihnen Lebensgeschichten eintauschen, — sie
wären sehr betrübt. Seid's nicht! Denn die Söhne sind dabei
kreuzfidel.
Erbich! Das kennt selbst Vater trotz der vielen Reisen
nicht. Auch steht es auf keiner Karte, also kennt's Paul nicht.
Zu Zeiten der Griechen war es nicht erbaut, also kennt es
Beckchen nicht, endlich liegt es weder in der Leipzigerstrasse
Nr. 3, noch in Italien, also kennen es Mutter und Fanny nicht.
Es ist ein miserables Dorf mit einem Wirthshause, das wir
drei aus malice himmlisch finden. Wir hatten nämlich auf der
Keisekarte 4 Meilen für 2 angesehn und sind demnach andert-
halb Stunden schon im Mondschein gewandert. Endlich ge-
langten wir nach Dorf Büdenbach, wo ein von den Führern
sehr gepriesenes Wirthshaus lag. Eine Stube kann uns der
Wirth nicht geben, w^ir sollen mit drei Fuhrleuten, die in blaue
Kittel gehüllt Hammelbraten verzehren und Pfeifen rauchen,
die Nacht auf der Bank campiren. Zum Dank kriegen wir
auch morgen keinen Führer nach Rudolstadt und heute nichts
zu essen. Hier wurde Magnus wüthend und brach auf. Wir
gehn zum Dorfe hinaus und ein Bach mit AVeiden besetzt
führte uns auf einem Stoppelfelde, das nur zuweüen von sum-
pfigen Stellen unterbrochen war, nach Erbich. Es lebe! —
Denn wir haben eine Stube, wo wir auf den Bänken Solo
schlafen können, und fahren morgen früli mit einem Kärrner,
der uns diesmal einen unerhörten Trab versprochen hat, in das
Frankenland hinein. Erst woUte man uns auch hier nicht
aufnehmen, weü in der Stube nicht eingeheizt sei, endlich aber
führte man uns die schmale Treppe hinauf zu unserm Zimmer,
das um alle 4 Wände mit hölzernen Bänken besetzt ist; in
der Ecke steht das Wirthshausbett, in dem Keiner von uns
schlafen wül, — vielleicht aus Edelmuth — in der andern
Ecke stelin drei unermessüche geknetete Teige zu Brod imd
156 Leipziger Strasse Nr. 3.
Kuchen, welche nicM zu berühren wir der Wirthsfrau bei un-
seren Barten schwören mussten. (Wir sind seit Bsrlin nicht
rasirt und Magnus excellirt.) Die übrigen Möbel sind mehrere
Gemälde, etwa 3 Kopfstück werth, und ein Haken zu einem
Kronleuchter. An der Thür hängt eine Schweinsblase — Sum-
ma Summarum ein Saal.
Uebrigens erregen wir in allen Städten, Flecken und
Dörfern, in die wir mit erhobenen Wanderstäben einziehen,
unerhörtes Aufsehen ; die Mädchen kommen an die Fenster und
die Gassenjimgen lachen uns drei Strassen weit nach. Ein Be-
weis von Popularität und weisser Wäsche.
Wir vertragen uns ebenso gut, wie wir uns amüsiren, und
das ist viel gesagt. Wir sprechen wechselsweise von Kapell-
meistern, Fieberkranken und Homer; da hat denn Jeder sein
Thema und in einem Burschenliede mit Refrain vereinigen wir
uns. Auch ist das Land wimderschön ; wir sind heute bei Son-
dershausen durch den Thüringer Wald gegangen, welcher die
edelsten Buchen und die tüchtigsten Eichen trägt, unter deren
dichtverwachsenem Laube hin und wieder eine Quelle läuft,
in der Heydemann seine Reiseflasche füllt. Da wü'd nachge-
dacht, gezeichnet und componirt. So findet sich zu Ernst me
zu Scherz gleich angenehmer Anlass und durch diese erfreu-
liche Abwechselung werden wii' keinen von beiden weder über-
drüssig werden noch erschöpfen. —
Es ist spät, das einzige Talglicht versagt den Dienst und
der Mondschein reicht nicht zu. Morgen um fünf geht's fort.
Gute Nacht! Gute Nacht!" —
Baden, 14. Sept. 1827.
„ Ich lebe gewissermassen hier "vvie der hochselige
Tantalus ; es liegen mir eine Menge Ideen im Kopf, die ich gar
zu gern mir einmal vorspielen möchte und im GeseUschafts-
hause ist auch ein ganz erträglicher Flügel. Ich schleiche
hinein, aber ein Franzose mit seiner jungen blonden Frau, die
zu meinem Unglück musikalisch sein muss, haben die Stube
und das Instrument in BeschLvg genommen. Ich, in der Hoff-
nung, dass die Leute nach f^ebüsster Lust das Feld räumen
Felix' Eusswanderung nach Süddeutschland. 157
werden, fordere die Dame aiif, zu spielen, ich wäre Amateur,
hätte schon alles mögliche Schöne gehört, und die glaubt es
und stümpert drei Rondos und ein Dutzend Variationen her, ich
sagte nach Herzenslust Irava^ comme un ange (zum Glück war
sie ziemlich angenehm und graciös), nur am Ende wurde es
mir zu toll, ich wollte mich empfehlen — Gott bewahre! muss
spielen und spielen und da kommt denn Amedee Perier dazu
und noch ein Paar Franzosen, und denen musste ich denn
Alles, was mir nur in's Gedächtniss kommen wollte, vorreiten.
Ich wurde an Paris errinnert und als ich die Franzosen ver-
lasse, begegnet mir im Garten Haizinger mit seiner Frau
(Mde. Neumann), die alte Bekanntschaft wird erneuert, aber
sie müssen bald fortreisen, wir sollten noch ein wenig musici-
ren, Robert's kommen dazu und wir gehen Alle zusammen in
den Gesellschaftssaal zurück. Da war es zwar dunkel, denn
die Saison ist schon vorbei, aber das genii't wenig, ich gehe
an den Flügel und nach den ersten Griffen versammelt sich
im finsteren Saal eine Gesellschaft von 30 — 40 Personen,
Franzosen, Engländer, Strassburger, Weltbürger (ich meine
Constant mit seiner Frau) und die applaudiren nach Herzens-
lust in der Finsterniss. Ich musste zweimal spielen, die Hai-
zinger sang zwei Arien und so war ein Concert organisirt.
Ich ^vurde einer Menge Leuten vorgestellt, deren Gesicht ich
aber garnicht sah, erhielt auch Einladungen, unter andern eine
zum Diner nach Strassburg, weiss nicht wie die Leute ausse-
hen! Robert nimmt mich beim Arm und geht mit mir auf und
ab, über die Oper hin und her sprechend; auf einmal aber
stürzt Herr Charpentier, Verfasser des Chaferon rouge von
Boyeldieu und mehrerer Opern von Herold, auf mich zu: mon
eher amil l vous etes musicierij je suis poete .... ü faut que nous
nous fassions applaudir a Paris! Und schlägt nun vor, mir
einen Text zu geben, der sei schon halb fertig, heisst Alfred
le grand^ ist eine komische Oper, il y a du tapage et du pastoraUy
ich sei grade der Mann für ihn und wir müssten mit einander
zu den Wolken fliegen oh que §a sera heau! — Was Robert
zu dem Allen für ein Gesicht machte! Wie er den sich betrachtete !
Und wie er dann wegging, von Fat und dergleichen murmelnd!
158 Leipziger Strasse Nr. 3.
Das liätte man sehen sollen. Und mm kömmt das Beste. Der
Entrepreneur der Spielbank war wiithend auf mich. Ich hätte
ihm durch mein Spielen eine Menge Leute von der Eoulette
weggelockt, das sei gegen seinen Contrakt, und er brachte es
dahin, dass das Klavier gestern weggenommen wurde. Sogleich
verschworen sich Robert's und Haizinger's und gaben gestern
in einem anderen Saal, wo ein anderes Instrument stand,
eine sehr hübsche Gesellschaft. Erst las Robert mit der Hai-
zinger ein neues Lustspiel und sie las wirklich vortrefflich und
erhielt vielen Beifall ; später wui'de Musik gemacht ; Haizinger
jodelte Oestreichisch, Fräulein von W. piepte italiänisch, die
Neumann sang mit ihrem Mann 50 Verse von Fidelin (Mutter,
wie wird Dir?), dazwischen trommelte ich Etudes von Mosche-
les, die in Baden grosses Glück machen, phantasirte auch
und die Leute waren vergnügt und zufrieden. Einige alte
Damen weinten bittere Thränen der Wehmuth und Heydemann
tröstete und rührte sie wechselsweise, von der Zähi-e der
Wehmuth oder der Wehmuth der Zälire vieles sprechend, dage-
gen hielt sich Magnus mehr zu den jungen Damen und ich
passte auf die weisen W^orte, die Benjamin Constant — ver-
schwieg, denn er war den ganzen Abend stumm; so fand ein
Jeder sein Vergnügen und aufs Höchste wurde der Spass
getrieben, da Haizinger's und Eobert's mit uns Studenten oder
vielmehr Jungens nach der goldenen Sonne, unserm Wirths-
hause, gingen, da einiges warme Abendbrod assen und mehr
tranken. Eine lustige Erzählung jagte die andere, die Neu-
mann copirte das ganze Karlsruher Theater, vom Souffleur an;
auch die Berliner Bühne musste dran und ein Gespräch zwi-
schen Seidel und Esperstädt war besonders ergötzlich. So blie-
ben wir burschikoserweise bis 1 2 Uhr zusammen und ich musste
Haizinger mehrere Male versprechen, ihn bei der Durchreise
in Karlsruhe zu besuchen. — Heute nun will mir Robert
selbst seine Oper vorlesen, auch Charpentier's zweitem Akt
soll ich vor Gewalt zuhören — und das Alles wegen einiger
Passagen auf einem alten Flügel."
Felix in Heidelberg. 159
Heidelberg, 20. Sept. 1827.
„0 Heidelberg, du schöne Stadt, allwo's den ganzen Tag
geregnet hat," sagen die Knoten, ich aber, ich bin ein Bursche,
ich bin ein Kneipgenie, was kümmert mich der Regen ? Es giebt
ja noch Weintrauben, Instrumentenmacher, Journale, Kneipen,
Thibaut's, nein, das ist gelogen, es giebt nur einen Thibaut,
aber der gilt füi' sechse. Das ist ein Mann! —
Ich habe eine rechte Schadenfreude, dass ich nicht aus
blossem. Gehorsam für Deinen heutigen Brief, liebste Mutter,
diese Bekanntschaft gemacht habe, sondern schon gestern (also
24 Stunden vor Empfang desselben) ein paar Stunden mit ihm
plauderte. Es ist sonderbar ; der Mann weiss wenig von Musik,
selbst seine historischen Kenntnisse darin sind ziemlich be-
schränkt, er handelt meist nach blossem Instinkt, ich verstehe
mehr davon als er — und doch habe ich unendlich von ihm
gelernt, bin ihm gar vielen Dank schuldig. Denn er hat mir
ein Licht für die altitaliänische Musik aufgehen lassen, an seinem
Feuerstrom hat er mich dafür erwärmt. Das ist eine Begeiste-
rung und eine Gluth, mit der er redet, das nenne ich eine
blumige Sprache! Ich komme eben vom Abschiede her und da
ich ihm Manches von Seb. Bach erzählte und ihm gesagt hatte,
das Haupt und das Wichtigste sei ihm noch unbekannt, denn
im Sebastian da sei alles zusammen, so sprach er zum Abschiede:
,.Leben Sie wohl und unsere Freundschaft woUen wir an den
Luis de Vittoria und den Sebastian Bach anknüpfen, gleichwie
sich zwei Liebende das Wort geben, in den Vollmond zu sehen
und sich dann nicht mehr fern von einander glauben." —
Aber erst muss ich erzählen, wie ich dazu kam, zu ihm
zu gehen. Gestern Nachmittag wurde das Wetter schlecht und
die Langeweile unter uns Dreien war gross, da fiel mir ein,
dass Thibflut in seinem Buche von einem ^,Tu es Petrus^'' ge-
sprochen hatte und weil ich nun denselben Text grade com-
ponire, so fasste ich ein Herz imd einen Frack und ging gerade
in's Kaltethal, falle in's Haus. Er kann mir das Stück nicht
geben, aber andere sind da, bessere, er zeigt mir sogleich seine
grosse Bibliothek von Musik aller Völker und Zeiten, spielt
mir vor und singt dazu, setzt mir die Stücke ordentlich aus-
160 Leipziger Strasse Nr. 3.
einander und so gingen mehrere Stunden vorüber, als ein Be-
such kam, dem ich sogleich das Feld räumte, ich sollte aber
heute früh wiederkommen. Was mich bei alledem am meisten
freute, war, dass er mich garnicht nach meinem Namen gefragt
hatte; darauf kam es üim nicht an, ich liebte Musik, das
Uebrige ist einerlei, und da ich für einen Studenten gehalten
wurde, hatte man mich ungemeldet in die Arbeitsstube gelassen.
Auch heute früh waren w^ir wieder zwei Stunden zusammen,
da fiel es ihm erst ein, nach meinem Namen zu fragen und
war er vorher freundlich gewesen, so wurde er's jetzt erst
recht; nun wurde musicirt und erzählt, auch gab er mir ein
prächtiges Stück von Lotti zum Abschreiben mit, ich versprach,
es ihm heute Abend wiederzubringen, aber gleich nach Tische,
als ich das erträgliche Wetter gerade zu einem Spaziergang
auf die Eiesensteine benutzte, kam er selbst, Thibaut, eigen-
händig nach dem Gasthofe, um mir einen Gegenbesuch zu
machen. Ich verfehlte ihn also leider, aber dafür fand ich ihn
noch nachher zu Hause und so war ich ziemlich den ganzen
Tag bei ihm, Essens-, Schreibens- und Promenirenszeit ausge-
nommen. Leider muss er morgen in Geschäften nach Karlsruhe.
Da ich um gestern um ^}^1 Uhr verliess, vertrieb ich mir
die Zeit und ging zum Instrumentenmacher, phantasire hin und
her auf seinen Instrumenten und als ich weggehen will, hat
der Mann Hut und Stock genommen und betheuert mir, ich
müsse Besseres von seinen Sachen sehen, Herr Sckröder hätte
einen sehr guten Flügel. Gut. Nun geht es im Regen zu
Herrn Schi^öder, Studio. Wir kommen an, der Instrumenten-
macher stellt mich vor, ohne meinen Namen zu wissen, gleich-
viel, ein Mensch kommt ; und dann läuft er fort, denn er muss
wieder arbeiten, ich soll aber ja wiederkommen. Nun bin ich
allein mit dem Studio auf seinem Cubiculo. Er bittet mich,
mir es bequem zu machen, ich möchte doch eine Pfeife beim
Phantasiren rauchen, eine ungeheure Dogge, die beim Klavier-
spielen belfert, wird unter den Sopha geschafft, — „Hanne,
eine Flasche Hochhehner! die müssen wir ausstechen, Freund-
chen!" — Und so geschah's. Dazwischen spielte ich nun nach
Herzenslust, bis ich satt und müde war, und heute Mittag wird
Felix in Horchheim zur Weinlese. 161
dafür der Studio zu uns eingeladen, dafür hat uns der Studio
wieder auf heute Abend zu sich eingeladen, und wer nun
läugnet, dass ich ein Kneipgenie bin!"
Cöln, den 2. October 1827.
„Verzeihung, liebe Eltern, dass statt meiner heut abermals
ein Brief kommt, es ist nicht das erste Mal, dass ich auf Eure
Vergebung rechne und ich hoffe, dass mein jetziger Fehler
nicht unverzeihlicher sein wird, als viele andere; ich bleibe
nämlich noch einige Tage länger weg; dafür sehe ich aber
auch noch alles Schöne und erfahre alles Angenehme und
Nützliche, was ich mir nur erträumen konnte. Du sagst in
Deinem letzten Briefe, liebe Mutter, „wenn man auf Eeisen sei,
solle man alles Sehenswerthe erschöpfen," und Du, lieber Vater,
schreibst „ich solle meine Sinne und mein Glück gebrauchen."
Meine Sinne habe ich gebraucht, um hier Alles herrlich und
reizend zu finden, so will ich denn auch noch mich meines
Glücks bedienen, um das Herrliche zu gemessen.
Magnus erhielt die Nachricht, er müsse am sechsten iu
Berlin sein, ihm stimmte Heydemann bei, und obwohl ich
Schelble halb und halb hatte versprechen müssen, wieder durch
Frankfurt zu kommen, um daselbst im Cäcilienverein der Auf-
führung eines mir unbekannten Oratoriums von Händel beizu-
wohnen, so war ich doch bestimmt, denselben Weg mitzu-
machen, zumal da das Wetter so unfreundlich war, dass ich
in Horchheim kaum das Haus verlassen konnte. Gestern Abend
wül ich abreisen, da mit einem Male werden die Berge frei,
die Nebel fallen, der Mond geht hell auf und die Nachricht
kommt, dass auf dem ganzen rechten Eheinufer von Horchheim
bis Ehrenbreitsteiu übermorgen Weinlese sei. Da nahm mich
Onkel in's Gebet, er stellte mir vor, wie schön und glänzend
die Lese sein solle; zwei Tage nach dem Ende reist er selbst
ab und bleibt gerade den Cäcüienvereinstag in Frankfurt, ich
möchte doch mit ihm gehn, er wolle mi<5h nach Berlin zurück-
fahren, ich würde ihm und der Tante auch noch die Langeweüe
vertreiben, und da ich vorschützte, ich müsse meinen Klavier-
auszug fertig machen, so brachte er mir das schönste Noten-
Die Familie Mendelssotn, L •»■*•
162 Leipziger Strasse Nr. 3.
papier und stellte mir vor, wie viel ruliiger und heiterer ich
würde arbeiten können. Nun — da konnte ich denn garnicht
gegenhalten. Ich mache in Horchheim diese unangenehme
Arbeit fertig, so bin ich ihrer für Berlin los, ich höre den
Cäcilienverein, zu dem Schelble mir zu Ehren durch eigne
Circulare einladet, ich sehe die Weinlese mit an, — Gott! Ihr
müsst ja verzeihen, es ist gar zu schön! — "
Im October kehrte Felix nach Berlin zurück, mit neuem
Muth zum Schaffen, die Verstimmung über die misslungene
Oper war verwunden.
Im Herbst 1827 wurde abermals eine fühlbare Lücke in
den schönen Ki-eis von Jugendfreunden gerissen: Klingemann,
der durch Geeist und Witz das munterste Element gewesen
war, ging nach London.
Sofort aber entspann sich eine lebhafte und auch in
späteren Jahren nie ganz abgebrochene Korrespondenz, aus
deren Anfang hier Einiges folgen mag und die auch weiterhin
noch verschiedentlich benutzt werden wird, da sie gerade für
die Zeiten, aus denen andere schriftliche Aufzeichnungen nicht
vorliegen, oft das einzige Material bietet und Fanny mit
keinem, nicht der Famüie Angehörigen so ausführlich korre-
spondirt hat.
Der erste Klingemann'sche Brief an das Mendelssohn'sche
Haus lautet: 7. Decbr. 1827, London.
Verehrtester Herr Stadtrath und verehi'teste
Frau Stadträthin!
Unvergleichliche junge Damen!
Trefflichste Squires Felix und Paul!
„Der Unterzeichnete ging bislang in Westend und der
City, Westminster und Southwark, in den Grafschaften Jüd-
dlesex, Surrey u. s. w. mit einer schweren Last der sträflichsten
Undankbarkeit umher — aber so, wie Hass zur Liebe gehört,
so gehören innere Vorwürfe und Kasteiungen zur Tugend, und
ich bin tugendhaft! Man kommt aber leicht in's Sündigen
hinein, wenn unter dem Eegünent der schweren Luft der Leib
über den Geist befiehlt, wenn man klassisches Mtdton, halb-
Klingemanns erster Brief a us London, 168
gahres Gemüse, preiswürdigen Applepye und dicken Portwein
reichlich verzehren muss gegen die schwere Luft — wenn man
die schwere Luft in meilen weiten Stationen, tapfer schreitend,
wieder verzehren muss gegen die schwere Kost, und endlos
schlafen muss, um wieder gehen und vermöge des Gehens
wieder essen zu können u. s. w. Und nebenbei habe ich auch
ein Amt, dessen ich warten muss, da es nicht auf mich wartet !
Und zwischen dieser chaotischen, materiellen Wirklichkeit
schwimmen die zierlichen Trümmer meiner geliebten und ge-
lobten Berliner und Niedersächsischen Vergangenheit elegisch
umher und verwirren mich armen Menschen noch mehr, —
im Hyde-Park liegt mancher Seufzer von mir, über den irgend
ein wohlgenährter John Bull gestolpert sein mag.
„Hoic do you like England? '"'' das ist die Frage, die mir
jede Miss oder Mistress, der ich „introduced" werde, wie einen
Dolch auf die Brust setzt, worauf ich denn jedesmal die Backea
voU nehme und mit „Exceedingly well!'''' unerschrocken ripostire.
Und ich lüge nicht, es ist hier alles in eine Fremdartigkeit
(zugleich mit einer unerwarteten Artigkeit füi' Fremde) getaucht,
an der man schon einige Jahre zehren kann — Charakter,
Neuheit, Fülle. Freilich haben meine Vorderzähne schon be-
deutend an der Aussprache des th gelitten, freilich zähme ich
mit Mühe meinen höflichen deutschen Eücken, der es doch hier
nicht wissen soll, dass mein Hals eine fashionable Verbeugung
macht, freilich arbeite ich wie ein Schwimmer an der Leine
im schwerfälligen Eins, Zwei, Drei im Englischen weiter, ohne
Witz und Wortspiel, froh, wenn ich nur grade die Hausmanns-
kost des gewöhnlichen Ausdrucks finde, während ich in der
lieben Frau Muttersprache, um mit dem vielgereisten Schel-
mufsky zu reden, ganz behaglich umhersch^^imme, — aber der
Comfort! Dieser Comfort ist der grösste Philister, den ich
kenne: Gegen 10 Ulir steht er auf. Er tritt in sein kleines
wohnliches Zimmer, etwa halb so hoch wie das der Gesandtschafts-
kanzlei in Berlin, aber ganz bequemüch ausstaffirt, im Kamin
brennt ein lustiges Kohlenfeuer, das Wasser kocht, der Früh-
stückstisch ist gedeckt und der nöthige Apparat gehörig auf-
gepflanzt, — aber das Auge ruht mit besonderem Behagen
11*
164 Leipziger Strasse Nr. 3.
auf der ellenlangen Zeitung mit leading artidesj news, Prozessen,
Polizeiverhandlungen und mannigfaltigen Skandalen angefüllt!
Alles öffentlich, namentlich, persönlich, oft dramatisch, lokal
und im Geist des Augenblicks — es ist mir oft, als läse ich
ein Stück des Aristophanes. Die Kohlen knistern, der Kaffee
dampft, zwischen jedem Zuge aus der Tasse liegt ein inter-
essantes elo'pement einer romantischen jungen Miss, oder ein
gewagter kühner Einbruch (im Vorbeigehen gesagt, gestohlen
wird hier fürchterlich!) oder ein dreadful accident von durch-
gegangenen Pferden oder umgefallenen Postkutschen, kurz,
der Climax meiner Existenz ist gerettet, und derselbe, der als
27 jähriger Jüngling unter dicken Bäumen tagtäglich Kaffee
trank und seine Freude an unschuldigen Erscheinungen der
Natur, wie Raupen und Ameisen, hatte, koimte nicht anders
werden, wie er 29 Jahr alt wurde! — Die Türken drohen,
die Spanier hängen, die Franzosen opponii-en, die Stocks fallen,
die Taillen (der Damen) steigen — welche bedenkliche Zeichen
der Zeit! Gigot's sind hier freilich auch durchaus in der
Mode, aber was will das sagen? — Meinem Freunde Felix
werde ich nächstens über die Cornbill schreiben und über die
Cultur des Backenbarts. Es giebt hier enorme! —
Unsere hannöver'sche Colonie ist aber so übel nicht.
Wir executiren den Spohr, ich trommle in der Ouvertüre den
Bass vierhändigerweise mit einer jungen Miss und wir stehen
Alle wie die Orgelpfeifen um das Piano herum und singen:
„Kalt und starr, doch majestätisch liegt der Eajah auf der
Bahre," was wir so übersetzt haben: ,^CoId and stiff and yet
majestic on the Shutter ihere he lies'-^ sowie das beliebte „dahin,
dahin" ganz glücklich mit tJiüher! thitherü — Femer spielen
■wir Trios von Hummel und Beethoven — ich aber nicht
Violine, und einige Beethoven'sche Symphonien zu 4 Händen,
nebst Wlüst zu 8 Händen. Bei einigen imsrer Landsleute, die
länger hier gewesen sind, ist die Lingua franca, in der sie sich
ausdrücken, nicht übel — als ich kurz nach meiner Ankunft
etwas heiser sprach, fragte man mich: „Haben Sie auch schon
einen Kalten gefangen?" und ich übersetzte es mir in's Englische
zurück und verstand es. —
Klingemanns erster Brief aus London. 165
Ich wollte nur, icli wäre weniger kurzsichtig — besonders
der Engländerinnen wegen! Sie können keinen Eierkuchen
"backen und beschäftigen sich meist mit unnützen Dingen, aber
sie sehn verzweifelt gut aus. Solch eine peripatetische Pensions-
anstalt, wie sie täglich zu Dutzenden in Eegents Park in die
freie Luft getrieben werden, kommt mir vor, wie ebensoviel
pathetische Peris, Eine noch schöner wie die Andi'e, paarweis
aufmarschirt, die grösseren zusammen und ihrer siegenden
Gaben sich wohl bewusst; den Eücken deckt die strenge Aya,
die jede Mannsperson als ihren natüi'lichen Feind anglotzt.
Ich hatte mir grösstentheils von Paris her eine ganz falsche
Vorstellung von den englischen Damen gemacht, sie waren
damals so lange von der übrigen Welt abgeschnitten gewesen,
dass sie zu eigenthümlich geworden waren, jetzt sind sie aber
kosmopolisirt absolute Grazien. Sogar das Hausmädchen bei
Goltermann's sieht aus wie eine Prinzessin oder Hebe. Lächerlich
gelehrt sind sie übrigens, die Damen; bei Moscheies fragte
mich eine, ob ich den Kant gelesen hätte, was ich nicht
sonderlich bejahen konnte; auf ihre Versicherung, dass sie ihn
gelesen, konnte ich ihr bloss mit der bekannten Geschichte
von Kant und dem Knopf des Studenten dienen; dagegen war
sie verwundert, dass ich den ganzen Walter Scott gelesen
hätte.
Es ist aber unglaublich, wie patriotisch deutsch man hier
wird! Das weite Meer, was einen vom festen Lande trennt,
macht alles Neue von dort her rührend mchtig und verklärt
alles Zurückgelassene dem reichen England zum Trotz. —
Berlin kommt mir durchaus vor wie ein Eldorado und ein
Mendelssohn'scher Sonntag wie ein Kapitel aus einem Zauber-
roman, alle Ironie wird sentimental und die VorUebe für das
Heimische ist so stark, dass wii* uns für heute Abend das
Wort gegeben haben, zusammen zu kommen, um einmal „besten
Bauern" zu spielen, wobei wir, wenn Goltermann's meinen
Wink verstanden haben, wahrscheinlich deutschen Kartoffel-
salat zum Abendessen bekommen. Ich citire, furcht' ich, Berlin
zu oft und rühme zu Vieles daran, sogar den dortigen Feuer-
lärm habe ich zu vertheidigen gesucht, weil man der Süssig-
166 Leipziger Strasse Nr. 3.
keit des Schlafs erst bewusst wird, wenn man nacli einer
Störung wieder einschläft. —
Mit Berichten für die musikalische Zeitung gehe ich stark
mn, ich habe Oberon gesehen, den Freischütz, werde nächstens
in's SeragUo (Entführung) gehn, und dann noch einige englische
Opern sehn, wozu der Himmel seinen Segen verleihen möge.
Bie Fabrikation einer solchen Oper setzt sich folgendermassen
buchstäblich zusammen: Einer schreibt das Stück in den
neunziger Jahren vorigen Jahrhunderts und ein Mr. Horace
komponirt es; woraus er seine Musik zusammengebracht, ist
fabelhaft und vorhistorisch. Jetzt wird die Oper wieder her-
vorgesucht und von einem neuen Dichter bearbeitet, ein Herr
Cookes oder so schreibt eine neue Ouvertüre dazu, noch ein
Anderer, dessen Namen mir nicht gleich beifällt, macht Gesang-
stücke mit Ausnahme derer für Braham, die dieser sich allein
fabricirt, die Primadonna Mme. Feron chromatischen Andenkens
bringt ihren Part aus Italien mit von Mercadante oder einem
andern Italiäner, und dann noch ein neapolitanisches Volkslied
»dt Variationen — was dann noch bleibt, ist von Horace bei-
behalten. Dieses Stück(werk) hiess sonst the Pirate und hat
jetzt die Vogue unter dem Namen Isidore de Merida oder t}id
De&üs Creek.
Dr. H. hat Verwandte in Deptford, eine Familie B., die
dort eine Fabrik hat, und hat mich da als — Sänger einge-
führt! Man kann in der That nur in einem fremden Lande
und wenn man ganz neu ist, so dreist sein, — mir wurde vor-
her ohne Weiteres die Parthie des Don Juan zugetheilt und
ich habe sie gesungen!! — Deptford ist mehr als eine starke
deutsche Meile von meinem Westend, imd es würde in Deutsch-
land abenteuerlich genug sein, sich dahin zum Thee zu begeben,
hier setzt man sich auf eine der vortrefflichen Stades und ist
in einer halben Stunde dort. — Diese Stages sehe ich nie ohne
das grösste Behagen, vier prächtige Pferde rollen mit dem
grossen Wagen, an dem die Passagiere herumhängen, wie die
Wespen um eine süsse Birne, so munter in's Land hinem, dass
mir's Herz aufgeht, wenn ich an den nächsten Frühling denke,
wo sie mich — an einem Tage 80 Meilen weit — auf den ebenen
Klingemaims erster Brief aus London. 167
Strassen durch das hellgrüne Hügelland voller Städte, Flecken
und Cottages nach Schottland hinbringen sollen. Schon nm
London herum in's Land hinein ist's hübsch, lauter Wohnungen
und Wiesen ringsum, immer in sanften Hügeln, dann und wann
die Themse, einzelne Parks, Felder, — und noch schöneres
Grün draussen, obgleich das Gras schon einen ungewöhnlich
frühen Schnee und Frost ausgehalten hat.
London ist aber zu gross, das habe ich gleich gesagt., doch
sie hören nicht darnach und bauen immer weiter, ganz in's
Lächerliche hinein. Die Häuser werden zuletzt noch die Men-
schen miethen müssen und nicht die Menschen die Häuser, es
ist auch gar kein Ende abzusehen und das Ungeheuer mag noch
manchen Flecken verschlingen, ehe es satt wird. Se. Majestät
unser allergnädigster König bauen auch mannigfaltig, aber nach
derselben Theorie, wie der Hofschneider die königlichen Eöcke
machen muss; der neue Frack wird nämlich einer ganz ähn-
lichen Figur angepasst, der Schneider muss jede vorkommende
Falte herausschneiden und dann wieder zusammennähen. Auf
gleiche Weise wird der neue Palast gebaut; wenn eine Kuppel,
oder irgend ein Vorsprung nicht gefällt, werden sie wieder
heruntergenommen und was anderes dafür hingesetzt. Die
Anlage von Begents FarJc und Regents Street ist aber in der
That das Grossartigste, was ich kenne, beinahe noch schöner,
als die Linden. Das Beste aber ist die City, es ist ein wahres
Vergnügen, sich durch die Massen von Wagen, Kohlenträgem,
Spitzbuben und anderen ehrlichen Leuten bis zu Birch's klassi-
scher Mockturtle-Suppe in der Nähe der Bank durchzuarbeiten!
Es ist wirklich etwas Dämonisches in dem ungeheuren wüsten
Treiben, es ist eine Ordnung da, von der man aber kaum die
Gesetze kennt. — Geht man aber an einem Sonntage durch
die Strassen, in denen man an den Alltagen buchstäblich sein
eigenes Wort nicht hören kann, so erschrickt man fast vor
der Stüle. So melancholisch man auch die englischen Sonntage
auf dem Festlande darstellt, der Kontrast ist doch noch grösser,
als man es sich dort denkt — die Langeweüe schon muss die
Kirchen füllen. Ueber der Stadt hängt der unbeschreibliche
dicke, gelbe Nebel, der auch wohl gar in's Zimmer zieht, alle
168 Leipziger Strasse Nr. 3.
Läden sind geschlossen, die Zeitung erscheint nicht, eine k^g-
liche Glocke jammert die andächtige Gemeinde zusammenj die
englischen Familien amüsiren sich Mittags nnd Abends am
Sonntag oline fremde Hülfe ganz auf ihre eigene Hand, selbst
in der Lektüre wird eine Auswahl getroffen und Theater ist
gamicht denkbar. Mich berührt es freilich nicht, wir sind
regelmässig in einem der landsmännischen Häuser gut aufge-
hoben, aber der allgemeine Zustand überkriecht einen doch zu
Zeiten unwillkürlich und man bekennt sich lowspirited. Dass
wir in Deutschland am Sonntag Theater haben, können sie hier
am wenigsten begreifen, es erscheint ihnen gradezu sündhaft.
Es half mir nichts, dass ich einer Miss dagegen argumentirte,
indem ich fragte, ob ihr ihr Anzug am Sonntag weniger Ver-
gnügen mache, ob sie mit Appetit ässe oder Thee tränke —
es blieb ihr sündhaft. — La einem Stücke haben wir Deutschen
es aber besonders gut hier, man denkt sich, dass wir Alle mit
einer Querpfeife oder einem Piano zur Welt kommen und dass
jeder Deutsche a priori voU Musik steckt. Die guten Leute
haben einen rührenden Sinn für Musik und den unvergleich-
lichsten Magen zum Anhören, wie die Sträusse packen sie
Kieselsteine und Bonbons nebeneinander. Und lang — lang
ist hier alles; ich glaube, Beethoven war ein Engländer. Aber
die Austern! die sind desto kleiner und zierlicher ! Was würde
der grosse F. sagen, wenn er aus meinem Fenster nur über
die Strasse zu sehen brauchte, um sie appetitlich in einem
kleinen hölzernen Gefäss schwimmen zu sehen. Und nicht jene
plumpe, fleischige Holsteiner Masse — nein, so zart und elegisch
— ordentlich sehnsüchtig sehen sie wie Augen aus dem Wasser
heraus, mit waliren Liebesblicken. Und dann der starke, braune
männliche Gesell Porter, in den eigenthümlichen, blanken zinner-
nen Krügen, tapfer schäumend ! Der grosse F. würde roth werden
vor Versrikü-orew.
Ich aber wurde blass von der See. Die See ist der rechte
grosse Durchbruch. Vor einigen Sonntagen sah ich auf einem
Diner eine muntere kleine Frau wieder, mit der ich auf dem
Dampfschiff herübergekommen war. „ You looked very miserabley^*-
sagte sie lachend, ,,yow are qxiite changed now!^^ In der That
Klinsremanns erster Brief aus London. 169
'ö
schaute ich etwas bleichen, wüsten Antlitzes aufs graue Meer,
auf dem Abends der breite Mondschein wie ein unendlicher
Seufzer lag — doch war ich nicht seekrank und hatte in meiner
gänzlichen Apathie grade noch Klarheit genug zum Träumen.
So blieb ich immer auf dem Verdeck, Grog und Schiffszwieback
zu meiner einzigen Nahrung! Einige vielgereiste Gesellen
spielten um Champagner und hatten nachher die Frechheit,
mir ein Glas anzubieten — ich hätt' es ümen aus der Hand
schlagen mögen! Es war mir aber eine Erinnerung an meine
früheren Genüsse verblieben, und ich sah jedesmal mit Neid
den dicken norwegischen Consul seinen guten Kaffee auf dem
Verdeck schlürfen. Eine Dame nach der andern verschwand,
aber die kleine Frau bUeb immer oben, mit hellen Augen, las
vor, Gott weiss was, oder spielte Schach. — Das waren aber
aUes nur Episoden, im Uebrigen war aUes ruhig, heiter und
glatt, die See still und eben, warmer Sonnenschein und milder
Wind, nichts von Sturm und Wellen. Die See ist nicht bloss
ein grosser Durchbruch, sie ist auch ein grosser Gedankenstrich.
Die Elbe gehört schon mit dazu. Wie ich am hellen Morgen
des 1. September in Hamburg am Hafen war, als ein Boot den
einsamen Passagier mit seinen wenigen Habseligkeiten durch
den Schiffslärm und durch die Kommenden, Begleitenden, Ab-
schiednehmenden und Glückrufenden an's Dampfschiff gebracht
hatte, fing der Gedankenstrich an und schnitt die schöne Phrase
ab, — der Dampfkessel brauste den Bass zu dem Liede: „Es
ritten drei Eeiter zum Thore hinaus — ade!"
Doch ich will den empfindsamen Handwerksgesellen sehen,
der nicht höchlich begeistert wird, wenn man das Zeichen zur
Abfahrt giebt und der über dem Eauch aus der Dampfröhre
nicht den aus seiner Mutter Kaffeetopfe vergisst. Am Abend
wurde es vollends prächtig, wir kamen in die offene See, das
Schiff giug höher, der bewusste Mond kam und der Himmel
hing voller Pauken und Trompeten. Die kleine Frau lachte
. zwar über meinen schwindelnden Gang, ich fasste aber Posto in
meiner Erhabenheit, die ich bei Lutter und Wegener wenigstens
mit 2 Thlr. hätte bezahlen müssen, hier aber ganz umsonst
hatte, — die ganze Vergangenheit sank in's Meer und ich stieg
170 Leipziger Strasse Nr. 3.
in das Spinde zu ländlichem Schlaf. Am anderen Tage kam
die Apathie, am dritten Morgen aber lag die Küste von Essex
vor uns, mit weissen Schlössern, grauen Thürmen und braunen
Dörfern. Wir kamen bald in Smooth water^ alle Leiden ver-
schwanden, der innere Mensch wurde wieder konsistent, und
sah munter umher, vor dem Ausfluss der Themse tanzten
Hunderte von Schiffen einen grossartigen Cotülon, von dessen
Ordnung ich nicht mehr verstand, als die antecotillonische Mama
von einem wirklichen, in dem sie ihre Tochter nach allen Rich-
tungen hingetrieben sieht. Jetzt wurde unsere Fahrt ein Tri-
umphzug, freilich ein umgekehrter, den merry England über xms
liieit — der Schiffs-Cotillon wurde in der Themse zur Ecossaise
— in langer Reihe zogen sie hinunter und hinauf, Dampfböte
figurirten als lustige Gesellen und glitten, mit Passagieren und
Musik ausstaffii-t, munter vorbei, — die Dörfer, Landhäuser,
Flecken und Städte an den Ufern sahen vergnügt zu, bis sie
zu immer ansehnlicheren und kompacteren Matronen und aus
ihnen zuletzt London selbst wurde — Schiffe, Schiffe und immer
Schiffe, Masten ohne Zahl, als wären's nur soviel Bohnenstangen
beim Pächter Baumann auf der Meierei. Um 3 Uhr landeten
wir am alten Tower, nach abgemachten Pass- und Acciseweit-
läuftigkeiten fuhr mich ein huii;iger Mach durch die Länge von
London, die ich nicht schon zu Schiffe durchzogen hatte, und
ich sass endlich am Abend glücklich bei Goltermann's, die mir
ihr Haus zum Absteigequartier angeboten, beneidete den nor-
wegischen Consul nicht fürder um seinen Kaffeegenuss und
hörte zufrieden der Diskussion über Trade und das neue Mi-
nisterium im besten EngKsch zu.
Ueber die veinifene Londoner Theuerung kann ich mich
nicht beklagen; als Einzelner lebe ich hier mit 300 Lst. sehr be-
quem, aber die Familien haben's schlimmer, das nöthige Haus und
die Dienstboten erfordern das Doppelte. Ich bin also zu einer
ewigen Jugend verdammt, trotz der Berliner Vorhersagungen
wird aus meiner Einförmigkeit so bald keine Zweiförmigkeit und
ich gewinne Wetten. Einstweilen haben die neuen Umgebungen
mAUches Stück Jugend wieder zu Tage gefördert, so findet
das hiesige Theater einen neuen Menschen an mir, namentlich
Klinsremanns erster Brief aus London. 171
*t>
habe ich englische Lustspiele mit dem grössten Behagen ge-
sehen. Ich mag aber noch nicht entscheiden, ob die Schau-
spieler wirklich so eigenthümüch und natürlich sind, wie
sie mir zum grossen Theil erscheinen oder ob Vieles daran
eben der Neuheit und Fremdartigkeit zuzuschreiben ist. Die
Spieler, die mir bis jetzt als ganz vortrefflich vorkommen,
würden eine ordentliche Liste bilden. Auch das Publikum
scheint mir theilnehmender, es lässt*sich in einer gewissen
kritischen Unschuld durch ki'äftig vorgebrachte Tiraden zum
Klatschen bewegen und lacht bei Spässen herzhaft. An den
Theatereingängen aber, ehe die Thüren aufgemacht werden,
rufen Polizeileute : ., Gentlemeny take care of your pocJcets in going
in — taTce care of pickpochets Gmtlemenl''' — Und ein Jeder
sichert seine Habseligkeiten. Ein hiesiges Blatt, der Herold,
giebt die Zahl der Spitzbuben beiderlei Geschlechts auf
80—100,000 an.
DenU. Decbr. So wenig als Rom in einem Tage gebaut
wurde, ist mein Brief am vorigen Posttag fertig geworden, die
rauhe Hand der Dienstpflicht griff dazwischen. Gestern am
zehnten*) habe ich Hmen, verehrtester Herr Mendelssohn, in
Gedanken alles mögliche Glück gewünscht und hin und her
gerathen, ob all das niedliche junge Volk Ihnen zu Ehi-en
tanzte, pfiff, agirte oder wie es sonst vermummt war — ich
werde es hoffentlich bald erfahren. Ich habe die grösste Sehn-
sucht nach doitigen Neuigkeiten, mich interessirt Alles, selbst
das Strassenpflaster und die litterarische MittwochgeseUschaft.
Sollten Sie, bester Herr Mendelssohn, sich nicht augenblicklich
aufgelegt fühlen, mir zu schreiben, so befehlen Sie es wenig-
stens strenge einem Ihrer hoffiaungsvoUen Kinder — etwa
dem ältesten Sohne — alles so ausführlich wie möglich im
rechten Cbronikenstyle."
Fanny an Klingemann.
Berlin, 23. Decbr. 27.
„Erinnern Sie sich des Datums, an dem Sie Ihren Brief
*) Klingemann irrt sich im Datum. Der Geburtstag Abraham
Mendelssohn's war am 11. December. S. Pag. 72.
172 Leipziger Strasse Nr. 3.
schrieben, berechnen Sie die Zeit der Eeise und es wird sich
ergeben, dass ich schon den Tag nach dem Empfange, mich
von meinen vielen und wichtigen Weihnachtsgeschäften abmüssi-
gend, am Schreibtisch sitze, um die Antwort wenigstens anzu-
fangen. Ein Jeder nämlich von uns betrachtet den prächtigen
Generalbrief als sein specielles Eigenthum und da wir Ihnen
Alle schi-eiben, werden Sie sich's gefallen lassen müssen, dass
wir znweilen zusammentreffen, es ist ja im mündlichen Umgang
nicht anders gewesen und Sie haben wohl so manche Greschichte
zweimal mit anhören müssen, warum nicht zwanzig oder vier-
zig? Von der Seite genommen hat es Derjenige unter uns am
besten, dessen Brief Sie zuerst lesen, die Anderen werden
ohne ihre Schuld zu Papageien.
Je länger Sie uns auf Ihi-en Brief warten Hessen, um
desto mehr hat er uns bei seinem endlichen Erscheinen erfreut
(nehmen Sie das aber nicht als Norm für die Zukunft, von
jetzt an wird die Sache umgekehrt) und wir würden als wahre
Bacchantinnen ihn gewiss zerrissen haben (verschlungen haben
wir ihn wirklich), wenn nicht die Eltern grossmüthig resignirt
und uns die erste Lesung überlassen hätten.
25. Decbr. Die Weümachtslichter sind niedergebrannt,
die schönen Geschenke weggeräumt und wir bringen den ersten
Feiertag still zu Hause hin. Mutter schläft in einer Ecke des
Sophas, Paul in der andern, Rebecka liest mit vieler Andacht
das Modejournal und ich nehme meinen Brief wieder vor. An
Tagen, wie der gestrige, vermissen viör Sie mehr als gewöhnlich
und da gewöhnlich alle halbe Stunde von Urnen die Eede ist, so
ergänzen Sie sich den Satz. Es war übrigens sehr munter und
hübsch gestern. Felix hatte für Rebecka eine Kinder-Symphonie
mit den Listrumenten der Haydn'schen geschrieben, die ^vir auf-
führten und die ausserordentlich komisch ist. Für mich hatte
er ein Stück andrer Natur geschi-ieben, einen vierstimmigen
Chor mit kleinem Orchester über den Choral „Christe, du Lamm
Gottes." Ich habe es heut ein paar Mal gespielt, es ist ganz
wunderschön. Er hat sich überhaupt in der letzten Zeit der
Kirchenmusik zugewendet; zu meinem Geburtstag hat er mir
ein Stück gegeben, neunzehnstimmig füi- Chor und Orchester,
Briefwechsel mit Klingemann. 173
über die Worte „Du bist Petrus und auf diesen Fels will ich
meine Kirche gründen" (aber lateinisch). Ich halte es für eüi
sehr bedeutendes Werk, glaube aber, dass es seine volle Wür-
digung nur in eiuer Aufführung finden kann, wozu wieder eine
grosse Kirche und mancherlei Anstalten gehören. Sie sehen,
wie plausibel das ist. Sehr schön ist, dass D. über einige
Aeusserungen Felixens bei dieser Gelegenheit zu fürchten
anfing, er möchte katholisch geworden sein, und diese Besorg-
niss S. mittheilte, der sie wieder einem Anderen einfiösste, so
dass wir schon besorgten, die Sache würde sich als Stadt-
gespräch gestalten, was aber doch glücklicherweise nicht ge-
schehen ist. —
Wären Sie hier, so würden Sie Ihi'en Witz an der dies-
jähiigen Gelehrsamkeit des gebildeten Publikums üben. Dass
Alexander von Humboldt ein Kollegium an der Universität
liest (physikalische Geographie), ist Ihnen vielleicht bekannt,
wissen Sie aber auch, dass er auf Höchstes Begehren einen
zweiten Kursus im Saal der Singakademie begonnen hat, an
dem Alles Theil nimmt, was nur einigermassen auf Bildung
und — Mode Anspruch macht, vom König und ganzen Hof,
durch alle Minister, Generale, Offiziere, Künstler, Gelehrte,
Schriftsteller, schöne und hässliche Geister, Streber, Studenten
und Damen bis zu dero unwürdigen Correspondentin herab?
Das Gedränge ist fürchterlich, das Publikum imposant und das
Kollegium unendlich interessant. Die Herren mögen spotten
soviel sie wollen, es ist herrlich, dass in unseren Tagen uns
die Mittel geboten werden, auch einmal ein gescheutes Wort
zu hören, wir geniessen dies Glück und müssen uns über das
Spötteln zu trösten suchen. Um uns nun vollends Ihrem Spotte
Preis zu geben, mnss ich Ihnen bekennen, dass wir noch eine
zweite Vorlesung hören und zwar eine von einem Ausländer
gehaltene über Experimentalphysik. Auch dieser Kursus wiid
grösstentheils von Damen besucht. Holtey's Vorlesungen wer-
den dies Jahr ausserordentlich stark gehört. Er hält sie in
einem neuerbauten, mit Gas sehr stark erleuchteten Saal.
Apropos von Gas, denken Sie sich, dass die Crelle'sche Finster-
niss sich in das hellste, nämlich in Gaslicht verwandelt hat
174 Leipziger Strasse Nr. 3.
und dass man jetzt nicht nur die Hand vor Augen, sondern
alle Hände im Saal vortrefflicli sieht. In England sind wohl
alle Häuser ohne Ausnahme mit Gas erleuchtet? Hier nimmt
es auch sehr überhand, wie auch die Trottoirs, für die Sie so
gütig sind, sich zu interessiren. In diesem Herbst hatte Holtey,
dem Einiges aus der Grartenzeitung zu Ohren gekommen war,
nach deren Muster eine sogenannte Thee- und Schneezeitung
gestiftet, zu der Beiträge in eine blecherne, bei uns wohnende
Schachtel geworfen wurden. Sie ward durch äusserst witzige
Aufsätze von Eichhorn und Frank eine Zeit lang gehalten,
ist aber bald genug, wie alles Menschliche, in sich zerfallen.
Die Einleitung bestand in einem Gedicht an — Sie, als einen
trotz seiner Abwesenheit unter uns Lebenden. An meinem
Geburtstag war hier ein sehr hübscher Ball mit einer Masse
von dito Mädchen. Sie hätten hier sein müssen. Könneu oder
wollen Sie sich denn nicht einmal als Courier herschicken
lassen, wie in einen Kuckkasten ein Paar Tage lang in unser
Treiben sehn und sich wieder m Ihren englischen Nebel hüUen ?
TJnsre Sonntage sind garnicht mehr so märchenhaft, der wahre
Humor ist entwichen und Sie müssen am Besten wissen, wer
ihn mitgenommen hat? Schade!
Ihre Aufführung von Don Juan gefällt mir. War er deutsch
oder italiänisch? Es muss eine Wonne sein, einen Engländer
itaüänisch singen zu hören. Sie haben jetzt hier beim König-
städter Theater eine Italiänerin, — Alles, was Sie je in Ro-
manen und Eomanzen von südlicher Gluth, versengender
Gewalt der Augen, junonischer Gestalt, unwiderstehlichem
Zauber der Sprache und Accentuation gelesen haben, vereinigt
Costanza Tibaldi. Sie tritt grösstentheils in Männerrollen auf,
nie gab es einen schöneren Jüngling, auch die Frauenldeidung
ziert sie und ich muss gestehen, ich sah wenig schönere Frauen.
Ihre Stimme ist ein tiefer Alt, ohne besondem Reiz, aber jeder
Laut aus ihrem Munde begeistert. Wenn ich ein Rossini'sches
Duett zweimal mit Entzücken höre! — Zu Ihren englischen
Ohren ist wohl auch noch nicht die musikalische Kunde gedrun-
gen, dass Nägeli Bach's grosse fünfstimmige Messe aus h-moU
herausgiebt! Triumph für die Berliner Enthusiasten, Marx an
Briefwechsel mit Klingemann. 175
der Spitze. Der Mann erwirbt sich wirklich ein grosses Ver-
dienst, denn es kommt ihm nichts dabei heraus und das weiss
er sehr gut." —
Klingemann an Fanny:
London, 22. Januar 1828.
„Wenn ich es hier auf kein ausführliches Schreiben an-
lege, so mag mich der Generalbrief entschuldigen, den ich der
ganzen liebevollen Familie gegenübersitzend geschrieben habe;
hier sollen bloss die Ehrfurcht und der Dank ausgedi'ückt werden,
mit welchen von mir die beglückenden Zeilen meiner zugleich
so gestrengen und so gütigen Gönnerin empfangen sind — kein
Generalbrief kann mich davon dispensirea — auch nicht der
insolente Gedanke, wie viel eine junge Dame, die eine so aus-
gezeichnete Wohlthat erweist, davon nothwendigerweise im
Augenblick des Erweisens selbst schon antecipiren muss. Es
wäre zu hergebracht xmd philisterhaft gewesen, wenn ich dar-
über hätte in Verse verfallen wollen, es würde Ihnen unge-
fähr ebenso originell vorgekommen sein, als wenn Sie Ihr
Partner (muthmasslich ein Offizier) m einem Fränkel'schen
Cotillon fragt: „Mein Fräulein, haben Sie schon viel getanzt
in diesem Winter?" oder, was jetzt dasselbe sein mag: „Mein
Fräulein, wie gefallen Ihnen die Humboldt'schen Vorlesungen?"
— Fangen Sie nur in diesem Augenblick um's Himmelswillen
nicht an, zu glauben, dass ich mich in Ironie gegen die Fort-
schritte auslassen werde, die meine jungen Freundinnen in der
Erkenntniss der chemischen Bestandtheile eines Kragens oder
einer Nusstorte machen, — es sind heilige und nothwendige
Dinge — warum soll eine junge Dame nicht ebenso gut wissen,
wo und wie der Shawl wächst, den sie umhat, wie der Professor,
der ihn in der Anwendung kaum versteht, — und ist es nicht
ganz vortrefflich, wenn wir z. B. den Fall annehmen, Sie würden
mit einem Male nach der Mongolei verschlagen, dass Sie nur
irgend einen Berg oder einen Fluss oder eine Erdart in die
Hand zu nehmen brauchen, um mit der gewissesten Gewissheit
176 Leipziger Strasse Nr. 3.
sagen zn können: Hier bin ich in der Mongolei, folglich so
und so viel Poststationen weit von der Leipziger Strasse Nr. 3
— nnd nun ganz ruhig Pferde bestellen lassen können? Ueber
den Nutzen der Geographie weiss ich keine schönere Geschichte,
als die von dem französischen Employe, der während der Kaiser-
zeit nach Groningen versetzt wird und der nun mit seinen
Angehörigen und Freunden bitter darüber wehklagt, wie es
dort so grausam kalt sei und so weit weg, — weil er statt nach Hol-
land nach Grönland zu kommen glaubt. Nein, meine einzige
Furcht und mein einziger Einwurf liegen anderswo — ich fürchte,
dass jeder noch so gelehrte und würdige Mann Damen gegenüber
etwas närrisch wird, dass hier das Subjekt mit dem Objekt
davonläuft. Zürnen Sie darüber dem Mann nicht, es ist viel
weniger Mangel an Zutrauen in das weibliche Fassungsver-
mögen, als das uns Allen tief innewohnende Verlangen, Hmen
viel lieber zu gefallen, als Sie zu belehren. „Es ist mein
Beruf, Heinz." — Wehe den Zeiten, wo der chevaleresque Süm
ausgerottet ist! — Nur habe ich Ihnen den Vorwurf zu machen,
dass Sie, nach einem falschen, unter Frauen herrschenden
Princip, nichts von der Wissenschaft in's Leben und in den
Brief übergehen lassen — kein Vergleich, kein Büd aus der
Chemie — und sie machen sich doch so gut — ich sollte nur
was davon verstehn! —
Der Tag, wo wir den Messias aufführten, war einer der
schönsten, die man nur sehn kann, ein wahrer Maitag an
Wärme, Sonnenschein, blauer Luft und grünem Rasen — wären
die Bäume grün gewesen, so war das schönste Sehnsuchtswetter
fertig — mein Kollege und ich, wir sassen auf einer Bank am
Serpentine River im Hyde Park und sonnten uns bedeutend —
Schwäne und Engländerinnen zogen zu Wasser und zu Lande
bedeutsam und zierlich an uns vorüber, wir dachten nicht an's
neue Ministerium, sondern führten gute vaterländische Gespräche.
Nachher holte mich St. nach Deptford ab, es war das erste
Mal, dass wir bei Tage hiuausfahren, wir setzten uns also
oben auf die Stage und es war mir, als hätte man mir einen
Scepter in die Hand gegeben, so glorreich und königlich kam's
mir vor, von oben herab auf die vollen Strassen und auf der
Eriefwechsel mit Klingemann. 177
kolossalen Westminster-Brücke in die reiche Themse zu sehn;
trotz der fünf Meilen hörte freilich die uniforme Häuserreihe
nur selten auf, aber wenn man durchblicken konnte, sah man
wieder die unbeschreiblich schönen grünen Wiesen, die in
blauen Hügellinien endigen. Meines Freundes X. Theil-
nahme an meinem Verlust theile ich, ich wusste nur nicht,
dass ich ihm schreiben sollte, — er war abwesend, als ich
davonging, und ich glaube, dass ein Brief von ihm ebenso
gut anfangen könnte: „Bei meiner Eückkehr fand ich Sie
nicht mehr — ,^ als einer von mir mit: „Das grausame
Schicksal riss mich fort, ohne Abschied von Ihnen nehmen
zu können." —
Fanny an Klingemann.
Berlin, 15. Februar 28.
„ Als dero angestellte musikalische Zeitung kann
ich Ihnen wenigstens Einiges berichten: Die Singakademie, in
ziemlich verwickelten Zinsenangelegenheiten befindlich, hat sich
endlich entschlossen, ihrer Würde soviel zu vergeben, um zu
ihrem eigenen Besten zu singen. Mein Symphonie verein schloss
sich diesem löblichen Unternehmen an (bei dieser Gelegenheit
bekam ich ihn doch auch einmal zu hören), und die Ausführung
wäre ganz tadellos gewesen, wären nicht zufäUig — aUe Solo-
sänger verhindert worden, Theil zu nehmen und so geschah's,
dass Köpke die ganze Bass- wie auch Tenorparthie
fast vom Blatt sang. Er leistete viel, das Publikum war
zufrieden und die Aufführung ward wiederholt und soll das
zweite Mal das achte der sieben Weltwunderwerke gewesen
sein. — Wir tanzten indess bei Heyne's einen Walzer und
Galopp nach dem anderen, auf diese Art unverkennbaren Kunst-
und Musiksinn an den Tag legend. — Das Wichtigste im
Musikfache, was seit Ihrer Abwesenheit aufgetaucht ist, ist ein
Galoppwalzer mit Text, von dem die ganze Stadt wiederhaUt,
kein Ball ohne die Melodie, ja man kann nicht zwei Minuten
leben, ohne von ihr verfolgt zu werden, es ist wie der weiland
Die Familie Mendelssohn. L 12
178
Leipziger Strasse Nr, 3
Jägerchor oder voriges Jahr das Gespräch über Mlle. Sonntag.
Ich setze Ihnen das Manuskiipt her:
i
Lott ist todt, Lott ist todt, Ju - le liegt in Ster - ten.
Schech-ner*) todt, Schech-ner todt, Sonn-tag schwimmt in Kan - ten.
f
ß-0^
^ 0 m-
Lot-te hat ein grü - nes Kleid, das will die Ju - le er - ben.
Wo hat sie sie her, wo hat sie sie her, vom englischen Ge - sandten.
Unzählige andere Verse circulii'en, die aber zum Theil nicht
vor weibliche Ohren gelangen." —
Im Jahre 1828 am 18. April fand zum ersten Mal wohl
in Deutschland eines jener allgemein an vielen Orten zugleich
gefeierten Feste statt, die später und namentlich in der Zeit
von 1848 — 1866 so sehr überhand nahmen und dazu dienen
sollten, die Deutschen über die politische Zerrissenheit zu
trösten. Jenesmal handelte es sich um das Dürerjubiläum und
Fanny berichtet darüber an Klingemann ;
Berlin, 14. Aprü 28.
^ — Diesen Winter haben wir bei Moser die meisten Beet-
hoven'schen Symphonien, wenn auch höchst unvollkommen,
gehört. Es ist immer ein Schritt. Sowie wii' überhaupt in
einer Zeit leben, wo in jeder Beziehung Unglaubliches geleistet
wird, so auch in der Kunst, wir mögen es gestehen oder nicht.
Die Passion erscheint unfehlbar im Lauf des Jahres bei Schle-
singer, Schelble in Frankfurt hat einen Theil der Messe mit
Beifall aufgeführt, an allen Ecken rührt es sich, in allen
Zweigen rauscht's, da halte sich einer die Ohren zu und wolle
es nicht vernehmen! Der alte abgelebte Vogel Phönix erwartet
nur seinen Scheiterhaufen, er wii'd ihn schon finden, die Zeit
ist nicht mehr fern, und wir werden grosse Dinge erleben.
Ich weiss nicht, warum mir heut so historisch zu Muthe ist,
dass ich Lust habe, aUes nach Jahrhunderten und Völkern zu
*) Eine damals bekannte Sängerin an der Berliner Oper.
Briefwechsel mit Klingemann. 179
messen? Vielleicht weil Spontini am Busstage den ersten Theil
der Beethoven- und den zweiten der Bach'schen Messe giebt?
"woran ich sehen kann, dass die grössten Talente mit klein-
lichem Sinn das verkehrteste Treiben füliren und dass die Welt
doch mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts schreitet und das EHeine
nicht braucht? Ist das mein Trost? Nein, mein Trost ist,
dass Felix noch ein Jahr in Berlin bleibt, dass er vom Militär-
jahr so gut wie ganz frei ist und dass der Rest sich findet. —
Den 2 0. Nie hätte ich geglaubt, dass das Dürerfest einen
so frohen Tag bereiten und eine so schöne Erinnerung zurück-
lassen würde. Felix hat in 6 Wochen eine grosse Cantate
für Chor und volles Orchester geschrieben mit Arien, Eecita-
tiven und allem Plunder. Dass die flüchtige Arbeit keinen
W^erth für ihn hat, können Sie sich denken; anfangs war er
so wüthend darauf, dass er die ganze Geschichte gleich nach
dem Gebrauch verbrennen wollte, als aber die Proben vorwärts
schritten, die Chöre von der Akademie trefflich gesungen
wurden, bekam er Lust und die wundervolle Dekoration des
Saales und die Liberalität der Anordnungen vollendete die
Freude. Donnerstag Abend war die Hauptprobe, die ziemlich
konfus und unbefriedigend ging, wobei aber Felix sehr ruhig
blieb und Allen versicherte, es werde prächtig gehen. Und
«s ging prächtig! Freitag, den 18. April, am oOOjährigen Todes-
tage Dürer's begab sich die ganze Akademie der Künste, deren
Senat und sämmtliche Eleven der Bau-Akademie am himm-
lischsten Frühlingstag nach dem Saal der Singakademie, der
auf folgende Weise verziert war: die Rückwand des Orchesters
war durch einen roth und gold gemalten Grund abgetheilt, in
der Mitte stand Dürer's kolossale Statue, zu jeder Seite zwei
kleinere weibliche Figuren, einzelne Zweige seiner Kunst dar-
stellend, oben darüber ein Bild in Form der Raphaellogen nach
einem Holzschnitt Dürer's von Dähling, zu beiden Seiten durch
weite grüne Draperien beendet. Die Dekoration machte einen
überraschend schönen Effekt. Das Orchester, aus den besten
Leuten beider Orchester und aus Dilettanten bestehend, folgte
Felixens und Rietzens Leitung, Zelter führte den Chor am
Flügel. Die Damen waren gegen ihre Gewohnheit sehr elegant
12*
180 Leipziger Strasse Nr. 3
und schön gekleidet und sahen fast alle gut ans, das Orchester
gewährte einen herrlichen Anblick. Auch das Publikum war
äusserst festlich und eine feierlichere Stimmung habe ich selten
tei einer so grossen Versammlung gesehen. Felixens c-dur-
Trompeten-Ouvertui-e , vortrefflich ausgeführt, eröffnete das
Fest. Dann folgte eine von T. gehaltene, dreiviertel Stunden
lange und ein Säculum dauernde Rede. Fast nie sah ich eine
freudigere Bewegung im Publikum, als da er von Dürer's
nahendem Tode sprach, ein Gemurmel des Beifalls erhob sich
im Volk und als er nun wirklich endlich schloss, fuhr Alles
wie toll von seinen Sitzen auf. Dann folgte die Cantate, die
gute fünfviertel Stunden dauerte. Die Solos wurden von der
Milder, Stümer, der Türrschmiedt und Devrient gesungen, Alles
gelang so vollkommen und die Aufnahme war so erfreulich,
dass ich mich keiner angenehmeren Stunden erinnere. Gegen
drei Uhr schloss die Feier und gegen vier begann ein Diner
von etwa 200 Personen, grösstentheils Künstler, Gelehrte und
höhere Beamte, wo wir als Gäste des Direktors und Tisch-
präsidenten Schadow geladen waren. Wieviel Ehre und Freude
Felix von bekannten und unbekannten bedeutenden Leuten
widerfuhr, kann ich Ihnen garnicht erzählen, aber das muss
ich hinzufügen, dass er gegen Ende der Mahlzeit von Zelter
und Schadow bei der Hand genommen, von Letzterem herzlich
angeredet und feierlich zum Ehrenmitgliede r'es Künstlervereins
proklamirt wurde, wovon er das Diplom bekam. Zugleich ward
seine Gesundheit ausgebracht und lebhaft aufgenommen. Gestern
verging uns der ganze Tag mit Annahme von Gratulations-
besuchen. Am meisten freut es mich, dass er selbst so sehr
erfreut über diesen Tag und empfänglicher für die ihm er-
wiesenen Eliren als w^ohl sonst war. Ich versichere Sie, er
wird alle Tage vortrefflicher und liebenswürdiger und es ist
kein schwesterliches Vor-, sondern eüi unpartheiisches Urtheil.
Schliesslich bitte ich Sie, Niemandem, weder Bekannt noch
Unbekannt, aus meiner Erzählung mitzutheilen, theils wird mir
Niemand (Sie auch nicht) die nöthige Unbefangenheit zutrauen
und theils würde Felix brummen, wenn er wüsste, dass ich so
viel von ihm ges".hrieben habe.
Briefwechsel mit Klingemann. 181
Schliesslich muss ich Urnen noch sagen, dass wir uns sehr
nach Ihnen sehnen — ach! Herr Klingemann, wer recensirt
denn unsere Stickereien, unsere neuen Kleider, unsere Hüte?
Wer kommt im Vorbeigehn heran und plaudert ein halbes
Stündchen? Wer versteht Unsinn und weiss, wie es einem
andern ehrlichen Menschen zu Muth ist? Alle diese unschätz-
baren Eigenschaften nebst Hirer löblichen Handhabung der
deutschen Sprache müssen nun in London verkommen." —
Dieselbe an Denselben.
18. Juni 1828.
„Ein gelind herab tröpfelnder Eegen aus weicher, warmer
Xuft, ein frischgrüner Rasenplatz, von einem dichten Kranz
herrlichst blühender Eosen umzogen (eine Riesenerdbeere, die
Paul mir eben in den Mund steckt), Frühling von innen und
aussen, Humor und freundlichstes Gedenken der Abwesenden,
das sind etwa die Grundzüge unseres Heut. Sie haben also
auch eine Fussreise gemacht, lieber Klingemann ? Nicht spottend
frag' ich das, sondern wahrhaft erfreut, dass Sie, das stein-
kohlene London auf Augenblicke hinter sich lassend, einmal
geathmet haben, vielleicht gar frische Luft und Flieder. Der
unsrige war schön, Maiblumen und Veilchen in stolzer Fülle,
jetzt treiben die rothen Sommerkinder, Rosen und Erdbeeren,
ihr Wesen und wetteifern im Glühen und Duften. Der Sommer
ist doch schön!
Unsere Pfingsttage waren so beschaffen: Paul hatte sich
mit sieben Schulgenossen und einem Lehrer zu einer Fuss-
wandernng nach Neustadt-Eberswalde in fabriklicher und eisen-,
kupfer- und messinghämmerlicher Rücksicht engagirt, aber der
Magistrat (durch Vater bei dieser Gelegenheit repräsentirt),
der den Lehrer nicht kannte und gerne der Aufsicht eine Auf-
sicht stellen wollte (erkennen Sie daran Hire Preussen?), be-
orderte Felix zu diesem ebenso hohen als geheimen Posten,
der denn auch pflichtschuldigst den unüberwindlichsten Wunsch
äusserte, sich der technologischenJugend anzuschhessen ; aber auch
nicht gesonnen, sich drei bis vier Tage lang grausam zu ennüyiren,
182 Leipziger Strasse Nr. 3.
l)eordert er wiederum drei Freunde, ihm insgeheim zu folgen
und ihn zufällig drüben zu treffen. Arend und Droysen nehmen
wirklich einen Wagen und bereden den kleinen David mitzu-
fahren, der läuft Abends um elf mit Droysen zu Blume, zu
Stegmayern und schafft sich Urlaub, das Geld — so kurz vor
dem Ersten etwas knapp — wird gepumpt, und die lustigen
Brüder treffen kurz nach der Fussgesellschaft drüben ein, man
schwimmt, man fährt, geht, reitet, sieht, David phantasirt
allen Hämmern auf der Geige vor, man vertilgt für sechszehn
Thal er Bierkalteschaale (eine Wahrheit, die ich heut noch
nicht fasse), und indessen hat Vater hier das kalte Fieber,
wie fast alle Menschen, aber leicht und kurz und, als die Jüng-
linge nach acht Tagen ermüdet vom Plaisir nach Hause kamen,
war es bereits vorüber. Was werden Sie aber sagen, dass
am vorigen Sonntag die Frl. M.'s hier waren, dass wir spät
im Garten umhergingen und unter 1826 Seufzern des Jahres
1826 dachten (eine Jünglingsschaar folgte in unbedeutender
Entfernung) und dass wir plötzlich, wie von heiligem Erimieruiigs-
wahnsinn ergriffen, dem Redaktionsplatz zueilten, um die Redak-
tionspappelweide einen Kreis schlössen (wir konnten's mühsam)
und nun feierlich dreunal riefen: Klingemann! Klingemann!!
Klingemann!!! Es war schön, Ihnen hätt' es gewiss gefallen.
Warum wir Urnen von Börne's Hierseiu nichts sagten?
Weil in der Gotteswelt nichts von ihm zu sagen ist. Wir
waren oft der Meinung, dass irgend ein Quidam diesen hüb-
schen Namen angezogen und damit in die Welt gegangen. Dies
ist nicht etwa ein Urtheü nach einmaligem Sehn — wir haben
ihn lange hier gehabt, und allein, mit andern Leuten, Mittags,
Abends und in allen Beleuchtungen kennen gelernt, und nie
hat er sich verläugnet als ein kleiner, schwerhörender und
schwerer begreifender Mann, dem die einfachsten Dinge fremd
und neu sind, der sich wie der gemeine Haufen der Frankfurter
wundert, dass die Berliner auf den Hinterfüssen stehn und mit
den Vorderpfoten essen, und dass die Bäume wirklich hier auch
grün werden, nachdem der Schnee wirklich auch weiss war,
der mir eines Tages ein Buch vorlegte und mich die Zahl
10,430 aussprechen üess, und als ich nun, irgend eine Rechen-
Briefwechsel mit Klingemann. 183
aufgäbe erwartend, ängstlich schwieg, die Prüfung beendet und
sich verwundert erklärte, dass ich eüie fünfstellige Zahl aus-
sprechen könne. Nie haben wir irgend ein bemerkenswerthes
"Wort von ihm gehört, nie auch nur einen Funken, einen Blitz
oder Blick bemerkt, der ihn als bedeutenden Mann bezeichnet
hätte. —
In Deutschland sind merkwürdige Dinge ans Tageslicht
getreten, der zweite Theil zu Faust, sich unmittelbar an den
ersten schliessend. Da ich es erst einmal und schnell gelesen,
so entsage ich jeder näheren Bezeichnung und füge bloss hin-
zu, dass es sich im Ton und Geist bei weitem mehr dem alten
Faust nähert, als Helena, die Sie vielleicht auch noch nicht
gelesen haben ? Leider siud die Sachen nicht einzeln zu haben
und die Subskribenten zur grossen Ausgabe haben erst jetzt
die erste Lieferung erhalten, während von der kleinen schon
drei erschienen sind. Der neue Faust ist ebenfalls Fragment
und schliesst mit der Andeutung: „ist fortzusetzen" — ich
bin auch überzeugt, dass er am Faust schreiben wird, so lange
er lebt, und lang wird er leben, davon bin ich ebenfalls über-
zeugt. Dieser ist bestimmt, das Loos eines Menschen nach
jeder Eichtung hin auf's vollkommenste zu erfüllen, und da er
nicht vor dem Werther gestorben ist, kann ihm das höchste
mögliche Alter nicht entgehen. Aber nun hören Sie eine Nach-
richt, die mich so lange zu lachen gemacht hat, als ich sie
nicht glaubte:
Holtey hat Goethe's Faust für das Königstädter
Theater bearbeitet.
H. JRösicke: Mephistopheles.
Es ist aber wahr! — Wenn Sie ausgestaunt haben, will
ich weiter erzählen. Goethe in seiner jetzigen recht könig-
lichen und weisen Milde und Erhabenheit hat selbst seine Ein-
willigung gegeben. Ich behaupte, er habe bei Holtey's Antrag
nach seiner Weise freundlich in den Bart brummend gesagt:
„Nu — nu — " und hierauf habe Holtey entzückt seine Hand
ergriffen und mit Enthusiasmus geschrieen: „Ich verstehe Sie
und danke Ihnen" — und siehe da, der alte König war zu
stolz, das absichtliche Missverständniss zu heben, denn er dachte:
184 Leipziger Strasse Nr. 3.
„Bringt Ihr mich wohin Ihr wollt, herunterbringen könnt Ihr
mich nicht nnd aufbringen auch nicht mehr, bringt mich also
aufs Königstädter Theater." 0 Spott der HöUe! 0 Ironie
des Schicksals!! In unserm Hause, wo, wie Sie wissen, jede
unschuldige Wettermeinung hartnäckige Partheikämpfe in's
Leben ruft, finden sich alle Nuancen der Beurtheilung, denn
von Mutter an, die für Holtey und jene Bühne eingenommen,
lobt und sich freut, bei Vater vorbei, der ebenfalls für Holtey
eingenommen, gelinde missbilligt, bis zu uns herunter, die wir,
nicht für Holtey eingenommen, aber nicht aus Antipathie, empört
schreien, findet und empfindet Jeder anders. Sobald das Ver-
brechen wirklich begangen worden, sollen Sie das Nähere er-
fahren.
Ihre englischen musikalischen Nachrichten sind ja unbe-
zahlbar. Von Allem, was Sie vierhändig zu besitzen wünschen,
existirt noch nichts so, wer weiss aber, vielleicht nehme ich
mir einmal viele Müsse und mache Ihnen die Ouvertüre zum
Sommemachtstraum; so Heb wie eine Börse oder Brieftasche
würde es Ihnen wohl auch sein. FeUx schreibt ein grosses
Instrumentalstück „Meeresstille und glückliche Fahrt" nach
Goethe. Es wird sehr seiner würdig. Er hat eine Ouvertüre
mit Introduktion vermeiden wollen und das Ganze in zwei
nebeneüianderstehenden Bildern gehalten."
Dieselbe an Denselben.
12. Septbr. 28.
^ A propos Königstadt etsch! Herr Klingemann, ich
schabe Ihnen Rübchen mit dem Finger, Goethe hat sich den
Faust verbeten und es ist nicht mehr davon die Rede. Dies-
mal hat also „die Jugend, die leicht liebende und zürnende",
Recht behalten.
D. 15ten. Einen ganzen Sack voll Neuigkeiten habe ich
wieder über Sie auszuschütten: Erinnern Sie sich noch aus
der präadamitischen Zeit Ihres Aufenthalts in Deutschland einer
sich jährlich an einem anderen Orte versammelnden Gesell-
schaft von Aerzten und Naturforschem? Dieses Jahr haben
sie ihren Sitz in Berlin aufgeschlagen, Humboldt ist ihr Prä-
Briefwechsel mit Klingemann. 185
sident, Lichtenstein ihr Sekretär und ihre Existenz das Ge-
spräch des Tages. Dies ist aber noch nicht Alles. Hmnholdt
der Kosmopolit, der grosssinnigste, liebenswürdigste, gelehr-
teste Hofmann seiner Zeit, giebt ihnen ein Fest, wie es gewiss
diese Stadt noch nicht gesehen hat. Das Lokal ist der Concert-
saal, der Gäste 700, unter ihnen der König, sechs Studenten,
drei Primaner von jeder hohem Schule, sämmtliche Schuldirek-
toren, sämmtliche Naturforscher et le reste. Felix ist ersucht
worden, zu ihi'em Empfange eine Kantate zu schreiben (Sie
sehen, er kommt in Mode) und Eellstab, der glücklicher Weise
ßben zur rechten Zeit aus Spandau zurückkam, hat gedichtet.
Da das Naturforscher-Paradies ein frauenleeres, mahomed'sches
ist, so besteht der Chor nur aus den besten Männerstimmen
hiesiger Residenz und da Humboldt, kein starker Musiker, seine
Komponisten auf eine geringe Personenzahl beschränkt hat, so
hat das Orchester eine kuriose Figur bekommen; es agtren
nänüich nur Bässe und Cellos, Trompeten, Hörner und Klari-
netten. Gestern ist eine kleine Probe gehalten worden und die
Sache soU von gutem Effekt sein. Das Aergerliche dabei ist nur,
dass wir nicht dabei sind. Sie können sich garnicht denken, was
bei dieser Gelegenheit hier für ein komisches Gemisch von Kräh-
winkelei und Grossstädterei zum Vorschein kommt. Die ganze
Anlage, die Aufnahme der fremden forschenden Gäste, die Ver-
einigung grosser Namen zu einem (wenn immerhin auch nur
geselligen) Zweck ist unläugbar grandios, nun weiss, verbreitet
und erforscht aber Jedermann, wieviel Beyermann für die ge-
nannte Summe liefert, was Humboldt die Aufnahme seiner Gäste
kostet und wie die Erfrischungen beschaffen sein werden, die
man von Conrad! zu erwarten hat und „die Jugend" ärgert
sich jedesmal, wenn diese Miseren zur Sprache kommen."
Dieselbe an Denselben.
Berlin, 8. December 1828.
„ Was übrigens Ihre Gratulation zu meinem Geburts-
tage betrifft, so haben Sie vielen Dank dafür, die Reime waren
ein wahres Gedicht. Man hat ihn mir sehr angenehm gemacht,
diesen Geburtstag, xmd ich kann nicht läugnen, dass ich am
186 Leipziger Strasse Nr. 3.
Abend ganz ermattet war, von vielem Besuchempfangen und
Reden und Danken. Felix hat mir dreierlei gegeben, ein Stück
in mein Stammbuch, ein ^Lied ohne Worte", wie er in
neuerer Zeit einige sehr schön gemacht hat, ein anderes Kla-
vierstück, vor kurzem komponirt und mir schon bekannt, und
ein grosses Werk, ein vierchöriges Stück Antiphona et Respon-
iorium^ über die Worte Hora est^ jam nos de somno mrgere etc.
Die Akademie wird es aufführen. Ich gebe gar gern Ihrer Auf-
forderung nach, mich über Felixens Arbeiten näher zu äussern,
obgleich das nicht so leicht ist, wie es wohl aussieht. Im
Ganzen genommen wird er wohl unläugbar mit jedem Werk klarer
und tiefer. Seine Richtung befestigt sich immer mehr und er
geht bestimmt einem selbst gesteckten, ihm klar be^vussten
Ziel entgegen, welches ich mit Worten nicht deutlich zu be-
zeichnen wüsste, vielleicht weil sich überhaupt eine Kunstidee
nicht wohl in Worte kleiden lässt, denn sonst würde Wort-
poesie die einzige Kunst sein, vielleicht auch weil ich mehr mit
Augen der Liebe seinen Schritten folgen, als auf Flügeln des
Geistes ihm vorangehen und sein Ziel ersehen kann. Aller sei-
ner Mittel ist er vollkommen mächtig und so erweitert er von
Tage zu Tage sein Gebiet, als Feldherr die ihm zu Gebote
stehende Gesammtheit der Kunstmittel beherrschend.
D. 27ten December. Weihnachten ist vorübergegangen,
ohne dass es mir möglich gewesen wäre, zur Fortsetzung un-
serer Unterhaltung zu gelangen. Unsre Arbeiten, zwar selir
früh angefangen, aber auch weit ausgedehnter als gewöhnlich,
häuften sich sehr am Ende und alle Zeit musste angewendet
werden, sie fertig zu schaffen. Dazu kommt, dass "svir Frauen-
zimmer, unsern Beschäftigungen zu Folge, weit länger als die
Männer an diese Weihnachtszeit gefesselt, uns mit wirklich
kindischem Sinn so darin gebannt fühlen, dass wir wirklich in
der letzten Zeit vorher keine andere Bestimmung kennen als
stickerliche. Ich bin wenigstens erst in den Feiertagen gewahr
geworden, dass es andre Instrumente giebt als Nadeln und
andre Fäden als seidene. Hätten Sie aber auch unsre Meister-
werke gesehen, wir haben eine Decke gearbeitet, die uns viele
Bewunderung zugezogen hat, und Sie würden gewiss Ihren
Briefwechsel mit Klingemann. 187
Brill mehr als einmal in Bewegung gesetzt hahen, um uns bei
der Arbeit zuzusehen. Unser Weihnachtsabend war äusserst
angenehm und belebt; da unser Haus, wie Sie wissen, nicht
lange ohne junge Garde bestehen kann und die belebende An-
wesenheit der Brüder immer neue Jugend anzieht, so ist auch
jetzt die Zahl wieder voll, und zwar ist die diesjährige Gene-
ration garnicht zu schelten, sie ist geistreich und lebendig im
höchsten Grade. Gans steht als General und beliebter Pro-
tektor der jüngeren Leute oben an. Er ist ein Mensch von
Geist und Wissen und ein sehr belebendes Princip, seine un-
zähligen Ungeschliffenheiten suchen wir Schwestern ihm einiger-
massen abzugewöhnen, wenn er's nur nicht immer wieder ver-
gässe, den guten Willen sich zu bessern hat er wirklich.
Neulich auf einem (beiläufig gesagt, sehr hübschen) Diner bei
den Breslauer Mendelssohn's war er mein Nachbar und bediente
mich mit vieler Artigkeit, als aber die Kirschen kamen, fuhr
er mit der ganzen Hand hinein und frug: „Befehlen Sie?"
Sie dankten aber.
Gans gegenüber steht der senr hübsche und liebenswür-
dige, lebenslustige, studentenhafte, gelehrte Professor der Mathe-
matik Dirichlet, mit dem sich Gans zu prügeln, oder auf gut
Deutsch, zu balgen pflegt, wie ein Schuljunge. Unter dem
Nachwuchs nenne ich Ihnen noch den seit zwei Monaten
zurückgekehrten Hensel, der, ebenfalls sehr munter, manches
zur Belebung beiträgt ; dass die Neuhinzukommenden von Binen
einestheils zu leiden haben, ist keine Frage, da Dir Name sie
beständig wie ein Schatten umschwebt, anderentheils aber
freuen sie sich der Theilnahme am Entfernten und hoffen auch
einst als solche einer ähnlichen theilhaftig zu werden. Droysen,
ein neunzehnjähriger Philolog mit aller Frische und lebendigen,
thätigen Theilnahme seines Alters, einem Wissen über sein
Alter und einem reinen poetischen Sinn und gesunden, liebens-
würdigen Gemüth, für jedes Alter begabt, sagte mir gestern,
wie hübsch sich ihm jetzt Ihr Bild gerundet. Ich forsche die-
sem nach und erfahre, dass er Sie sich ungefähr wie Kietz
denkt!! Nur dass dessen trockener Ernst auf Ihrem Gesicht
zu trockener Komik erwächst. Ich musste laut auflachen und
188 Leipziger Strasse Nr. 3.
entwarf ilim nun ein möglichst lebhaftes Bild Ihres Aeusseren, wel-
ches nächstens noch durch einige Mittheilungen gehoben wer-
den soll. — Diese und noch viel mehr junge Leute waren am
Weihnachtsabend hier. Felix hatte denselben Tag eine aUer«
liebste Kindersymphonie *) komponirt, die zu allgemeinem Spass
zwei Mal gespielt wurde, ein grosser Baumkuchen, den Di-
richlet zum Geschenk erhielt (er ist ein leidenschaftlicher
Liebhaber davon) und der als Dame maskirt ihm erst eine
Liebeserklärung überreichte, lieferte ebenfalls zu tausend Scher-
zen den Stoff.
Felix hat viel und mancherlei Allheiten vor: Er bearbeitet
für die Akademie Acis und Galatea, eine Händel'sche Kantate,
dafür singt die Akademie ihm und Devrient die Passion, die
im Laufe des Winters zu einem wohlthätigen Zweck (dass der
Zweck hier Mittel ist und das Mittel Zweck, begreifen Sie)
aufgeführt werden soU. Zugleich erscheint das Werk bei Schle-
singer, eine Anzahl Platten ist schon fertig, und wird das Jahr
1829 wohl Epoche in der Geschichte der Musik machen. Felix
hat sich noch eine Reihe von Arbeiten bis zu seiner Abreise
vorgesetzt, diese wird im frühen Frühling stattfinden und dann
wird's nicht hübsch in der Welt aussehen für mich." —
Wilhelm Hensel war im Oktober 1828 aus Italien zurück-
gekehrt. Es war zwischen ihm und Fanny ein eigenthünüiches
Verhältniss: Als junge Leute von 28 und 17 Jahren hatten
sie sich kennen und lieben gelernt. Darauf war eine Pause
von fünf Jahren eingetreten, während der die mächtigsten und
verschiedensten Büdungselemente auf beide einwirkten und jede
direkte Mittheilung zwischen ihnen untersagt war. Er hatte die
Zeit im sonnigen Süden im Anschauen und in der Nachbildung des
Höchsten, was in seiner Kunst geschaffen worden, zugebracht ;
sie war in dem belebtesten, geistig angeregtesten Familien-
kreise vom Kinde herangereift zur Jungfrau. Nun fanden sie
sich wieder: der Mann von drei und dreissig Jahi-en, das Mäd-
*) Felix hat demnach — siehe S. 172 — zwei Kindersympho-
nieen komponirt. Nur die eine hat sich erhalten, von der zweiten
war keine Spur aafzufinden.
Brautzeit Fannys. 189
chen von zwei mid zwanzig', — sie waren doch himmelweit ver-
scMeden von den Wesen, die sich fünf Jahr vorher getrennt
hatten; dieselben nur in ihrer Liebe und in ihrem Entschluss
den Vereinigungspunkt für ihre verschiedenen Naturen zu fin-
den. Er, ein auf dem Höhepunkt des Lebens stehender, gereifter
Mann, dem die besten Jugendjahre schon dahingeflossen waren,
jetzt andringend, mit dem Wunsch des langersehnten Besitzes ;
sie, schüchtern, Anfangs wohl scheu über den ihr wieder un-
gewohnten und fremd gewordenen Mann, sich zurückziehend
in den geliebten Kreis der Eltern, Geschwister, Freunde. Die
Eltern, wohl fühlend, dass der Entscheidungsmoment nahe,
dass sie bald die Tochter nicht mehr allein besitzen würden,
dem Fremden vielleicht nicht ganz freundlich begegnend; der
Kreis der Freunde, den Bruder an der Spitze, zuerst mit der,
solch harmonisch geschlossenem Kreise eigenen Exclusivität
sich wehrend gegen den Eindringling, der die Hand ausstreckte
nach einem Besitz, den sich wohl mancher der Genossen selbst
gewünscht haben mochte. Und es waren doch auch auf beiden
Seiten Fehler zu überwinden. Hensel war anfangs eifersüchtig
in hohem Grade, eifersüchtig auf alles, Eltern, Geschwister,
Freunde, Bekannte, ja auf Fanny's Kunst selbst. Er kam
fremd in einen Kreis, der, wie es wohl immer zu geschehen
pflegt, mannigfache, ernsthafte und scherzhafte Beziehungen
hatte und von diesen in einer, dem Uneingeweihten unver-
ständlichen Coteriesprache redete. Dagegen ist der Fremde in-
tolerant, er fühlt sich genirt und beengt, er findet manchen
Witz fade und kann sich in den Gedankengang nicht fügen.
Dem Kreise nun wieder kommt der Fremde steif und hölzern
vor, exclusiv schliesst er sich gegen ein neues, ungewohntes
Element ab, mancher witzige Pfeil wird abgeschossen, den der
Eindi'ingling nicht abwehren kann, weil er die Spitze erst
fühlt, wenn sie längst getroffen. Fanny dagegen war ab und
zu launenhaft, sie konnte sich ihrerseits nicht gleich in den
ihr fremden, alles gar zu ernst und schwer nehmenden Gedan-
kengang des Mannes finden und mochte wohl manchmal mit
einem Scherz abgethan glauben, was ihm ernst war. Auf den
sonnigen Höhen eines sorgenfreien Lebens war sie gewandelt,
190 Leipziger Strasse Nr. 3.
er hatte im harten Kampf um das Dasein gedarht. Und in
angeborener Bescheidenheit, in Geringschätzung des eigenen
Werthes, allerdings auch in ünkenntniss der felsenfesten uner-
schütterlichen Zuverlässigkeit von Fanny's Natur fürchtete er
doch, es möchte unter den andern, glänzenderen jungen Leuten
des Mendelssolm'schen Hauses, in den langen fünf Jahren der
Abwesenheit, ihn der eine oder der andere aus ihrem Herzen
verdrängt haben und argwöhnischen Blickes musterte er an-
fangs den ganzen Kreis. Aber das dauerte doch nicht lange.
Sie hatten beide den ernsten Willen, sich gegenseitig zu ver-
stehen und das half über alles hinweg, beiien war es um volle
Wahrheit, um dauerhafte Aufstellung eines guten Verhältnisses
zu thun, nicht um Vertuschung und äusseren Schein. Eührend
schön sind Fanny's Brautbriefe, die ein günstiges Geschick ihrem
Sohn aufbewahrt hat, die aber leider der Oeff'entlichkeit vorent-
halten bleiben müssen. Täglich Morgens kam Hensel's
Diener und brachte und holte ein Zettelchen des Grusses, oft
ernsten Lihaltes; die ganzen Kämpfe zweier gewissenhaften
Naturen spiegehi sich darin wieder. — Nur ihre Briefe sind
erhalten: den Bruder hält sie der anfänglichen Eifersucht ge-
genüber unerschütterlich fest, aber den Freundeskreis, selbst
die Kunst ist sie bereit aufzugeben. Oft wird sie durch die
Gegenwart gestört, aber sobald sie allein ist, in der Stille der
Nacht, nur dem ideellen Bild des Geliebten gegenüber, wie sie
gewohnt ist, es anzuschauen aus den Trennungsjahren her, fin-
det sie sich sofort zurecht, und allmälig gelingt es ihr, Bild
und Wii'klichkeit in einen Gesichtspunkt zu bringen. Jenen
Brief ilires Vaters hat sie fest im Auge, der ihr die Hausfrau
als den einzigen Beruf des Mädchens aufgestellt hatte, und
sie arbeitet emsig daran, sich mit Hinblick auf den Mann ihrer
Wahl dazu zu bilden. Ernstes Studium seiner Natur, unzwei-
felhafte Verpflichtung der Frau, in dieselbe einzugehn, dabei
aber kein weichliches Nachgeben in Dingen, die sie nicht für
recht und gut erkennen konnte; stete Arbeit an der Lebens-
aufgabe : aus zwei Natui-en ein harmonisches Ganzes zu bilden
und dieses Ganze im Zusammenhang mit den Uebrigen zu er-
halten, — die Erfüllung dieser Pflicht klingt aus allen diesen
Brautzeit Fanny 's. 191
Brautbriefen, zieht sich wie ein rother Faden durch dieselben.
Und so hat sie es erreicht, dass er, der Anfangs sie mit Aus-
schluss der ganzen übrigen Welt allein besitzen wollte, die
Berechtigung der andern Beziehungen gelten liess und selbst
als geliebtes und von ihr über Alles geliebtes Mitglied in den
Kreis eintrat.
Aber auch Hensel arbeitete in seiner Weise ebenso eifrig
daran. Zwar von seinen Briefen ist aus der Brautzeit, wie
schon erwähnt, nichts erhalten ; doch hat der Erfolg bewiesen,
dass er in der Ehe mindestens ebensoviel von seiner Natur
aufgegeben hat, als Fanny von der ihrigen. Er erkannte ihre
hohen und edeln Eigenschaften vollkommen an und liess sie
ungestört walten. Auch aktiv betheiligte er sich an der Arbeit;
und auch hier wieder war es, wie während des italiänischen
Aufenthalts, seine Kunst, die die Brücke wurde und Bresche
für ihn schoss in Aller Herzen. Hauptsächlich wirkte dazu
Felixens Portrait, das Allen sehr gefiel, und das jetzt, wo
Felix selbst im Begriff stand, das Vaterhaus zu verlassen,
doppelten Werth hatte. Fanny schreibt in ihrem Tagebuch,
das seit dem ersten Januar 1829 bis zu ihrem Tode vollständig
vorliegt und von jetzt ab Hauptquelle der Darstellung ist:
^Hensel brachte die Skizze von Felix' Bilde mit, die sehr hell
und schön und prächtig aufgefasst ist. Felix selbst ist ganz
entzückt davon und ich finde, dass er seit diesem Bilde ganz
anders gegen Hensel ist." —
Hatte Hensel durch dies Bild abermals bewiesen, was er
im Ernst zu leisten vermöchte, so zeigte er sich durch eine
kleine Zeichnung dem im Mendelssolin'schen Kreis herrschenden
witzigen Coterieton vollständig gewachsen. Dieselbe ist zu
charakeristisch, um nicht einige Augenblicke dabei zu verweilen.
Sie heisst „das Rad," so nannten nämlich die Eingeweihten den
ganzen Kreis nächster Freunde. Diesen Gedanken fasste der
Künstler auf und stellte nun die ganze Gesellschaft als ein
wirkliches Rad dar: die Nabe, um die sich Alles dreht, ist
Felix in schottischem Kostüm, wegen der englischen Reise,
und Musik machend, der die Delphinen lauschen, ein zweiter
Arion. Die Speichen des Rades sind Fanny und Rebecka, beide
192 Leipziger Strasse Nr. 3.
umschlungen mit dem Notenblatt in der Hand und unten in
Fischottern endigend (so nannte Felix die Schwestern), und
eine grosse Anzal von Personen aus dem Freundschaftskreise
paarweise mit allen möglichen Coteriebezeichnungen in Tracht
und Attributen. So steht das Rad in sich fest geschlossen, ab-
geschlossen gegen die Aussenwelt, AUes auf sich bezogen. Von
Aussen aber, gewissermassen als Ixion auf das Rad geflochten,
gefesselt an einer Kette, deren Ende Fanny hält, ist ein Fremder,
im Begriff, sich iu das Rad hineinzuschwingen, Hensel selbst.
Diese reizend erdachte und reizend ausgeführte kleine Symbolik
der Vorgänge des Jahres 1829 verfehlte denn auch ihren Zweck
nicht. Das Rad öffnete sich und nahm Wilhelm Hensel auf.
Die Verlobung erfolgte am 22ten Januar 1829, und die
Brautschaft und Felixens bevorstehende Abreise waren in der
nächsten Zeit die hellen und dunklen Fäden, aus denen sich
das Gewebe der Tage zusammensetzte. Gleich nach der Ver-
lobung fingen die Proben der Matthäus-Passion von Sebastian
Bach an, deren Aufführung Felixens glänzender Abschied von
Berlin wurde. Es war jener Zeit in den tiefsten Meisterwerken
von Bach und Beethoven ein noch fast vollständig unbekannter
Schatz vermacht worden. Aber grade damals fingen die besten
musikalischen Köpfe an, inne zu werden, dass für die Hebung
dieses Schatzes etwas geschehen müsse, dass dies die vielleicht
grösste musikalische Aufgabe der Zeit sein werde. Wie sie
in den Mendelssohn'schen Kreisen gewürdigt wurde, konnten
wir schon aus Aeusserungen Fanny's in. den Briefen an KUnge-
mann sehn ; FeUx hat an dieser Aufgabe, neben eigenem Schaffen,
sein ganzes Leben lang ernst und gewissenhaft gearbeitet, und
wenn Beethoven und Bach jetzt Gemeingut der deutschen Nation
sind, so ist dies zu einem guten Theil ihm zuzuschreiben. Dies-
mal handelte es sich, wie gesagt, um die Passionsmusik, und
Fanny berichtet darüber an Klingemaiin in folgendem Brief, dem
einige wenige Züge aus dem Tagebuch eingeüochten sind:
Berlin, 22. März 29.
„ Felix schicken wir Ihnen nun bald, er hat sich
ein schönes Gedächtniss hier gestiftet durch zweimalige über-
Erste Aufführung der Matthäuspassion. 193
füllte Aufführung der Passion zum Besten der Armen. Was
wir uns alle so im Hintergründe der Zeiten als Möglichkeit
geträumt haben, ist jetzt wahr und wirklich, die Passion ist in's
öffentliche Leben getreten und Eigenthum der Gemüther ge-
worden. Indem ich Ihnen davon weiter erzählen wiU, schiebt
sich mir Felixens Reise vor und die wird wiederum verdrängt
durch meine Brautschaft und in diesem Cirkel von Begeben-
heiten würde ich keinen Anfang zu finden wissen, wenn ich
nicht aufs Gerathewohl hineingriffe und sagte: Ihr voriger
Brief, in dem Sie so viel, ahnungslos und unbefangen, von den
Miseren und Lächerlichkeiten des Brautstandes erzählen, hat
uns ungemein ergötzt und ich versichere Sie, wir haben uns
nicht im Mindesten getroffen gefühlt. Sie können sich darauf
verlassen, dass wir zu den besseren unseres (Braut-)Standes
gehören und dass andere Leute dabei bestehen können. Fragen
Sie nur meüie Geschwister. Ich finde es übrigens gar nicht
schwer, äusserlich heiter zu sein, wenn man innerlich vergnügt,
ist und sich bei irgend einer Gelegenheit schicklich zu betragen,
wenn man eine leidliche Erziehung genossen hat, und ich bleibe
dabei, die aus „Gefühl" unausstehlichen Brautpaare begreife
ich nicht. Uebrigens kann und wül ich Ihnen nicht verhehlen,
dass Ihre Briefe Ihnen Hensel gewonnen haben, der Sie vor-
her wie die meisten Ihrer entfernten Bekannten nicht kannte.
Schliesslich und letztens danke ich Ihnen, sich in die Keihe
meiner Freundinnen gestellt zu haben, und betheure Urnen,
dass an der Sache nichts geändert wird, wie Ihnen vorläufig
meine rasche Antwort beweisen mag. Mein Gedächtniss, so
todt für Erlerntes, ist unerschütterlich für Erlebtes und alle
Freunde und Genossen einer frischen Jugendzeit sollen wahr-
lich durch keiae Verhältnisse und Verhängnisse daraus ver-
drängt werden. Zudem wird unsre Korrespondenz jetzt durch
Felixens Aufenthalt dort einen neuen Schwung erhalten und
somit gebe ich Ihnen zu bedenken, welcher breite Schatten-
streif in die Sonnenseite meiner Brautzeit fällt. Ich weiss,
Sie lieben ihn für sich und ihn, lieben Sie ihn aber noch mehr,
da er dort Niemand hat, der ihn sonst liebte und Sie der Erste
und Letzte sind, der sich ihm und vor dem er sich zeigen darf
Die Familie Mendelssohn. L 13
^94 Leipziger Strasse Nr. 3.
und wird. Bereiten Sie ihm manche ruhige Stunde, in der er
alte Jahre und neue Augenblicke und tönende Ahnungen künf-
tiger Stunden ausbreite und lenken Sie das Gespräch oft auf
uns, oder vielmehr lenken Sie es nicht ab, denn er wird oft
genug mit dem Herzen und seinem eigenthümlichen, feucht-
glänzenden BUck bei uns sein. Zur Stunde weiss ich noch
nicht, wie es sein wird, wenn er fort ist, aber öde und stumm
denke ich mir's und ich würde mich vor meinem ganzen früheren
Leben schämen, wenn Braut- und Ehestand mich gegen diese
Leere schützen könnten. Hegen und pflegen Sie ihn (geistig)
und lassen Sie ihn für so viele warme Herzen, die er verlässt,
eins wiederfinden. — Und nun verzeihen Sie mir, dass ich so
weich vor Ihnen geworden, oder vielmehr, dass ich's so grade
herausgesagt, denn Sie sind's wohl nicht weniger, aber ironischer.
Ein schönes Andenken, was wir von ihm hierbehalten, ist sein
Bild von Hensel, Lebensgrösse, Kniestück; die Aehnlichkeit
vollkommen, wie man sie nur wünschen kann, em wirklich er-
freuUches, liebenswürdiges Büd. Er sitzt auf einer Gartenbank,
(der Hintergrund eine Fliederparthie aus unserm Garten), den
rechten Arm über die Lehne gelegt, den Linken auf dem Schooss,
mit erhobenen Fingern; dem Ausdruck des Gesichts und der
Bewegung der Hände zu Folge komponirt er. — Von der
Passion also:
Felix und Devrient sprachen schon lange von der Mög-
lichkeit einer Aufführung, aber der Plan hatte nicht Form
noch Gestalt, an einem Abend bei uns gewann er Beides und
den Tag darauf wanderten die Zwei in neugekauften gelben
Handschuhen (worauf sie sehr viel Gewicht legten) zu den Vor-
stehern der Akademie. Sie traten leise auf und fragten be-
scheidentlich, ob man ihnen zu einem wohlthätigen Zweck wohl
den Saal überlassen würde ? Sie wollten alsdann, dadieMusik
wahrscheinlich sehr gefallen würde, eine zweite Auf-
führung zu Gunsten der Akademie veranstalten.
Aber die Herren bedankten sich höflich und zogen vor,
ein gewisses Honorar von fünfzig Thalern zu nehmen und den
Concertgebem die Verfügung über die Einnahmen anheim zu
stellen. Beiläufig gesagt, kauen sie noch heut an der Ant-
Erste Aufführung der Matthäuspassion. 195
wort. Zelter hatte nichts da'\;sider einzuwenden und so be-
gannen die Proben am folgenden Freitag. Felix ging die ganze
Partitur durch, machte einige wenige zweckmässige Abkürzungen
und instrumentirte das einzige Recitativ: „Der Vorhang im
Tempel zerriss in zwei Stücke." — Sonst ward Alles unberührt
gelassen. Die Leute staunten, gafften, bewunderten, und als
nach einigen Wochen die Proben auf der Akademie selbst be-
gannen, da zogen sie erst die längsten Gesichter vor Staunen,
dass solch ein Werk existirte, wovon sie, die Berliner Akade-
misten, nichts wussten. Als das begriffen war, fingen sie mit
wahrem und warmem Interesse an zu studiren Die Sache
selbst, das Neue, Unerhörte der Form interessirte, ier Stoff
war allgemein ansprechend und verständlich, Devrient trug die
Recitative wunderschön vor; v^ie alle Sänger schon von den
ersten Proben an ergriffen waren und mit ganzer Seele an das
Werk gingen, vsde sich die Liebe und Lust bei jeder Probe
steigerte und wie jedes neu hinzutretende Element, Sologesang,
dann Orchester, immer vom Neuem entzückte und erstaunte, wie
herrlich Felix einstudirte und die früheren Proben am Forte-
piano von einem Ende zum Andern auswendig akkompagnirte,
das sind lauter unvergessliche Momente. Zelter, der in den
ersten Proben mitgewirkt hatte, zog sich nach und nach zurück
und nahm in den späteren Proben, sowie in den Aufführungen
mit musterhafter Resignation seinen Sitz unter den Hörern.
Nun verbreitete sich durch die Akademie selbst ein so günsti-
ges Urtheil über die Musik, das Interesse ward in jeder Be-
ziehung und durch alle Stände hindurch so lebhaft angeregt,
dass den Tag nach der ersten Ankündigung des Concerts alle
Billets vergriffen waren und in den letzten Tagen über tausend
Menschen zurückgehen mussten. Mitwoch, den zehnten März *)
war die erste Aufführung, die man, unbedeutende Versehen der
■Solosänger abgerechnet, durchaus gelungen nennen konnte.
Wir waren die Ersten auf dem Orchester; gleich nach Oeflf-
nung der Thüren stürtzten die Menschen, die schon lange ge-
wartet hatten, hinein und der Saal war in weniger als einer
") Es war der elfte.
13*
196 Leipziger Strasse Nr. 3.
Viertelstunde voll. Icli sass an der Ecke, dass ich Felix genau
sehen konnte und hatte die stärksten Altstimmen neben mich
genommen. Die Chöre waren von einem Feuer, einer schla-
genden Kraft und wiederum von einer rührenden Zartheit, wie
ich sie nie gehört, ausser bei der zweiten Aufführung, wo sie
sich selbst übertrafen. In der Voraussetzung, dass Ihnen die
dramatische Form noch erinnerlich ist, schicke ich Ihnen ein
Textbuch mit, wobei ich bemerke, dass Stümer die Erzählung
des Evangelisten, Devrient die Worte Jesu, Bader den Petrus,
Busolt den Hohenpriester und Pilatus, und Weppler den Judas
sang. Die Schätzel, Milder und Türrschmiedt sangen die Sopran-
und Altsolos vortrefflich. — Der überfüllte Saal gab einen Anblick
wie eine Kirche, die tiefste Stille, die feierlichste Andacht herrschte
in der Versammlung, man hörte nur einzelne unwillkürliche
Aeusserungen des tief erregten Gefühls; was man so oft mit Unrecht
von Unternehmungen dieser Art sagt, kann man hier mit wahrem
Hecht behaupten, dass ein besonderer Geist, ein allgemeines,
höheres Interesse diese Aufführung geleitet habe und dass ein
Jeder nach Kräften seine Schuldigkeit, manche aber mehr tha-
ten. So Rietz, der das Ausschreiben aller Instrumentalstimmen
mit Hülfe seines Bruders und Schwagers übernommen und denen
Dreien man nach beendeter Arbeit kein Honorar aufzudringen
vermochte; die meisten Sänger wiesen die ihnen zugedachten
Freibillets zurück oder bezahlten sie, sodass im ersten Concert
nur sechs Freibillets waren (wovon Spontini zwei hatte), im
zweiten gar keins. Noch vor der Aufführung war durch die
Vielen, die unberücksichtigt bleiben mussten, das laute Geschrei
um eine Wiederholung ertönt und die Erwerbschulen hatten
sich als Supplikanten gemeldet, allein diesmal war Spontini
erwacht nnd bemühte sich mit der grössten Freundlichkeit, die
zweite Aufführung zu hintertreiben, Felix und Devrient schlu-
gen dagegen den gradesten Weg ein und verschafften sich Be-
fehle vom Kronprinzen, der sich von Anfang an sehr für das
Werk interessirt hatte und so ward es Sonnabend, den ein und
zwanzigsten März, an Bach's Geburtstag wiederholt: dasselbe
Gedränge, noch grössere Fülle, denn der Vorsaal sogar war
eingerichtet und alle Plätze verkauft, ebenso der kleine Probe»
H. Heine. Gans. 197
«aal hinter dem Orchester. Die Chöre waren fast noch vor-
trefflicher als das erste Mal, die Instrumente herrlich, nur ein
arger Fehler, den die Milder machte, und andre kleinere in
den Solostimmen verdarben Felix den Humor, im Ganzen kann
man aber sagen, dass gute Unternehmungen sich keinen erfreu-
licheren Erfolg wünschen können. —
Heine ist hier und gefällt mir garnicht; er ziert sich.
Wenn er sich gehn Hesse, müsste er der liebenswürdigste un-
gezogene Mensch sein, der je über die Schnur hieb, wenn er
sich im Ernst zusammennähme, würde ihm der Ernst auch wohl
anstehen, denn er hat ihn, aber er ziert sich sentimental, er
ziert sich geziert, spricht ewig von sich und sieht dabei die
Menschen an, ob sie ihn ansehn. Sind Ihnen aber Heine's
Reisebilder aus Italien vorgekommen? Darin sind wieder prächtige
Sachen. Wenn man ihn auch zehnmal verachten möchte, so
zwingt er einen doch zum elften Mal zu bekennen, er sei ein
Dichter, ein Dichter! Wie klingen ihm die Worte, wie spricht
ihn die Natur an, wie sie es nur den Dichter thut.
Beinahe hätte ich vergessen, Ihnen zu danken, dass Sie
erst aus meiner Verlobungskarte geschlossen haben, ich sei ein
Weib wie andere, ich meinestheils war darüber längst im Kla-
ren, ist doch ein Bräutigam auch ein Mann wie andre. Dass
man übrigens seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jedem
Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt
bekommt, ist ein Pimkt, der einen in Wuth und somit um die
Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch das üebel
ärger würde. —
Hensel fängt jetzt ein lebensgrosses Bild, fast ganze Figur,
von Gans an, der, überhaupt halb Mensch und halb Kind oder
Wilder, eine unendliche Freude hat, sich auf der Leinewand
zu sehen. Er kommt viel zu uns und findet grossen Geschmack
an Eebecka, der er auch eine griechische Lehrstunde aufge-
zwTingen hat, in der diese beiden gelehrten Personen den Plato
lesen. Groteskeres kenne ich nicht. Dass man aus dieser pla-
tonischen Verbindung eine reelle macht und sie in der ganzen
Stadt versprochen sagt, versteht sich von selbst, es ist aber
garnicht daran zu denken.
198 Leipziger Strasse Nr. 3.
Und nun sagen Sie mir, ob je ein plauderhafterer Brief
geschrieben ward? Sie wollten in einen Brautbrief keine Zei-
tungsnachrichten setzen, ich bitte Sie aber in Ihrem nächsten
ein Wort über die Rolle der Katholiken-Emancipation in der
Londoner Gesellschaft zu sagen, davon wissen die Zeitungen
nichts. Ich verfolge diese Sache aufmerksam und antheilvoll,
was mich aber dabei wie bei aller Politik ennüyirt, ist, dass
ich fürchte, es kommt nicht viel dabei heraus; halbe Jahre
lang sclireien sie und am Ende muss man die Resultate mit
der Laterne suchen. Uebrigens interessiren einen die Nachi^ich-
ten doppelt, wenn sie aus einem Lande kommen, wo man einen
Freund hat. Ich meinestheils kann nie die Ueberschrift „Lon-
don" lesen, ohne zu vermuthen, dass ich Ihren Namen unter
denen der Peers, oder als Bittsteller wider die Katholiken oder
auf andre Art lesen werde, und ich traue Ihnen soviel Gefühl
zu, dass Sie bei der Lesung der Berliner Zeitung oft er-
warten werden, mich als Inhaberin des Rothen Adlerordens
oder als Hofrath oder Auktionskommissarius figuriren zu
sehen." —
In dieser Zeit verkehrte eine grosse Menge der interessan-
testen Personen im Mendelssohn'schen Hause : ausser H. Heine
zeigt der Band VITL. der Portraitsammlung Hensel's noch die
wohlgetroffenen Bilder von Paganini, der Müder, des Dichters
Ludwig Robert und seiner berühmt schönen Frau Friderike
Robert und Hegels ; Alexander von Humboldt, der damals sich
viel mit Magnetbeobachtungen beschäftigte, hatte hinten im
Garten ein eigenes Observatorium wegen der dort herrschenden
Stille und Ruhe, und er und Professor Encke waren so fast
tägliche und manchmal auch nächtliche Besucher des Gartens,
wenn die Beobachtungen es erforderten. — Es gab dabei ein-
mal einige Jahre später eine sehr komische Scene, die Fanny
Hensel folgendermassen beschreibt: ^ Eine romantische
Geschichte, die neulich hier vorgefallen ist, muss ich Euch doch
erzählen. Ich höre in der Nacht, dass Jemand zu einer Seite
der Schlafstube hereintritt und zu der anderen wieder hinaus-
geht, ich rufe — keine Antwort — Wilhelm wacht auf und
schreit: In's drei Teufels Namen, wer ist da? und herein mit
Nachtabenteuer von Professor fincke. 199
bedächtigem Schritt Luise *) tritt und sagt, wie sie schon eine
ganze Weile Diebe im Saal höre, sie seien auch mit der La-
terne in den Garten gegangen und sie habe es für ihre Schul-
digkeit gehalten, zu wecken, sie habe aber bloss das Mädchen
wecken wollen und es sei ihr leid, uns gestört zu haben.
Wilhelm steht auf, nimmt die rothe Bettdecke um, lässt sich
von Luisen in Nachtjacke und Mütze vorleuchten und marscliirt
mit gezogenem Säbel dem Saal zu. Die Thüre wird aufgerissen
und es war auch hohe Zeit, denn eben war der Dieb mit der
Laterne im Begriff, nach der Gartenseite zu entweichen. Als
er aber Geräusch hört, sieht er sich um und wie er einen
blossen Säbel erblickt, läuft er fort. Wilhelm ihm nach. Der
Dieb musste aber sehr gut Bescheid wissen, denn er nimmt
seinen Weg grade nach des Gärtners Wohnung hin. Erst als
sich Beide in seiner Stube befinden, stehen sie still und Ver-
folger und Verfolgter brechen in ein lautes Gelächter aus:
Herr Professor Hensel — Herr Professor Encke sind Sie's?
Bitte tausendmal um Vergebung, ich habe Sie für einen Eäuber
gehalten — und meine Schwester Sie für einen Dieb. Wie
Luise mit ihrer Wachsamkeit geneckt worden ist, könnt Ihr
Euch denken." —
") Hensel's Schwester und damalige Hausgenossin.
Felix in England 1829.
Am 10. April 1829 reiste Felix nach England ab, sein
Vater und Eebecka begleiteten ihn bis Hambui'g und dahin
richtete Fanny folgenden Abschiedsbrief:
Den 15. April 1829.
„Obschon wir erst gestern geschrieben haben, treibt mich
doch die Lust, Dir am letzten Tage vor Deiner Einschiffung
noch ein paar Zeilen zu schicken. Nenne es, wie Du ^vollst,
nenne es meinetwegen Sentimentalität, ärger kannst Du es
doch nicht nennen und es macht mir Vergnügen, aus unserer
jetzigen Zweisamkeit hinüberzugucken in Dein jetzt vielfach
bewegtes Leben, wenn Du auch weit entfernt bist, in diesem
Augenblicke Zeit für meine Anschaulichkeit zu haben, so thut
das nichts, es ist schon eine alte Rede: jeder schreibt an sich;
ich schreibe an mich.
Also wenn Du diesen Brief bekommst, so heisst es: mor-
gen nach England. Du hast es mir einmal bei einer Gelegen-
heit gesagt, wie man sich leicht überwältigt fühlt, wenn man
so ein Stück Leben in der Hand hält, so ist es jetzt wieder.
Oiebt es wohl eiuen grösseren Buchdruckerstock, als dies zwar
verbindende, aber denn doch sehr scheidende Meer, das
eigentliche Scheidewasser, die Chemie sage was sie wolle. Und
da so allein, frei, jung zu sein^ mit Deinen Kräften und mit
Deinen Aussichten. Es ist gewiss unser eigenster Vortheil
Abschiedsbrief an Felix. 201
und eine nicht genug zu berücksichtigende Artigkeit vom
Himmel, dass Du Du bist und so möge es denn bleiben. —
Was Dich, und wärest Du eben spleenisch trotz dem
besten Engländer, zum Lachen bringen muss, ist, dass die
Milder gestern Deine Arie mit mir im Nebenzimmer probirte
und sehr entzückt davon ist, — dass ich sie ihr aber dennoch
punktiren soll. Giebt es etwas Tolleres? Ich fand die Zu-
muthung lächerlich genug, werde sie aber dennoch erfüllen,
da ich an der Handschrift der Partitur untrüglich erkannt
habe, wie Dir die Sache zum Halse herauswuchs.
Ich adressire den Brief an Dich, o Beckchen, damit Du,
im Falle er Felix nicht mehr trifft, damit verfahren mögest,
wie Du meinst. —
Tausend Grüsse an Vater von mir und Mutter, die in den
Garten gegangen ist, um es grün werden zu sehen. Ach!
dass man das Alles jetzt ohne Dich (ich meine Felix) gemessen
soU!" —
Fanny.
London, 2L April 1829.
Liebster Vater und liebstes Beckchen!
^Soeben in London glücklich angekommen, will ich nichts
Anderes eher thun, als Dir von meiner Ankunft sogleich Nach-
richt zu geben. Unsere Fahrt war nicht schön und sehr lang,
denn wir sind erst heute (Dienstag) um 12 Uhr im Cmtom-
hotise gelandet, von Sonnabend Abend bis Montag Nachmittag
hatten wir den Wind entschieden entgegen und solchen Stui^m,
dass die ganze Schiffsgesellschaft seekrank wurde; wir mussten
einmal des dicken Nebels wegen, ein andermal, um die Maschine
in Ordnung zu bringen, einige Zeit still liegen; noch vorige
Nacht mussten die Anker an der Mündung der Themse ge-
worfen werden, um nicht auf andere Schiffe zu stossen ; dazu
nimm, dass ich von Sonntag früh bis Montag Abend mich von
Ohnmacht zu Ohnmacht schleppte, vor Ekel an mir selbst und
an allen Uebrigen auf Dampfschiff, England und namentlich
auf meine« Meeresstille fluchend, den Auf Wärter nach Kräften
202 Felix in England 1629.
scheltend und ihn endlich Montag Mittag fragend, ob man nun
endlich London sehen könne, worauf er gleichgültig erwiderte,
dass wir vor Dienstag Mittag nicht daran zu denken hätten,
dann aber, um auch von der Lichtseite zu sprechen, gestern
Abend den Mondschein auf dem Meere, und viele Hunderte
von Schiffen um uns herumschleichend, heute früh die Falirt
auf der Themse, zwischen grünen Wiesen, rauchigen Städten,
mit zwanzig Dampfbooten um die Wette rennend, alle Kähne
bald überflügelnd und endlich der fürchterlich massenhafte An-
blick der Stadt! Meine Ideen sind noch so ungeordnet, wie
die vorige Phrase, und ich schreibe diesen Brief nur, um Dich
von meiner glücklichen Ueberfahrt zu benachrichtigen, drum
mach auch weiter keine Ansprüche daran; ich will sogleich
nach Berlin schreiben, weil eine Post über Eotterdam in vier
Tagen da ankommt, muss auch nach meiner Wohnung gehen
(denn ich sitze hier noch in Klingemann's Stube, den Geschäfte
abhalten, sich eigenhändig zu empfehlen), muss Moscheies auf-
suchen, der mich erwartet, muss zu Mittag essen, was ich
seit drei Tagen nicht gethan habe (o ich bin sehr elend), muss
mich rasiren lassen, kurz, muss erst wieder Menschengestalt
annehmen. Auf Wiedersehen."
Felix.
London, 25. April 29.
^Es ist entsetzlich! Es ist toll! Ich bin confus und ver-
dreht! London ist das grandioseste und complicirteste Unge-
heuer, das die Welt trägt. Wie kann ich in einen Brief
zusammendrängen, was ich in drei Tagen erlebt habe ? Kaum
weiss ich mich noch der Hauptsachen zu entsinnen und doch
darf ich kein Tagebuch führen, sonst würde ich wieder etwas
weniger erleben müssen ; das will ich aber nicht, sondern Alles
mitnehmen, was sich mir darbietet. Es geht um mich herum
wie in einem Strudel und dreht sich und reisst mich fort, im
letzten halben Jahre in Berlin habe ich nicht so viel Contraste
und so viel Verschiedenes gesehen, als in den drei Tagen. Aber
geht nur einmal von meiner Wohnung rechts ab Regent Street
hinunter, seht die glänzende, breite, mit Säulenhallen besetzte
Erster Eindruck von London. 203
Strasse (leider liegt sie heut schon wieder im dicken Nebel)
und seht die Läden mit mannshohen Inschriften und die stage
coaches^ auf denen die Menschen sich aufthürmen, und wie hier
eine Reihe Wagen von den Fussgängern hinter sich gelassen
wird, weil es sich dort vor eleganten Equipagen gestopft hat,
und wie sich hier ein Pferd hochbäumt, weil der Reiter Be-
kannte in jenem Hause hat, und wie die Menschen gebraucht
werden, um Ankündigungszettel herumzutragen, auf denen man
uns die graciösen Kunstleistungen gebildeter Katzen verheisst
und die Bettler und die Mohren und die dicken John BuUs
mit ihren dünnen, schönen zwei Töchtern an den Armen. Ach
diese Töchter! üebrigens seid ruhig, es ist keine Gefahr in
dieser Hinsicht, weder in dem damenreichen Hydepark, wo ich
gestern fashionabler Weise mit Mad. Moscheies umherfuhr,
noch in den Concerten, noch in der Oper (denn da war ich
schon überall), nur an den Ecken und Querstrassen ist Gefahr
und ich sage mir da oft mit wohlbekannter Stimme leise vor:
nehmen Sie sich in Acht, dass Sie nicht unter die Wagen
kommen. Das Gewirre! Der Strudel! Ich will nur historisch
werden und ruhig erzählen, sonst erfahrt Ihr gar nichts, aber
könntet Ihr mich nur sehen, neben dem himmlischen Flügel,
den mir Clementi's eben für die Dauer meines Hierseins ge-
schickt haben, am lustigen Kaminfeuer in meinen vier Pfählen,
mit Schuhen und grau durchbrochenen Strümpfen und oUven-
farbenen Handschuhen (denn ich muss nachher Besuche machen)
imd nebenan mein immenses Himmelbett, in dem ich Nachts
spazieren liegen kann, mit den bunten Gardinen und alter-
thümlichen Möbeln, meinen Frühstücksthee mit trockenem toast
noch vor mir, die servant girl mit PapiUoten, die mir eben
meine neugesäumte schwarze Binde bringt und nach Befehlen
fragt, worauf ich englisch höflich mit dem Kopf nach hinten
zu nicken versuche und die vornehme, in Nebel gehüllte Strasse,
und könntet Ihr nur die erbärmliche Stimme hören, mit der
dort unten eben ein Bettler sein Lied anstimmt (er wird aber
von den Verkäufern fast überschrien), und könntet Ihr ahnen,
dass man von hier nach der city drei viertel Stunden fährt
und nun auf dem ganzen Weg und bei allen Durchsichten nach
204 Felix in England 1829.
den Querstrassen denselben und noch weit grösseren Skandal
erlebt und dass man dann etwa ein Viertel des bewohnten
London erst durchschnitten hat, so mögt Ihr Euch erklären,
dass ich halb verrückt bin. Aber historisch!
Nachdem ich den letzten maladen Brief an Euch abge-
schickt hatte, führte mich Klingemann vor Allem nach einem
englischen Kaffeehaus (denn hier ist Alles englisch), natürlich
las ich gleich die Times, und da ich als guter Berliner zuerst
nach dem Theater sah, erfuhr ich, denselben Abend sei Othello,
und die f,rst appearance der Mde. Malibran; trotz Müdigkeit
und Seekrankheit entschloss ich mich also hinzugehen ; Klinge-
mann lieh mir die nöthigen grauen Strümpfe, da ich die
meinigen in der Eile nicht finden konnte und doch in der Ita-
liänischen Oper in vollem Staat mit schwarzer Binde erscheinen
musste, wie alle noble Welt ; dann gings nach meiner Wohnung,
von da nach der Italiänischen Oper kings theatre, wo ich in
den pits Platz fand (kostet eine halbe Guinee). Grosses Haus,
ganz mit purpurnem Zeuge besetzt, sechs Reihen Logen
übereinander, mit pui'purnen Vorhängen, aus denen die Damen-
gesichter herausschauen, mit weissen grossen Federn, Ketten,
Juwelen aller Art überdeckt, ein Geruch von Pomade und
Parfüms strömt einem beim Eintreten gleich entgegen und
machte mir Kopfschmerzen, in den pits alle Herren mit neu-
frisirten Backenbärten, überall gedrängt voll, das Orchester
recht gut, dirigirt von Herrn Spagnoletti (im December will
ich ihn nachmachen, es ist zum Todtlachen), Donzelli (Othello)
voll Bravour, sinnreichen Verzierungen, schreit und stösst
schrecklich in die Stimme, singt fast immer ein wenig zu
hoch, aber mit unendlichem haut goüt (dahin rechne ich z. B.,
dass er in der letzten Wuthscene, wenn die Malibran fast un-
angenehm stark schreit und raset, alle Schlussfälle der Reci-
tative, die er sonst heraustrompetet, nur ganz matt und leise
und kaum hörbar hinwirft und dergl.). Die Malibran, eine
junge, schöne, herrlich gewachsene Frau mit toupirten Scheiteln,
voll Feuer, Kraft, Coquetterie dabei, die Verzierungen theils
sehr gewandt und neu erfunden, theils der Pasta nachgeahmt
(so "v^Tirde mir ganz wunderlich, als sie die Harfe nahm und
Italiänische Oper. 205
ich merkte, wie sie der Pasta alles in der Scene genau nach-
sang und endlich auch die sehr umherschweifende Stelle am
Ende, die Dir, lieber Vater, gewiss noch im Gedächtniss sein
muss), dabei spielt sie schön, macht gute Stellungen, nur über-
treibt sie alles das leider sehr oft und grenzt oft an das
Lächerliche und Unangenehme. Doch will ich sie immer hören,
nur morgen nicht, weil sie wieder Othello giebt, und den werde
ich nur hören, wenn die Sonntag etwa drin auftritt, die man
in diesen Tagen erwartet. Levasseur ist übrigens ein ziem-
licher Bierbass und Curioni ein Halbbiertenor, doch wird Alles
wüthend applaudirt, mit Händen und Füssen. Nach dem zweiten
Akt kam ein langes Divertissement mit Sprüngen und Abge-
schmacktheiten, ganz wie bei uns, das dauerte bis halb zwölf
Uhr, ich war halb todt vor Müdigkeit, hielt aber doch aus bis
ein Viertel auf eins, wo die Malibran eben abgestochen wurde
und dabei widrig ächzte und schrie, da hatte ich genug und
ging nach Hause. Aber das Theater war noch lange nicht
aus, denn es kam nachher noch das berühmte Ballet la somnam-
lule: ich hatte mich aber inzwischen immer an der Bank fest-
gehalten, weil mir noch war, als schaukelte das ganze Haus
hin und her, und dies Gefühl hat mich bis gestern nicht ver-
lassen und mich heut Nacht zuerst nicht im Schlafe gestört.
Tags drauf, als ich noch fest schlafe, fasst mich eine weiche
Hand leise und sehr bedächtig an, und das konnte Niemand
sein als Moscheies, der wohl eine Stunde vor meinem Bette
sass und mir alle möglichen Nachweisungen gleich gab ....
Wie sich Moscheies und seine Frau gegen mich benehmen,
dafür kann ich keinen Ausdruck finden; was mir nur irgend
angenehm, nützlich, ehrenvoll sein kann, wissen sie mir zu
verschaffen ; er fuhr gestern Vormittag trotz seiner überhäuften
Geschäfte mit mir herum, zu Latour, Gramer, Clementi's, Neu-
komm, und da ich gestern Abend bei ihm durchaus meine Cello-
Variationen spielen musste und mit der Abschrift der Stimmen
nicht ganz fertig geworden war, so schiieb er mir die fehlende
Hälfte dazu, während ich zum Essen aus war; sie führte mich
gestern in ihrem eleganten Cabriolet nach Hyde Park, heut
will sie mir ebenso Regents Park zeigen; denkt Euch mich
206 Felix in England 1829.
in einem Cabriolet mit einer Dame spazieren fahrend! mich!
(in meinem neuen Dress verstellt sich). Dann brachte sie
mich zu Bülow, und als ich die lange Visite beendigt hatte
und herunterkam, hatte sie im Wagen auf mich gewartet, weil
ich den Weg nicht allein finden könne; kurz, Beide sind die
Freundlichkeit selbst." —
1. Mai 1829.
„Es geht mir übrigens sehr gut, die Lebensweise bekommt
mir vortrefflich, die Stadt und die Strassen finde ich ganz \^Tin-
derschön, auch bekam ich wieder einigen Respekt, als ich
gestern im offnen Cabriolet nach der City auf einem andern
Wege fuhr und überall dasselbe Leben fand, überall die Häuser
von oben bis unten mit grünen, gelben, rothen Zetteln beklebt,
oder mit mannshohen Buchstaben bemalt, überall das Geschrei
und der Rauch, überall das Ende der Strassen in Nebel gehüllt
und alle Augenblicke eine Kirche, oder ein Markt, oder ein
grüner square, oder ein Theater, oder eine Durchsicht auf die
Themse, auf der die Dampfschiffe jetzt durch die Stadt fahren
können, unter allen Brücken fort, weil man die Erfindung ge-
macht hat, die grossen Röhren - Schornsteine wie einen Mast
niederzulassen. Gucken nun noch die Mastbäume aus den West-
indischen Docks hinüber, und sieht man einen Hafen, etwa so
gross wie der Hamburger, hier als Teich behandelt, mit
Schleusen versehen, und die Schiffe nicht einzeln, sondern nur
haufenweise geordnet, wie die Regimenter aufmarschirt, so
muss man sich freuen über die grosse Welt. — Neulich war
ich im Kabinet des Dr. Spurzheim, das ein junger Arzt zeigte.
Eme Partie Mörder gegen eine Partie Musiker gehalten, inter-
essirte mich sehr, und meine Physiognomik erhielt starke
Bestätigung ; auch ist wirklich der Unterschied zwischen Gluck's
Stirn und der eines Vatermörders höchst auffallend und wohl
nicht zu bezweifeln. Wenn aber die Leute nun so in's Detail
gehen, mir zeigen zu w^ollen, wo Gluck's Musik sitzt und wo
seine Erfindungskraft, oder wo des Sokrates Philosophie am
Schädel sich zeigt, so ist das zwar sehr precär und (wie mir
scheint) unwissenschaftlich, führt aber doch zu sehr interessanten
Ball bei dem Herzog von Devonshire. 207
Resultaten, nämlich zu folgenden: eine junge hübsclie Englän-
derin, mit der ich da war, bekam Lust zu wissen, ob sie zum
Stehlen oder sonst zu Missethaten Neigung habe, und es kam
dahin, dass die ganze Gesellschaft sich phrenologisch untersu-
chen liess ; wie nun der Eine gutmüthig befunden wurde und der
Andere kinderliebend, jene Dame muthig, diese habsüchtig, und
wie besagte Engländerin sich die langen blonden Haare auflö-
sen musste, weil der Doktor sonst kein Organ fühlen konnte,
und wie sie dabei sehr hübsch aussah und sich's dann vor dem
Spiegel wieder ordnete, so liess ich die Phrenologie sehr hoch
leben und lobte Alles ungemein. Dass ich Musiksinn haben
musste und Einbildungskraft, konnte nicht fehlen; der Doktor
fand später, ich sei ziemlich habsüchtig, liebe die Ordnung und
kleine Kinder und machte gern die Cour; die Musik sei aber
vorherrschend. Uebrigens muss ich am Dienstag von meinem
ganzen Kopf, mit Schädel, Gesicht und Zubehör, die Maske in
Gips nehmen lassen und dann will ich Hensel's Aehnlichkeit
kontrolliren!"
London, 15. Mai.
^ Montag Abend Ball in Devonshirehouse beim
Herzog von Devonshire; die Pracht aus den morgenländischen
Märchen kommt zur Erscheinung; was Reichthum, Luxus, Ge-
schmack an Schönheiten für ein Fest erlinden können, ist da
gehäuft. Mit meinem hack kam ich an die Reihe der Equipagen,
die fast die ganze Piccadilly herunterstanden, daher zog ich's
vor, zu Fuss einzuziehen ; kam in den Saal, wo der Herzog die
Gäste freundlich empfing; ich hatte auf der Treppe hinter mir
Leute hmaufgehen hören, mich aber nicht umgesehn, jetzt
gewahrte ich zu meinem Schrecken, dass es Wellington und
Peel gewesen waren. Im Haupttanz saal war statt des Kron-
leuchters ein dicker breiter Kranz von rothen Rosen, etwa
vierzehn Fuss im Durchmesser, der zu schweben schien,
weü die dünnen Fäden, die ilin hielten, sorgfältig versteckt
waren ; auf dem Kranze brannten nun kleine Lichter zu Hun-
derten, an den Wänden lauter Portraits in Lebensgrösse und
ganzer Figur von van Dyk, rings umher eine Erhöhung, auf
208 Felix in England 1829.
der die alten Damen, mit Brillanten, Perlen und allen Edel-
steinen überladen, Platz nahmen; in der Mitte tanzten die
schönen jungen Mädchen, unter denen man die himmlischsten
Gestalten sieht; ein Orchester mit einem eigenen Direktor
spielt dazu; die Nebenzimmer waren geöffiiet, deren Wände
mit Tizian's, Correggio's, Leonardo's und Niederländern behängt
sind; unter den schönen Bildern nun die schönen Gestalten
sich bewegen zu sehn und unter all dem Treiben und in der
allgemeinen Aufregung ganz ruhig und sehr unbekannt überall
herumzuschleichen und Vieles ungesehn und unbemerkt zu sehn
und zu bemerken — es war einer der schönsten Abende, die
ich erlebt. Das Bild eines jungen Mannes von Tizian und das
einer jungen Frau von Leonardo ergriffen mich sehr und
rührten mich etwas. Nirgends findet Ihr im ganzen Palast
etwas Unvollkommenes, Ungeordnetes, die Bibliothek war ge-
öffnet und Prachtwerke lagen auf den Tischen umher; ein
kleines Treibhaus wurde neben dem Tanzsaal aufgemacht und
verbreitete den Duft und die Kühlung! Alle Früchte aller
Jahreszeiten im Uebermass auf den Büffets gehäuft; und nun
die Adligen raspeln zu sehn, und wie sie so schlecht walzten,
und wie die Damen auf den Tischen sassen und die Herren
auf den Sophas mit den Füssen lagen und sich dehnten während
einer zarten Conversation mit Damen! Auf einer ebenso grossen
Fete war ich gestern beim Marquis of Landsdowne, der arme
Mann hatte seinen Antikensaal aufgemacht und empfing darin
die Gesellschaft. Ein grosser gewölbter Saal, an dessen zwei
Enden zwei Rotunden sind, die von oben her erleuchtet waren ;
in den Eotunden nun purpurne Nischen, in deren jeder eine
grosse graue antike Statue steht und droht. Zu deren Füssen
sassen hier die alten Damen im Halbkreise und in der Mitte
des Saals drängten sich die Leute hin und her. Ln Neben-
zimmer war eine neugekaufte Landschaft von Claude Lorrain
ausgestellt, der Aufgang der Sonne über einem Meereshafen.
Die Treppe ist so gelegt, dass man, wie in den Hamburger
Häusern, bis unter das Dach sehn kann, und sie war ganz
dick mit Blumen überkleidet, unter denen liegende oder schla-
fende Statuen vorsahen. Tausend Einzelheiten will ich Euch
Erstes öffentliches Auftreten in England. 209
einst mündlich mittheilen, ich werde sie nicht aus dem Ge-
dächtniss verlieren, denn mir war Alles so neu und bewunde-
rungswürdig, dass es einen tiefen Eindruck auf mich gemacht
hat, der sich nicht leicht verwischen kann. Dass solche Herr-
lichkeit in unserer Zeit wirklich bestehn könnte, hatte ich
nicht geglaubt. Es sind das keine Gesellschaften, es sind
Feste und Feierlichkeiten."
London, 26. Mai 1829.
^ Als ich zur Probe meiner Symphonie in die Argyll
rooms trat und das ganze Orchester versammelt fand, und gegen
zweihundert Zuhörer, meistens Damen, aber lauter Fremde,
und man erst die Symphonie von Mozart aus es probirte, um
dann die meinige vorzunehmen, so wurde mir zwar nicht ängst-
lich, aber sehr gespannt und aufgeregt zu Muthe; ich ging
während des Mozart'schen Stücks in Regent Street etwas spa-
zieren und sah mir die Leute an; als ich wiederkam, war
Alles bereit und man wartete auf mich. Ich stieg dann aufs
Orchester, zog meinen weissen Stock aus der Tasche, den ich
mir ausdrücklich dazu habe machen lassen (der Riemer dachte,
ich sei ein Alderman und wollte durchaus eine Krone darauf
befestigen), und der Vorgeiger Fr. Gramer zeigte mir, me das
Orchester stände, die Hintersten mussten aufstehn, damit ich
sie sehen könne, und stellte mich ihnen Allen vor, und wir
begrüssten uns, einige lachten wohl ein bischen, dass ein kleiner
Kerl mit dem Stocke jetzt die Stelle ihres sonst immer ge-
puderten und perrückten Conductors einnähme. Dann ging's
los. Es ging für das erste Mal recht gut und kräftig und
gefiel den Leuten schon sehr in der Probe. Nach jedem Stück
applaudirte das ganze zuhörende Publikum und das ganze
Orchester (das zum Zeichen des Beifalls mit den Bogen auf
die Listrumente schlägt und mit den Füssen trampelt), nach
dem letzten Stück machten sie einen grossen Lärm, und da
ich das Ende musste repetiren lassen, weil es schlecht gegangen
war, machten sie denselben Lärm wieder ; die Direktoren kamen
zu mir an's Orchester, und ich musste herunter, eine Menge
Diener machen, J. Gramer war ganz erfreut und überschüttete
Die Familie Mendelssohn. I. 14
210 Felix in England 1829.
mich mit Lob nnd Komplimenten, ich ging anf dem Orchester
umher und musste an zweihundert verschiedene Hände schüt-
teln — es war einer der glücklichsten Momente meiner Er-
innerung, denn alle die Fremden waren mir m einer halben Stunde
zu Bekannten und zu Befreundeten umgewandelt. Der Erfolg
nun gestern Abend im Concert war grösser, als ich ihn mir
je hätte träumen lassen. Man fing mit der Symphonie an;
der alte J. Gramer führte mich an's Ciavier, wie eine junge
Dame, und ich wurde mit laut und lange anhaltendem Beifall
empfangen. Das Adagio verlangten sie da capo, ich zog vor,
mich zu bedanken und weiter zu gehn, aus Furcht vor Langer-
weile ; das Scherzo wurde aber so stark noch einmal verlangt,
dass ich es wiederholen musste, und nach dem letzten applau-
dirten sie fortwährend, so lange ich mich beim Orchester be-
dankte und hands shakte, bis ich den Saal verlassen hatte.* —
Fanny an Klingemann.
Berlin, 4. Juni 1829.
j, Sie werden es nicht missverstehen, wenn ich Urnen
sage, dass Felixens Erfolg mich nicht überrascht, nicht ver-
blendet oder erschüttert hat, dass ich überhaupt, was ihn be-
trifft, einen an Bornii'theit grenzenden Prädestinationsglauben
habe; das Alles ist schön und gut und so ein Brief wie sein
gestriger und Ihr heutiger ist doch eine unendliche Freude
und eine ebensolche ist's, zu sehen, dass Sie ihn genau so
hätscheln und verziehen, wie ich's wünsche und Sie in einem
(wenn mir recht ist, ziemlich jämmerlichen) Briefe darum bat.
Nun abermals eine kleine Bitte: Felix erhält mit nächster Ge-
sandtschaftsgelegenheit ein Päckchen, kleine Sentimentalitäten
und Entfernungsanstalten enthaltend. Sein Sie so freundlich
und bringen es ihm selbst und sehen zu, dass es ihn in guter
Laune antreffe, und sollte ihm gerade ein Notenschreiber oder
eine Fliege Verdruss gemacht haben, so behalten Sie's lieber
zurück bis auf einen besseren Tag. Ach! bester Klingemann,
je mehr Sie seine Anwesenheit empfinden und das Leben, das
er überall hinträgt, je mehr müssen Sie begreifen, wie wir
Concert in Argyll Eooms. 211
die Lücke empfinden und je mehr bitten wir, schreiben Sie uns
recht oft, denn Ihre Briefe sind wahre Speise für die Hungrigen,
und wie es uns krank macht, etwas Liebes von Anderen ver-
spottet zu sehen, so ist es stärkend und erfreulich, über Ge-
liebte Liebes zu hören, die eigene üeberzeugung sei so fest
wie sie wolle, die fremde thut doch wohl." —
Felix an die Familie.
7. Juni 1829.
„ Sonnabend sollte ich im Concert auftreten und hatte
auf dem wildfremden neuen Clementi'schen Flügel, den mir die
Fabrik geschickt hatte, noch nie gespielt. Ich ging in den
leeren Saal, wo die Leute meine Symphonie aufgeführt haben
und wo nun jeder Fusstritt stark hallte und wo ich etwas ge-
rührt wurde ; das Piano war geschlossen ; man musste nach dem
Schlüssel schicken, er kam aber nicht; unterdessen setzte ich
mich an das alte graue Instrument, worauf sich die Finger
mehrerer Generationen mögen getummelt haben, und wollte
mein Stück sehr exercieren, verfiel aber unmerklich in sonder-
liche Phantasieen und blieb darin so lange, bis Leute kamen,
die mich durch üire Gegenwart erinnerten, dass ich hätte stu-
diren sollen; aber der grosse Saal hatte mich zerstreut ge-
macht, kurz die Concertstunde (zwei Uhr) kam und ich hatte
nie auf dem Instrument gespielt. Ich blieb aber ganz wohl-
gemuth und zog meinen grossen Dress an (für Beckchen'a
Modejournal: weisse, sehr lange Beinkleider, braune seidene
Weste, schwarze Binde und blauer Frack). Als ich aber aufs
Orchester kam und es ganz mit Damen gefüllt fand, die im
Saal keinen Platz mehr hatten, und nun den Saal so voll sah,
wie noch nie seit ich hier bin, lauter bunte Damenhüte und
sclireckliche Hitze und das unbekannte Listrument, da überfiel
mich ein panischer Schrecken und ich hatte bis zum Augen-
blick, wo ich vortrat, die längsten Manschetten und Mohren,
ja ich glaube, dass ich Fieber besass; da mich selbige bunten
Hüte nun aber gleich beim Kommen empfingen und klatschten, da
eie selir aufmerksam still waren (was beim plaudernden Concert-
14*
212 Felix in England 1829.
pnblikum hier eine Seltenheit ist) und da ich das Instrument
sehr trefflich und leicht zu spielen fand, so verlor ich obige
Mohren, bekam Pomade und amüsii'te mich nun prächtig, wie
die Hüte bei jeder kleinen Verzierung sehr sich bewegten, wobei
mir und vielen Eecensenten das Gleichniss vom Wind und
Tulpenbeet in den Sinn kam, und wie einige Damen auf dem
Orchester sehr hübsch waren, und wie Sir George, den ich ge-
rührt anblickte, eine Prise nahm. Es ging ziemlich gut und
sie machten grossen Lärm, als es aus war; auch haben
mich die Times, die ich beim Thee des Morgens studire, sehr
gepriesen (Paul kann mit Eietz zu Stehely gehen, wofür ich
ihm bei meiner Eückkunft Sixpence verspreche, und daselbst
solche Times vom Montag, 1. Juni, nachlesen). Mich freute
es höllisch, dass mir das Publikum hier gut ist und mich
leiden mag, und dass ich meiner Musik nun viel mehr Be-
kanntschaften danke, als meinen Empfehlungsbriefen, die doch
wahrhaftig kräftig und zahlreich genug waren — kurz, ich war
sehr froh am Sonnabend und auf dem Diner, nach dem ich nun
ging, habe ich mich betrunken, aber nur in zwei sehr bedeutend
braunen Augen, wie sie die Welt noch nicht sah oder nur
selten. Sie hier zu beschreiben oder zu loben ist unnöthig;
denn wenn sie Euch gefallen, bin ich par distance eifersüchtig
und wenn sie Euch missfallen, ärgerlich. Letzteres ist aber
unmöglich. Die Dame neben mir hatte besagte braune Augen
und diese sind wunderschön und heissen Luise und sprachen
englisch und zogen sich beim Käse zurück, worauf ich un-
mittelbar Ciaret trank, denn ich bekam nun nichts mehr zu
sehen, sondern musste fort aufs Land, fand keinen Wagen und
musste in der Kühle zu Fusse gehn; mir fiel manches Musi-
kalische ein, das ich mir laut vorsang, denn ich ging einen
Wiesenweg, wo mir kein Mensch begegnete ; der ganze Himmel
war grau, mit einem Purpurstreif am Horizont, und die dicke
Eauchwolke lag hinter mir. Sobald ich nur zu Euhe komme,
sei es hier oder in Schottland, da will ich mancherlei schreiben
und der schottische Dudelsack existirt nicht umsonst. Die Nacht
blieb ich auf dem Lande und fuhr nun mit G. am frischen
feuchten Morgen nach Eichmond in einem kleinen Cabriolet.
Festlied für Ceylon. Bildergallerie. 213
Der Weg ging über die hängende eiserne Brücke, durch Dörfer,
an deren Häusern man statt der Weiiistöcke hochstämmige
Rosen hinaufzieht, so dass sich die frischen Blumen auf den
rauchigen Mauern seltsam ausnehmen. Und in Richmond,
auf einem Hügel, der die Aussicht auf die unermessliche grüne
Ebene hat, die mit Bäumen besäet, in der Nähe blendend,
warm, grün und gleich darauf in einer Ferne von tausend
Schritt blau, duftig und verschwimmend ist, und wo Windsor
auf der einen Seite, London auf der andern in Nebel steht, da
lagerten wir uns uud brachten unsern Sonntag sehr still und
sehr feierlich zu.
Ich habe einen Auftrag erhalten, über den Dir Euch todt-
lachen werdet und der mich freut, weil er ein unicum ist und
nur in London möglich. Ich componire ein Festlied für eine Feier,
-die in Ceylon stattfinden wird. Die Eingeborenen sind
vor einiger Zeit emancipirt worden und begehen den Jahrestag
dieses Ereignisses, dazu soUen sie nun ein Lied singen und Sir
Alexander Johnston, der Gouverneur ist, hat mir den Auftrag
gegeben. Es ist wirklich sehr toll und komisch, ich habe zwei
Tage lang innerlich darüber gelacht." —
London, 19. Juni 2ö.
^ Bilder giebt es hier, wie die Welt sie nicht gese-
hen hat! Die Privatleute haben eben einige ihrer Schätze zu-
sammengestellt und da siad in drei Sälen die göttlichen Gestalten
vereinigt; ich kann Euch nicht beschreiben, wie es da aussieht.
Rubens hat den Zinsgroschen gemalt und Tizian seine junge
Tochter ; der alte Kerl mag sich viel dabei gedacht haben, wie
das blonde Kind so artig und gerade dasteht und so hübsch
nachlässig geputzt ist und einen Apfel in der Hand hält und
eben an gar nichts denkt. Auch giebt's zwei Prachtstücke von
Vandyck und eiue Menge Rembrandt's, Mui'ülo's, Ruisdal's und
Claude's, dass es eüie Lust ist. Tizian hat den Ignaz Loyola
aufgefasst, dass einem katholisch zu Muth wird, wenn man's
ansieht, er sieht sehr finster, schwarz und ernsthaft aus dem
Bude heraus und die Juden von Rubens süid wie losgelassene
Bären und Wölfe. — Lebt wohl. Mittwoch spiele ich zum
214 Felix in England 1829.
Schrecken aller Musiker das es-dur-Concert von Beethoven, ich
bin des trockenen Tons nun satt, muss wieder mal den Beetho-
ven spielen.
London, 25. Juni.
,Ich sehne mich nach Euch! Und namentlich heute. Es ist
Sommer und die Saison geht zu Ende; der erste Abend, den
ich nun allein auf meiner Stube sitzen kann, drum will ich ihn
auch anwenden, mit Euch einen Congress zu halten. Draussen
gehen die lieute spazieren, pfeifen aus der Stummen von Portici
und dem Freischütz und die Wagen in Regentstreet rasseln
heftig. Ihr sitzt in den Ecken des Sophas, ich klemme mich
in die Mitte und nun geht's los. Das Tagebuch wird ein Ta-
geblatt und folgt auf der nächsten Seite. Aber vor allen
Dingen: was ist Eure Meinung über das Programm zur sil-
bernen Hochzeit im December? Schickt mir umgehend Eure
Ideen darüber; wenn die Sache aber nicht wenigstens so glän-
zend wird, wie Euer kaiserlicher Einzug, so sage ich mich von
Allem los und feiere nicht mit. Eine grosse Musik mit neuen
schottischen Compositionen , wozu Du, o älteste Otter, auch
etwas schreiben musst, fhear, hear! cheers, hurray — Order y
Order!) schlage ich unmassgeblich vor; auch kann Braham eine
Arie singen und Neate ein Concert spielen etc. ; auch kann
Nichts ohne Comödie, Maskerade, Diner und einen Ball (die
linke Seite hear) geschehen; wenn ich auch stiUe Hochzeiten
lobe, so müssen silberne Hochzeiten doch laut sein. Braucht
Ihr eine Dampfmaschine dazu, so kann ich sie Euch mit der
Gesandtschaft schicken, die Kosten sind imbedeutend, da seit
kurzem hier eine Dampfmaschine eingerichtet ist, die Dampf-
maschinen fabricirt; oder wollen wir einen kleinen Ostindien-
fahrer Vätern verehren? Oder wollen wir den Hof heimlich
chaussiren oder makadamisiren lassen? Fanny: „Hätte nur
Einer statt der zwanzig dummen Vorschläge einen vernünftigen
etc." Macht letzteren, Ihr Volk! Und schreibt mii' eine ordent-
liche Uli mit a, b, c und 1, 2, 3, kurz einen systematischen
Feierplan. Ich brüte Grosses, kaijn's Euch nur heut aber nicht
mittheilen, denn ich bin so müde, dass Ihr mich über den Hof
Hamletaufführung. 215
führen und dann vom offnen Fenster wegweisen müsstet, das
kommt aber vom Tanzen. — —
Abends ging ich mit Rosen, Mühlenfels und Klin-
gemann nach Coventgarden : Hamlet. Ich glaube, Kinder, dass
Jener Recht hatte, der behauptete, die Engländer verständen
den Shakespeare zuweilen nicht. Wenigstens diese Vorstellung
war toll und doch spielte Kemble den Hamlet und sogar gut
in seiner Art, leider ist diese Art aber verrückt, hebt das ganze
Stück auf. Dass er z. B. mit einem gelben und einem schwarzen
Bein erscheint, um Tollheit anzudeuten, dass er vor dem Geist
auf die Knie fällt, um eine Stellung zu fischen, dass er das
Ende jeder kleinen Phrase in dem bekannten, Beifall er-
pressenden, hohen Tone herausstösst, dass er sich überhaupt
beträgt, wie ein in Oxford studirender John Bnll und nicht wie
ein dänischer Kronprinz, das möchte noch hingehen, dass er
aber die ganze Intention vom armen Shakespeare, mit dem
beabsichtigten Königsmorde, garnicht anerkennt und deshalb
z. B. die Scene, wo der König betet und Hamlet währenddessen
ungesehen erscheint und wieder, ohne entschlossen zu sein,
weggeht (für mich eine der schönsten Stellen des Stücks), ohne
Weiteres herausstreicht, dagegen sich fortwährend wie ein
hravado beträgt, namentlich den König so behandelt, dass der
ihn auf der Stelle müsste todtschiessen lassen, dass er ihm
z. B. während des Schauspiels auf dem Theater fortwährend mit
der Faust droht imd ihm die Worte, die er hinwerfen sollte, in's
Ohr schreit, das ist doch unverzeihlich. Natürlich springen
Laertes und Hamlet nicht in das Grab der Ophelia und ringen
da, denn sie sind weit entfernt zu ahnen, was das bedeuten
soll; und am Ende, als Hamlet hinfällt und eben gesagt hat,
„der Rest ist Schweigen" und ich einen Trompetenstoss und
Fortinbras erwartete, so lässt Horatio den Prinzen liegen, kommt
eilig an die Lampen und spricht: Ladies and Genthmen^ to-
morrow evening the deviVs elixir. — So endigte der Hamlet in
England. Von dem, was sie auslassen oder abkürzen, könnte
man eine Tragödie für sich machen; die Lehren des Polonius,
der Abschied des Laertes von der Opheüa, ein halber Monolog
des Hamlet u. s. w. kommen garnicht vor. Einzelnes gaben
216 Felix in England 1829.
sie aber vortrefflich, z. B. die Todtengräberscene. Der alte
Clown machte göttlich grobe Spässe und sang sein Lied im
Grabe sehr unmusikalisch und sehr schön, auch sang Ophelia
im Wahnsinn einmal ganz toll; sie mui-melte während des
Sprechens der Anderen leise eine Melodie; endlich machten sie
das Fechten und den Rappierwechsel geschickt. Aber was
will das sagen? Es ist wenig Poesie in England. Wahr-
haftig." —
London, 10. Juli 29.
„ Was mich fast ausschliesslich in dieser Zeit be-
schäftigt, ist das Concert für die Schlesier ; es wird der Wahl
der Stücke nach unstreitig das glänzendste des Jahres; was
irgend in der Saison Aufsehen erregt hat, wirkt mit, die
meisten unentgeltlich ; viele Anerbietungen von guten performers
haben müssen abgewiesen werden, weil es ohnehin schon bis
den andern Tag dauern wird. Den unermesslichen Zettel schickt
Euch Klingemann, er ist wahrlich interessant. Meine Ouvertüre
zum Sommernachtstraum macht den Anfang, auf Begehren, und
dann spiele ich das Doppelconcert aus E mit Moscheies. Gestern
hatten wir in der Clementi'schen Fabrik die erste Probe,
Mad. Moscheies und Herr Collard hörten zu, und ich amüsirte
mich himmlisch dabei, denn man hat keinen Begriff von unsren
Coquetterien , und wie Einer den Andern fortwährend nach-
ahmte, und wie süss wir waren. Das letzte Stück spielt
Moscheies ungeheuer brillant, er schüttelt die Läufe aus dem
Aermel. Als es aus war, meinten sie Alle, es sei so schade,
dass wir keine Cadenz machten, und da buddelte ich gleich
im letzten Tutti des ersten Stücks eine Stelle heraus, wo das
Orchester eine Fermate bekommt, und Moscheies musste nolens
volens einwilligen, eine grosse Cadenz zu komponiren. Wir
berechneten nun unter tausend Possen, ob das letzte kleine
Solo stehn bleiben könnte, da die Leute doch applaudiren
müssten. „Wir brauchen ein Stück Tutti zwischen der Cadenz
und dem Schlusssolo ", sagte ich. „Wie lange Zeit sollen sie
denn klatschen?" fragte Moscheies. „Zehn Minuten, I dare sai/"^
sagte ich. Moscheies handelte herunter bis auf fünf. Ich ver-
Concertprobe für die Schlesier. 217
sprach, ein Tutti zu liefern, und so haben vdr förmlich Maass
genommen, gestickt, gewendet und wattirt, Aermel ä la mameluke
eingesetzt und ein brillantes Concert zusammengeschneidert.
Heut ist wieder Probe, da giebt's ein Musikpicnic, denn Moscheies
bringt die Cadenz mit und ich das Tutti. Morgen um zwei ist
die grosse Instrumentalprobe, nachher habe ich Plaisir vor. Ich
bin nämlich in StamfordhiU, einem grasigen Dorf voll Bäume,
Gärten und Rosen, bei einem Herrn Richmond mit vielen
Töchtern zu Mittag und Abend; Rosen und Mühlenfels mit
mir; da wir drei nun an demselben Ort zu Frühstück des
Sonntags bei einem andern Bekannten sein sollen, so wurde
gestern beschlossen, die Nacht in dem Wirthshaus des Dorfs
zuzubringen, dann Morgens früh in's Feld zu gehen und die
Leute durch unsere frühe Gegenwart in Staunen zu setzen,
das wird ausgeführt, und wir werden uns als ächte Londoner
höllisch vornehm in solcher Kneipe betragen.
Sonnabend ist der Tag der allgemeinen Abreise nach
allen vier Weltgegenden : Klingemann und ich nehmen den Weg
nach Norden; Rosen geht nach dem Rhein, und Mühlenfels
geht — nach Berlin. — Ja, ja! Der kriegt Euch eher zu
sehn als ich. Bitte, habt ihn lieb und seid freundlich zu ihm.
Wenn ich Euch sage, dass er mir hauptsächlich die Lücke, die
durch das erste Alleinsein und den Mangel an vertraulicher
Mittheilung entsteht und die durch Gesellschaften und Zer-
streuungen nur noch grösser wird, ausgefüllt oder doch weniger
fühlbar gemacht hat; dass ich ihm hauptsächlich das gesunde
und frohe Gefühl verdanke, welches mich bis jetzt hier auch
in dem grössten Lärm und Gewirr selten verlassen hat, so bia
ich gewiss, Ihr werdet Euch freuen, wenn er hineinkommt,
und werdet ihm auch gut sein. Er ist ein kräftiger, tüchtiger
und aufrichtiger Kerl. Viel lustige Geschichten wird er Euch
aus dieser Zeit erzählen, denn wü' sind reich daran und haben
uns vorgenommen, uns in den wenigen Tagen, die wir noch
zusammen bleiben, recht an einander zu freuen. Neulich gingen
wir drei von einem höchst diplomatischen Diner bei Bülow
zurück und waren satt an fashionablen Speisen, Gesprächen
und Thaten. Da kamen wir bei einem appetitlichen Wurst-
218 Felix in England 1829.
laden vorbei, in welchem German samage für two pence aus-
gestellt war; der Patriotismus überkam uns, Jeder kaufte sich
eine lange Wurst, wir flüchteten uns in die weniger belebte
Portlandstreet und verzehrten da unsern Einkauf, indem wir
vor Lachen kaum die dreistimmigen Lieder begleiten konnten,
die Mühlenfels im Bass anstimmte. Beide Professoren hatten
ihre Vorlesungen denselben Tag geschlossen und brauchten also
nichts zu fürchten. Rosen wird zu Zeiten ganz wild."
Das Jahr 1829 zeichnete sich durch Unglücke mannigfacher
Art in Folge elementarer Ereignisse aus. Namentlich die
Danziger Gegend und Schlesien waren schwer heimgesucht.
Nathan, der jüngste Sohn Moses Mendelssohn's, der in Schlesien
lebte, hatte über die dort herrschende Noth an seinen Bruder
Abraham geschrieben, und dieser Felix in London davon Mit-
theilung gemacht. Das wui'de die Veranlassung des Concerts
für die Schlesier, von dessen Probe oben die Rede war, und
dessen Erfolg Felix in folgendem Brief an Nathan beschreibt:
London, den 16. Juli 29.
„Lieber Onkel! Es ist lange her, dass ich Dir nicht
geschrieben habe. Um so mehr freue ich mich, die Gelegen-
heit jetzt ergreifen zu können, um Dir Angenehmes und Tröst-
liches zu melden. Deine Landsleute haben Deinem Briefe an
meinen Vater, worin Du das Unglück durch V^^olkenbruch und
Ueberschwemmung beschreibst, eine sehr beträchtliche Unter-
stützung zu danken, die in wenigen Wochen auf offiziellem
Wege dort anlangen wird. Ich kann Dir nicht sagen, wie
herzlich lieb es mir ist, dass sie es zunächst Deinem Schreiben
schuldig sind, und dass ich auch Gelegenheit hatte, dazu be-
hülflich zu sein. Es verhält sich so mit der Sache: Die Sontag
hatte auf vieles Zureden versprochen, im Mai ein Concert für
die Danziger zu geben, es schien ihr aber die Lust zu fehlen,
denn sie verschob es auf den Juni, dann auf den Juli, und
endlich, da ihr Benefiz so schlecht ausfiel, dass sie noch Geld
zusetzen musste, gab sie es gänzlich auf; mir that es leid, ich
Concert für die Schlesier. 219
ging mehreremal zu ihr, sprach mit ihrem komme d^ affaires und
ihrer Gesellschaftsdame (denn sie ist ordentlich von einem
kleinen Hofstaat umgeben, und man wii'd selten vorgelassen),
beide erldärten sich aber so entschieden dagegen und wurden
am Ende so unhöflich, dass ich fortging, mit dem Vorsatz, nie
wieder zu kommen. Tags darauf erhielt ich den Brief meiner
Eltern mit der Abschrift des Deinigen, und ich weiss nicht,
wie es kam, aber ich schwor mir zu, es sollte und müsste
nun gehn und das Concert müsse gegeben werden. Mir kam
dabei in den Sinn, wie Du mir einmal Geld liehest für den
Ealgentreter an der Orgel in Eeinerz und es nicht wieder-
nehmeu wolltest; wie Du erst sagtest, meine Musik habe Dir
für acht Groschen Vergnügen gemacht, und nachher ernsthaft
zusetztest, wenn ich mir durch mein Spiel mal was verdienen
könnte, möchte ich's an die Armen geben. Auch wie wir so
vergnügt damals zusammen gewesen sind und vieles Andre
kam mir in den Sinn, und ich lief sogleich zur Sontag, liess
mich nicht abweisen, weigerte mich, den homme d'affaires und
die Dame zu sprechen, setzte ihr sehr arg zu, versicherte, sie
müsse nun ein Concert geben, da es in der Staatszeitung ge-
standen habe, und die Schlesier hätten es nöthiger als die
Danziger, kui^z, sie entschloss sich, es zu unternehmen. Nur
sie mit ihi-en ausgebreiteten Connexionen, bei ihrer Beliebtheit
unter allen Ständen konnte es wagen, den Engländern in einem
Augenblick, wo das Elend in London entsetzlich gross ist und
wo man nicht weiss, wie es zu erleichtern oder ihm abzuhelfen
sei, ein Concert fiir fremde Verunglückte anzukündigen. Alles
war dagegen; die Musiker prophezeiten, zumal bei dem vor-
gerückten Sommer, einen leeren Saal, benahmen sich zum Theil
sehr kalt und unfreundlich, machten auf die Kosten aufmerk-
sam, die man nicht herausbringen würde ; ich trieb aber immer-
fort; es \vurde angezeigt; eine Menge hoher Herrschaften
nahmen die Patronage an, alle ausgezeichneten Sänger mussten
schon honoris causa umsonst singen, viele Instrumental- Spieler
hatte die Sontag sich verpflichtet, viele thaten es mir zu Ge-
fallen, kein Name, der nur liegend in der Saison geglänzt hatte,
fehlte auf dem Programm, und auf einmal war die Sache
220 Felix in England 1829.
fasJiionalle. Von nun an war der gute Ausgang entscMeden,
die ganze Stadt sprach davon. Als icli eine Stunde vor dem
Anfang des Concerts am vorigen Montag vor den Argyll rooms
(die der Besitzer gleichfalls umsonst gab) vorbei kam und die
Menschenmasse sah, die mit ihren fremden Gesichtern hinein-
strömte und sich drängte, als ich dann später aufs Orchester
ging und das ganze Orchester mit schönen, geputzten Damen
besetzt, alle Logen gefüllt, die Vorsäle sogar voll Menschen
fand, so war mir unbeschreiblich froh und freudig zu Muthe,
und es that mir nur leid, dass man hier keinen grössern Con-
certsaal hat, denn an hundert Menschen mussten abgewiesen
werden. Es sind zwischen 250 und 300 Guineen eingekommen,
die dem preussischen Gesandten hier übergeben und durch ihn
nach Schlesien geschickt werden. Wie die Sache entstanden
sei, konnten sich die Engländer nicht erklären. Auf dem Zettel
stand, die Sontag hätte von vielen hohen Personen in ihrem
Vaterlande Brief und Aufforderung erhalten: das warst Du.
Die Times merkten gar, dass der König von Preussen sich an
die Sontag gewendet habe: das warst wieder Du. Bei den Ein-
ladungen an die Patronages wurden lebhafte Beschreibungen
der Verwüstungen beigelegt, wörtlich in's Englische übersetzt,
aus dem Bericht eines Augenzeugen: das warst Du auch. Mit
einem Wort, es ist in die Trompete ganz gehörig gestossen
worden, und es ist geglückt. Das Concert war unstreitig das
beste im ganzen Jahi-e; zu einer Arie war nicht Zeit; die
vielen Sänger konnten nur in Quartetten u. dergl. verwendet
werden, und dennoch dauerte es beinah vier Stunden. Die
Sontag hat sechs Mal gesungen, Drouet flötete, Moscheies
spielte ein Concert für zwei Claviere von meiner Composition
mit mir, meine Ouvertüre zum Sommernachtstraum kam auch
vor etc. etc.
Genug davon; das Beste ist, dass es gewesen und voll
gewesen ist. Bitte, lieber Onkel, schreib mir einmal ein paar
W^orte; mein Vater wird sie mir schon nach dem schottischen
Hochlande, wohin ich in ein paar Tagen gehe, zukommen
lassen. Lass mich von Dir wissen, und von allen den Deinigen,
wie Ihr lebt und ob Arnold noch immer Lust und Liebe zur
Concert für die Schlesier. Edinburg, 221
Musik zeigt und ausbildet. Grüss sie mir Alle recht herzlich
und bleibe mir gut. Lebe wohl.
Dein
Felix Mendelssohn Bartholdy.
P. S. Nimm nicht übel, dass in dem Briefe eigentlich nichts
steht, als Concert und wieder Concert. Es ist das Neueste
und hat mich so lebhaft beschäftigt, und wess das Herz voll
ist etc. Seit dem Anfang der Geschichte habe ich mich dar-
auf gefreut, Dir diesen Brief schreiben zu können. Da ist
er nun."
Auch die Briefe an die berliner Familie sind voll davon.
Folgende Episode soll nicht unerwähnt bleiben:
17. Juli 29.
„ Das Concert für die Schlesier war prächtig, das
beste in der Saison; Damen guckten hinter den Contrabässen
hervor, als ich aufs Orchester kam, Hessen mich Johnston's
Ladies rufen, die zwischen die Fagotten und das Basshorn
gerathen waren, und fragten mich, ob sie da wohl gut
hören könnten; eine Dame sass auf einer Pauke, die Eoth-
schild und die K. Antonio campirten auf Bänken im Vorsaal,
kurz, die Sache war äusserst brillant."
Edinburg, 28. Juli 29.
„In Edinburg ist es Sonntag, wenn man eben ankommt;
da geht man denn über die Wiesen auf zwei höllisch steile
Felsen zu, die Arthur's Sitz heissen, und klettert hinauf. Unten
gehn die buntesten Menschen, Frauen, Eünder und Kühe im
Grün herum, weit umher breitet sich die Stadt aus, wo in
der Mitte die Burg wie ein Vogelnest am Abhang steht, über
die Burg hinweg seht Ihr Wiesen, dann Hügel, dann einen
breiten Fluss, über den Fluss hinweg wieder Hügel, dann
kommt ein ernsterer Berg, auf dem Stü'lings Gebäude er-
scheinen, das ist schon blaue Ferne, dahinter steht ein
schwacher Schatten, den sie Ben Lomond nennen. Alles das
ist aber nur die eine Hälfte von Arthur's Sitz; die andi-e ist
222 Felix in England 1829.
einfach genug, es ist die hohe, blaue See, unermesslich weit,
bedeckt mit weissen Segeln, schwarzen Dampfschornsteinen,
kleinen Insekten von Kähnen und Böten, Felsinseln und der-
gleichen. Was soll ich's beschreiben? Wenn der liebe Gott
sich mit Panoramen malen abgiebt, so wird's etwas toll. Wenige
Schweizer Erinnerungen können dies schlagen, es sieht Alles
60 ernsthaft und kräftig hier aus, es liegt Alles halb im Duft
oder Rauch oder Nebel; dazu ist gar morgen ein Wettstreit
der Hochländer auf der Bagpipe^ und so kamen Viele m üirem
Anzug aus den Kirchen, führten ihre geputzten Mädchen sieg-
reich am Arm, sahen stattlich und wichtig in die Welt hiuein;
mit den langen, rothen Barten, den bunten Mänteln und Feder-
hüten, den nackten Knieen und ihre Sackpfeife in der Hand,
gingen sie ganz ruhig vor dem halbzerstörten grauen Schloss
auf der Wiese vorbei, wo Maria Stuart glänzend gelebt hat
und wo sie Rizzio hat ermorden sehn. Es kommt mir vor,
als ginge die Zeit sehr schnell, wenn ich soviel Vergangenheit
neben der Gegenwart vor mir habe.
Es ist aber hier schön ! Abends weht kalte Luft von der
See her, und dann sehn alle Gegenstände höchst scharf und
klar aus, schneiden sich gegen den grauen Himmel deutlich
ab, die Lichter aus den Fenstern blinken sehr hell, imd so
war es gestern, als ich mit Herrn Ferguson, einem Edinburger
friend of mine, an den mich Herr Droop, ein Londoner frimi
of mine, empfohlen hat, die Strassen auf- und abging und mir
auf der Post Euren Brief vom loten holte, den las ich mit
besonderem Behagen auf Princes' Street in Edinburg mir durch.
In Edinburg ein Brief vom Taxus her aus der Leipziger Strasse !
— Ebenso behaglich war es mir, als ich heut in die See hin-
einschwamm und nun ein paar Augenblicke allein im Meer
mich herumtrieb und dabei dachte, wie genau wir doch eigent-
lich mit einander bekannt wären, und doch steckte ich tief im
schottischen Meer, das sehr salzig schmeckt, Dobberan ist
Limonade dagegen.
Ob ich Sir Walter Scott hier sehn werde, ist, obwohl ich
einen Brief an ihn von einem seiner genauen Freunde aus
London habe, noch ganz ungewiss, doch hoffe ich's, meistens
Edinburg. 223
tun von Dir, liebe Mutter, nicht gar zu sehr ausgescholten zu
werden, wenn ich, ohne den Hon gesehen zu haben, wieder-
komme. Auch den Blumensamen kann ich erst nach der Reise
besorgen, ich schäme mich ordentlich, ihn nicht geschickt zu
haben, statt Scheeren, Nadeln und dergleichen, aber man ver-
gisst am Ende in London wirklich, dass eine Natur in der
Welt ist, und sowie man fest, kalt und menschengleichgültig
da wird, beim Feuerlärm nur aus dem Fenster nach der Flamme
aussieht, aber ruhig weiterschläft, wenn sie nicht in der Nähe
scheint, so fällt es auch Keinem ein, dass Blumen zur Welt,
oder gar Samen zu den Blumen gehören, man riecht daran,
steckt sie in's Knopfloch und vergisst sie. —
Die Hochlandsfahrt geht so : über Stirling, Perth, Dunkeid
und die Wasserfälle nach Blair Atholl; von da zu Fuss über
die Berge nach Inverary, nach Glencoe, der Insel Staffa und
der Insel Isla; hier wird ein Paar Tage geblieben, weil mir
Sir Alexander Johnston noch ein Empfehlungsschreiben an Sir
Walter CampbeU nachgeschickt hat, den Herrn, Besitzer und
Tyrannen der Insel, den ein Wort von Johnston zähmt und
zum Führer macht. Von da den Clyde hinauf nach Glasgow,
dann nach Ben Lomond, weil es mit Loch Lomond die Hoch-
lands lions sind, nach Loch Earn, Ben Vorlich, Loch Katrin,
dann heraus nach Cumberland. Was soU ich weiter erzählen ?
— Die Zeit und der Raum gehen zu Ende und Alles läuft
wieder auf den Refrain hinaus: wie freundlich die Menschen
und wie freigebig der liebe Gott in Edüiburg sind. Auch sind
die Schottländerüinen zu beachten, und wenn Mahmud Vaters
Bath befolgt und ein Christ wird, so werde ich an seiner
Statt ein Türke und lasse mich in der Nähe hier nieder." —
Edinburg, 30. Juli 1829.
Ihr Lieben!
„Es ist jetzt Nachts spät und heut war mein letzter Tag
in dieser Stadt; morgen früh gehen wir nach Abbotsford zu
Sir Walter Scott, übermorgen in die Hochlande. Die Fenster
224 Felix in England 1829.
stehen offen, denn es ist schön Wetter und Sternhimmel,
Klingemann schreibt neben mir in Hemdsärmeln; so weit die
Scene.
Der Euch den Brief bringt, das ist ein junger Mann,
J. Thompson, der mir hier viel Freundlichkeit erwiesen hat
und mit dem ich oft und gern mich bei einem gemeinschaft-
lichen Bekannten traf. Ich bitte Euch herzlich, ihm die grosse
Unbequemlichkeit seines Aufenthaltes zu erleichtem, soweit es
geht; er spricht leider weder Deutsch noch Französisch, Ihr
müsst also mal thun, als ob Ihr in Edinburg wäret und drauf
los Englisch konversiren durch Dick und Dünn. Er liebt die
Musik sehr, ich kenne von seiner Composition ein hübsches
Trio und Gesangstücke, die mir ganz gut gefallen haben, und
er unterzieht sich der Unannehmlichkeit, nach einem Lande
zu gehen, dessen Sprache er nicht kennt, nur um sich an dem
Guten, was wir dort haben, zu ergötzen. Ich bitte Euch um-
somehr, ihm recht freundlich zu sein, und glaube umsomehr,
dass Ihr meine Bitte erfüllen wollt, da ich nun aus Erfahrung
weiss, wie tröstlich es ist, in der Fremde zuvorkommend und
herzlich empfangen zu sein und da das namentlich einem Eng-
länder fast unentbehrlich ist, der den grössten Unterschied
zwischen seinem abgeschlossenen Land und einem fremden
stündlich fühlen muss, den daher jede Ausgleichung doppelt
freut und der gewohnt ist, Fremde in seinem Wohnort gast-
frei aufzunehmen.
Zeigt ihm, was ihn interessirt und was ihm gefallen kann;
Fanny mag ihm viel vorspielen, er muss ihre Lieder von Beck-
chen performed hören, gebt Ihm einen guten Begriff von der
Musik abroad; Vater tadelte mich einmal in Paris, dass ich
gegen Fremde nicht freundlich genug sei und, ich glaube, mit
Recht. Aber ich habe den Fehler abgelegt, seit ich von Euch
entfernt bin; man lernt es da schätzen. Drum habe ich ihm
auch die Briefe nach Berlin angeboten, um die er mich nicht
bat; setzt Ihr nun weiter fort.
In der tiefen Dämmerung gingen wir heut nach dem
Palaste, wo Königin Maria gelebt und geliebt hat; es ist da
ein kleines Zimmer zu sehen, mit einer Wendeltreppe an der
Besuch bei Walter Scott. 225
Thür ; da stiegen sie liinanf iind fanden den Rizzio iin kleinen
Zimmer, zogen ihn heraus, und drei Stuben davon ist eine
finstere Ecke, wo sie ihn ermordet haben. Der Kapelle daneben
fehlt nun das Dach, Gras und Epheu wachsen viel darin, und
am zerbrochenen Altar wurde Maria zur Königin von Schott-
land gekrönt. Es ist da Alles zerbrochen, morsch und der
heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe heut da
den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefimden. Nun
lebt wohl." —
Klingemann schreibt:
Abbotsford, 31. Juli 29.
Staunendste!
„Unt^r uns schnarcht der gTOSse Mann — seine Doggen
schlafen und seine gewappneten Eitter wachen — es ist 12
Uhr und die süsseste Geisterstunde, die ich je erlebt, denn
Miss Scott bereitet die göttlichste Marmelade — die Bäume
des Parks rauschen — die Wellen des Tweed flüstern dem
Barden die Geschichten der Vorzeit und das Geheimniss der
Gegenwart — und Harfentöne, von zarter Hand geg-riffen, klingen
dazwischen in's fi'emde, alterthümliche Gemach hinein, in das
der Gefeierte uns gelagert, — mit walirerem Hochgeschmack
ist überhaupt nie ein Brief begonnen worden und auf Europa
wird sehr herabgesehen. Schon wie mr heut Morgen fünf und
dreiviertel Uhr aus Edinburg schlaftrunken abfuhi-en, tönte es
närrisch um uns herum — die Stage war schon in Bewegung
— ich voran ihr nach — ein Eckensteher — immer ein
Highlander hier — brachte sie zum Stehen nnd rief mit Eifer:
Run my man^ run my man, ü wonH wait! Was bedeuten denn
ferner vierzig Meilen, wenn man dabei die Quellen des Nil
entdeckt? Wir waren in Melrose, Felix fuhr nach Abbotsford,
— ich blieb zurück, als einer ohne letter of Introduction, der
nachkommen könne, wenn der Walter den Andern durchaus
nicht fahren lassen wollte. Melrose Abbey ist eine Ruine voll
Erhaltung und Unterhaltung, der König David (von Schott-
land) und der Zauberer Scott (Michael, nicht Walter) sind da
in Stein und die ganze Gegend ist von Sagen und alten Feen-
reigen durchwoben — Thomas tJie Rymer und die Feenkönigin
Die Familie Mendelssohn. I. 15
226 Felix in England 1829.
haben im dimkelii Glen, etwas weiter hinauf, Tänze gehalten,
und sogar im Kastellan springt noch was davon, wenn er wie
ein Gems auf die höchsten Pfeilerruinen klettert. Man wird
80 hungrig in solchen Ruinen, die einem dui'ch Kontrast
zuletzt sehr die Gegenwart auf die Nase stossen, dass ich mich
in die Kneipe zurückzog zu Brot und Käse und Ale und einer
Zeitung — so lag ich geniessend und ruhend auf dem Sopha
— da kam die Kutsche zui'ück, man stüi^mte in unser Zimmer ;
ich dachte nur an Felix und sagte Skurriles. Da unterschied
ich einen ältlichen Mann: 0 Sir Walter! rief ich aufspringend
und fügte erröthend, entschuldigend hinzu: Nur ähnliche Kupfer-
stiche entschuldigen ähnliche Vertraulichkeit! y^Nemr mind!""
so erwiderte er, der so sehr als breit veiTufene, kurz, —
„werther zukünftiger Parnassbruder und Historien Romancier,
ich freue mich Ihi*er Begegnung: Ihr Freund hat mir schon
und schön auseinandergesetzt, was und wieviel Sie alles noch
schreiben werden, wo nicht geschrieben haben!" Dabei wurden
Hände aus- und wieder eingeschwenkt, und wir Alle zogen im
überseligen Taumel nach Abbotsford. Noch heute Abend schrieben
Felix und ich Töne und Verse in ein grosses Stammbuch mit
Zittern, ich Folgendes:
Hohe Berge steigen himmelaufwärts
Und die Moore liegen rabenschwarz dazwischen,
Felsen, Schluchten, Schlösser, Trümmer reden von
uralter Vergangenheit,
Und sinnverwirrend umrauscht es die Neuen,
Die davon träumen, ohne es zu verstehn, —
Aber an den Pforten des Landes wohnt Einer,
Der, ein Weiser, der Räthsel kundig ist
Und der alles Alte neu an's Licht bringt —
Nun ziehen die Frohen
Und rauschen und lauschen
Und reisen und weisen,
Verstehen imd sehen
Die Felsen und Schluchten und Schlösser und Trümmer. —
Der Weise aber hebet noch immer die Schätze
Und münzt sie ein in goldne, klingende Batzen!
Dies zum Andenken von etc. etc.
Im Hochland. 227
Nachschrift von Felix: „Klingemann lügt obea wie
gedruckt Wir fanden Sir Walter Scott im Begriffe, Abbots-
ford zu verlassen, sahen ihn an wie ein neues Thor, fuhren
achtzig Meilen und verloren einen Tag um eine halbe Stsmde
unbedeutender Conversation, Melrose tröstete wenig, wir ärgerten
uns über grosse Männer, über uns, über die Welt, über Alles.
Der Tag war schlecht. Heut war ein Tag!! Wir haben des
gestern vergessen und lachen darüber."
Felix:
Blair Atholl, 3. August,
„Heut ist der trübste, ti*aurigste Regentag. Aber wir
helfen uns, so gut es geht. Das ist freilich schlecht genug.
Granz durchnässt ist Erde und Himmel, imd Regimenter von
Wolken ziehen noch in Reih' und Glied heran. Greatem war
ein wunderschöner Tag; wir gingen von Felsen zu Felsen,
viel Wassei^älle, schöne Thäler mit Flüssen, dunkler Wald
und Haide mit rothem Kraut ; wir fuhren im offenen Einspänner
des Morgens und gingen später einundzwanzig (englische)
Meilen zu Fuss. Ich zeichnete sehr viel und Klingemann kam
auf den göttlichen Gedanken, der Euch gewiss grosse Freude
geben wird, an jeder Stelle, die ich zeichnete, einige Zellen in
Knittelversen zu entwerfen, und das haben wir denn auch
gestern und heut ausgefiihrt. Es geht ganz prächtig, er hat
schon wundemiedliche Sachen gedichtet.
Abends 3. August, an der Tummelbrücke.
Wilde Wirthschaft. Der Sturm heult, saust und pfeift
draussen hin und her, schlägt unten die Thüren zu und die
Fensterladen auf, ob der Wasserlärm vom Regen oder dem
reissenden Schaumstrom herkommt, kann man nicht wissen,
weil beide zusammen wüthen ; wü' sitzen hier ruhig am Kamin-
feuer, das schüre ich von Zeit zu Zeit an, dann flackert es auf;
15*
228 Felix in England 1829.
übrigens ist der Saal gross und leer, an einer Wand tröpfelt's nass
herunter; der Fussboden ist dünn, da hallt das Gespräch aus
der Knechtstube unten herauf, die singen betrunkene Lieder
und lachen ; dazu Hundebellen, zwei Betten mit purpurnen Vor-
hängen, an unsern Füssen statt der englischen Pantoffeln
schottische Holzschuh, Thee mit Honig und Kartoffelkuchen,
eine enge, gewundene Holztreppe, auf der uns die Magd mit
Schnaps entgegenkam, trostloser Wolkenzug am Himmel, und
trotz alle des Wind- und Wasserlärms, trotz des Knecht-
gesprächs und Thüi'klappens ist es still! Still und sehr ein-
sam ! Ich möchte sagen, dass die Stille durch den Lärm durch-
klingt. Eben geht die Thür von selbst auf. Es ist Hoch-
landsschenke. Die kleinen Jungen mit dem Plaid und den
nackten Knieen und bunten Mützen, der Aufwärter im Tartan,
alte Leute mit Zöpfen sprechen alle unverständlich Gaelisch
durcheinander. Das Land ist weit und breit dick bewachsen
und belaubt, von allen Seiten stürzen reiche Wasser unter den
Brücken vor, wenig Korn, viel Haide mit braunen und rothen
Blumen, Schluchten, Pässe , Kreuzwege, schönes Grün überall,
tiefblaues Wasser, aber alles ist ernst, dunkel, sehr einsam.
Was soll ich's beschreiben? Fragt Droysen danach, der kennt
es besser und kann es malen, wir haben uns immer Zeilen
seines „Hochlands" hergesagt. Lieber Droysen, woher kennst
Du Schottland? Es ist so, wie Du sagst. —
Ich lese heut Abend noch in den Flegeljahren, denn die
gehn mit, und die Schwestern gucken mich sonderlich an. *)
Hensel hat's los, er kann Gesichter sehen und festhalten. Aber
das Wetter ist trostlos. Ich habe mir eine eigne Manier zu
zeichnen dafür erfunden, und habe heut Wolken gewischt und
graue Berge gemalt mit dem Bleistift; KHngemann reimt mun-
ter und ich führe im Regen weiter aus."
*) Die Schwestern hatten Felix nach England die Jean Paul-
schen Flegeljahre, sein Lieblingsbuch, geschickt, in das Hensel sio
als Titelblatt gezeichnet hatte.
Auf den Hebriden. 229
Klingemann:
Gegeben in den Hebriden, am 7. A.ug,
„Die Jugend von Tobermory, der Hauptstadt der Insel
Mull, lärmt vergnüglich am Hafen, das atlantische Meer, in dem
sich reichlich Wasser zu befinden scheint, liegt ganz still vor
Anker, gleich unserm Dampfschiff, wir sind in ein respektables
Privathans einquartiert und stiften nnserm Tagwerk gern ein
erquicklich Denkmal , indem wü-, gleich Napoleon , nnsre Armee-
bülletins immer nur von bedeutenden Punkten aus erlassen.
Ordentlich reizend ist's hier, ich habe von jeher die Hebriden
mit den Hesperiden verwechselt und das macht's, — fanden
sich auch die Orangen nicht an den Bäumen, so lagen sie doch
im Whisky-Punsch. — Gestern zogen wir bergauf, bergab, der
Karren meist zur Seite und wir nebenhersteigend, durch Haiden
lind Moore und Pässe aller Art, — die Natur hat hier so sehr
für Letztere gesorgt, dass das Gouvernement weiter garkeine
fordert, — unter Wolken nnd im dichten Staubregen dnrch's
Hochland, räucherige Hütten klebten auf Abhängen, hässliche
Weiber schauten durch die Fensterlöcher, Viehheerden mit
Bob Roy's sperrten zu Zeiten unsern Lauf, gewaltige Berge
steckten bis auf die Kniee, im Hochlandskostüm in den Wolken
imd guckten wohl oben wieder heraus, — man sah aber manch-
mal wenig. Gestern Abend spät aber fielen wir ganz unverhofft
wieder in einige Kultui-, nämlich in eine Strasse, aus der das
Fort William besteht, und heute Morgen warfen wir uns der
neuesten, nämUch dem Dampf, in die Arme, waren wieder
unter vielen Menschen und schlürften Sonnenschein mit Meer-
grün, weite Seelinien, die Felsen in bescheidener Entfernung,
gute Kost und mancherlei Gesellschaft, ein neuer Freund er-
zählt uns gleich, wie das junge Ehepaar dort seinen Eoney-
moon verreise, und wie er sie auf dem Ben Lomond, kurz nach
der Hochzeit, einen Scotch Reel hätte tanzen sehen, die Braut
mit Abschiedsthränen in den Augen, — am Hafen von Oban
steht Bruce's Felsen, wo er irgend eine That verrichtet, —
230 Felix in Ecgland 1829.
der Laird Mac Donald geht mit seinen Damen nach seinem
Hanse, einem neuen, das hinter den Ruinen des alten Castle's
steht und worin noch eine silberne Broach von Bruce auf-
bewahrt wird, — unser Edinburger Freund, der Seekapitain
Nelson, mit dem wir auf dem Schuf zusammentreffen, und Eand%
shdkm erzählt wunderliche Geschichten darüber, wie diese
Reliquie verloren gewesen und theuer wieder erkauft sei, —
sie sei einmal geraubt mit anderen Sachen und habe sich zu-
letzt im Besitz einer Dame gefunden, die von Rob Roy
abstamme."
Glasgow, 10. August.
„Da liegen wieder Meere dazwischen, an jenem 7ten
musste Ruhe gesammelt werden, um am nächsten Morgen um
fünf Uhr wieder in See zu stechen. Wenn man, wie wir jetzt,
im besten Wirthshause einer Handelsstadt von hundertsechzig-
tausend Einwohnern sitzt, die eine Universität und Kattun-
fabriken hat und Kaffee und Zucker aus der ersten Hand, so
schaut man mit Behagen auf erlittenes Ungemach zurück, —
die Hochlande und das Meer brauen sich aber Nichts wie
Whisky und schlecht Wetter. Hier ist's anders und glatt, aber
comfortable; mit blauem Himmel über sich und gutem Soplia
unter sich, geniessbaren Victualien vor sich und dienstbaren
Geistern um sich bietet man aUen Gefaliren Trotz, besonders
aber den überstandenen. Am besagten frühen Morgen wui'deu
die angenehmen Dampfpersonen, die zuerst mit lauter Oel-
blättem auf uns zugeflogen waren, immer niedriger, je tiefer
der Barometer fiel und je höher die See ging. Das that näm-
lich die Atlantische — das reckte seine tausend Fülilfädeii
immer ungeschlachter und quiiite immer mehr — die Schiffs-
regierung behielt ihr Frühstück fast allein, denn AVenige ver-
mochten die Tassen zu handhaben, und überhaupt fielen die
Ladies um wie die Fliegen, und ein und der andre Gentleman
that's ihnen nach ; ich wollte, mein Reisepechbruder wäre nicht
unter ihnen gewesen, aber er verträgt sich mit dem Meere
Auf den Hebviden. 231
besser als Künstler, denn als Mensch oder als Magen; zwei
hübsche kalte Töchter eines hebridischen Aristokraten, auf die
Felix wüthen mag, blieben allein mhig oben sitzen und machten
sich nicht einmal viel ans der Seekrankheit ihrer Mutter ; noch
sass eine zweiundachtzigjährige Frau gelassen an der Dampf-
maschine und wärmte sich im kalten Winde. Die Frau hat
mich sechsmal gerührt und siebenmal geärgert — sie wollte
Staffa noch sehen vor ihrem Ende. Staffa, mit seinen närrischen
Basaltpfeilern und Höhlen, steht in allen Bilderbüchern; wir
wurden in Böten ausgesetzt und kletterten am zischenden
Meere auf den Pfeüerstümpfen zur sattsam berühmten Fingals-
höhle. Ein grüneres Wellengetose schlug allerdings nie in
eine seltsamere Höhle — mit seinen vielen Pfeilern dem Innern
einer ungeheuren Orgel zu vergleichen, schwarz, schallend und
ganz, ganz zwecklos für sich allein daliegend — das weite
graue Meer darin und davor. Da kletterte mühsam die alte
Frau hart am Wasser, sie wollte doch noch vor ihrem Ende
die Höhle von Staffa gesehen haben. Sah sie auch. Wir
Anderen kehrten im kleinen Boot zum Dampfschiff, zum un-
erquicklichen Steam-Duft zurück. Beim zweiten Boot, was
ankam, sah ich erst, wie wahr Theater in Opern das Auf- und
Abschwanken eines Kahns, in dem der Geliebte die Werthe
aus einiger Noth errettet, darzustellen vermögen. — Es ge-
währte einigen Trost, dass die beiden vornehmen Gesichter
doch blass geworden waren, so sah ich's durch meinen schwarzen
Brill. Aber die zweiundachtzigjährige Alte sass auch darin
und zitterte, das Boot schwankte, mit Mühe hob man sie
heraus — sie hatte doch vor ihrem Ende Staffa noch gesehen !
Das Vergnügen wurde immer ernsthafter, da wo gestern nett
conversirt war, wurde mehr geschwiegen heute, der blanke
Mohr, der auf dem Verdeck sass und mit Tambourin und Wald-
pfeife den Jägerchor im Atlantischen vortrug, wenn er nicht
rauchte, und der Abends pfeifend die Jugend von Tobermory
mit sich henunzog, war dort geblieben; der gelbe Mulatten-
koch, dessen gleissendes Calibansgesicht wir gestern mit Jubel
zwischen Kesseln und Heringen und Zugemüse hatten herum-
hantieren sehen, briet heute alten Schinken und brachte mit
232 Felix in England 1829.
diesem Grernch einzelne leidende Seefalirer zui* Verzweiflung,
wo nicM zu was Schlimmerem; die noch lebenden Passagiere
verschworen sich gegen den Kapitän, der dem Sir James zu
Grefallen den alten längeren Weg zuiiick nehmen wollte, statt
auf einem kürzeren um Jona hemm nach Oban zu gehen.
Jona, eine von den Hebridenschwestern, klingt doch wohl sehr
ossianisch und weichmüthig, und es ist was dran — sitze ich
mal in einer toll- vollen Assemble'e mit Musik und Tanz und
ich habe Lust, mich in die ödeste Einsamkeit zu begeben, so
denke ich an Jona, woselbst die Ruinen einer Cathedrale,
die mal geglänzt hat, die Reste eines Nonnenklosters und die
Gräber der alten schottischen Könige und älterer nordischer
Seefürsten sind ; auf manchen Denksteinen sind zwischen groben
Verzierungen Schiffe ausgehauen. Wohnte ich aber gar auf
Jona und lebte dort von Melancholie, wie Andre von ihren
Renten, so wäre mein dunkelster Augenblick der, wo ich im
weiten Räume, der Nichts fiihrt als Klippen und Möven, mit
einem Male einen Schnörkel von Dampf sähe, dann das Schiff
selber und zuletzt eine bimte Gesellschaft in Schleiern und
Fräcken heranträte, sich eine Stunde lang die Ruinen und die
Gräber und die di'ei kleinen Hütten für die Lebendigen ansähe
und dann wieder davon zöge — und dieser höchst unmotivirte
Spass sich nun wöchentlich zweimal erneuerte, als das Einzige
beinahe, woran zu erkennen ist, dass es eine Zeit und Uhren
in der Welt giebt; es müsste sein, als zögen die alten Be-
grabenen in einer possenhaften Vermummung um. Jona gegen-
über liegt eine Felseninsel, die sieht zum Ueberfluss noch aus
wie eine zerstörte Stadt.
Nach und nach genasen die Seeleidenden, ein Segel wurde
über dem Verdeck ausgespannt, weniger gegen die Sonne, als
gegen die Feuchtigkeit, über die wir Pechbrüder immer im
Streit liegen, weil FeUx es Regen nennt, ich aber „Mist*'*),
und man hielt im Angesicht sämmtlicher Seeungeheuer offene
Tafel im Atlantischen, selbst Felix biss wieder ein und um
*) Englisch; Nebel.
Auf den Hebriden. 233
sich, der Sir trank Wein mit Denen, die nicht über und gegen
ihn gemurrt hatten — wir entzogen uns dem. Um sieben Uhr
Abends hätten wir wieder in Oban, unserem Continent, sein
sollen, wir kamen aber blos bis Tobermory, Einzelne landeten,
der Mohr zog nicht lustig mit der Inseljugend umher; denn
es regnete, und er hätte keine geneigten Gehöre gefunden. Es
\mrde Nacht und dunkel, der Capitain legte in irgend einem
Winkel ruhig vor Anker und wir uns in die Cajüte — Betten
gab's nicht, und Heringe wohnen in römischen Sälen gegen
uns — ich wollte in der Schlaftrunkenheit zu Zeiten Fliegen
aus meinem Gesicht vertreiben, und es waren nur die gereiften
Locken des greisen Schotten; wäre der Papst dabeigewesen,
so hätte ihm ein und der andere Protestant unbesehens den
Pantoffel geküsst; denn man machte oft unbekannte Stiefel zu
seinem Kopfkissen. Es war ein wüstes Gelag ohne Trinken,
zu dem Regen und Wind abgeschmackte Lieder sangen.
Um halb sieben Uhr Morgens am Sonntag landeten wir in
Oban unter Regen; eine gälische Predigt wollten wir nicht
hören und setzten uns also, vom Regen beschattet, auf eins
der liebenswürdigen Fuhrwerke von offenem Bergcharakter, die
CaHs heissen; zuletzt aber schien die Sonne und erwärmte
Herzen und trocknete Mäntel. In Inverary war ein treffliches
Wii'thshaus und braves Unterkommen; eine schwarzlockige,
schöne Wirthstochter schaute als Schild über dem. Schilde in
den Hafen hinein, in dem die frischesten Heringe um neun
Uhr Morgens noch lebendig schwimmen, um eine Viertelstunde
darauf schon gebraten in den Kaffee getunkt zu werden.
Künftige Reisegefähi-ten fragten uns theilnehmend unsere ge-
habten Leiden und zerrissenen Stiefel ab. Das Schloss des
Herzogs von Argyll schaute stolz aus den hohen Bäumen
heraus, und von allen Bergen ringsum besprachen sich die
belaubten Bäume oben mit den behauenen Verwandten unten,
die, schon im Schiffswesen angestellt, im Wasser umher-
schwammen.
Unsere Sehnsucht nach Kultur und Briefen trieb uns
hierher nach Glasgow in wunderbarer Fahrt diuxh verschiedene
234 Felix in England 1829.
„Löcher", nämlich Seen, und über Land. Aus einem Dampf-
hoot, in das wir stiegen, während die schwarzlockige Wirths-
tochter Klavier schlug, sollten wir in eine Dampfkutsche ge-
setzt werden, wir wurden aber von Pferden gezogen und
erstere stand schon gehraucht, aber noch nicht ganz prakti-
kabel, müssig am Wege, ein lächerliches Fuhrwerk mit einem
hohen Schornstein und einem Steuer. Dann wurden wir wie-
der in ein Dampfschiff gesetzt, was von Eisen sein sollte, die
Wände aber, an die wir klopften, waren von Holz ; dann fuhren
wir abermals eine Strecke zu Lande, bis wir wieder an einen
Loch Heck kamen, da abermals in ein Dampfboot abgesetzt
wurden, das uns zu endlicher guter Letzt an ein letztes ab-
gab, an der Mündung des Clyde, mit dem wir nach Glasgow
den Clyde hinauffahren. Prächtige Fahrt, keine oder kleine
Wellen, Seeörter am Fluss mit grossen Seeschiffen, Möven,
vorübersausende Dampfschiffe, Landhäuser, ein Felsen mit Dum-
barton Castle und einem Blick in's Helle, Weite, vom blauen
thürmenden Ben Lomond stattlich beschlossen — wir be-
grüssten ihn zum ei*sten Mal. Das Land wui'de flacher und
sanfte Kornfelder nickten uns nach den langen, stolzen, schwei-
genden Bergen, wie alte Bekannte vertraulich zu, Alles war
dabei still und friedlich. Dreierlei Stillen regieren hier über-
haupt — in den Bergen rauscht's voll Wasser, aber es ist
ernsthaft still — im Meere zwischen den Inseln schlagen die
Wellen, aber es ist trostlos still — in den vollen Ebenen
fliegen die Dampfschiffe, aber es ist sanft und in Erholung still
— das erste sind wüste Gesellen, die wollen nichts lernen
und nicht arbeiten, das zweite sind abgesetzte Götter, die
schmollen, das letzte sind fromme Kinder nach gutem Tage-
werk. Li Glasgow aber sind siebenzig Dampfböte, von denen
täglich vierzig auslaufen und viele lange Schornsteine dampfen,
ein treffliches Wirthshaus erquickt uns, in dem aber noch die
Au%ärter mit zwei Händen und ebensoviel Füssen bedienen,
weil's mit Dampf noch nicht ausgefonden ist.
Am Uten, Morgen, geht's zum Loch Lomond und zu den
übrigen Punkten, die eigentlich als Beilagen zu Walter Scott's
GlaBgow. 235
sämmtlichen Werken ausgegeben und verpackt werden sollten.
Einstweilen ist Glasgow besehen und vortrefflich. Heute Mor-
gen waren wir in einer stupenden Baumwollenspinnerei voll
tollen Lärmens, so vielem, wie bei'm göttlichen Wasserfall
von Monass, wo sitzt denn der Unterschied für's Ohr? Eine
alte Arbeiterin bei dem Kratzfache hatte einen Baumwollen-
kranz auf und eine andere hatte ihr Zahnweh damit verbun-
den. Hunderte von kleinen Mädchen quälen sich da früh und
sehen gelb aus. Aber poetisch bleibt solche Geschichte
immer. Die Ordnung wird erhaben und das Ganze verschlingt
sich wie Jahreszeiten und Vegetation. Ich spasse wenig und
bewundere viel — die Zeiten sind gamicht so schlecht, wo
Alles, es mag wollen oder nicht, weiter muss und Bewegung
ist die beste Verdauung. Die Zeit eilt schrecklich und vom
Hochland ist noch Alles, die Weite und die Enge, nachzuholen,
aber man ist zu weit voraus, beste, ja noch bessre Gedanken-
und Briefquadern haben wir aller Orten und Ecken liegen
lassen müssen und die Hochländer verstehen's nun nicht und
doch verdienten Sie Alle unser Bestes und nicht unser
Eiligstes."
Klingemann.
Felix:
Auf einer Hebride, den 7. August 1829.
„Um Euch zu verdeutlichen, wie seltsam mir auf den
Hebriden zu Muthe geworden ist, fiel mir eben Folgendes bei:
(Siehe folgende Seite.)
Glasgow, 11. August.
„Was liegt da Alles dazwischen, die grässlichste See-
krankheit, Staffa, Gegenden, Eeisen, Menschen, Klingemann hat
AUes beschrieben und Dir werdet mich entschuldigen, wenn ich
mich kurz fasse, auch steht das Beste, was ich zu melden habe,
genau in den obigen Musikzeilen."
236
Felix in England 1829.
t
<y«Mnifmv
Glasgow. 237
Felix:
Glasgow, 13. August.
,,Hier ist denn das Ende unserer Hochlandsreise und der
letzte unserer Doppelbriefe. Wir waren froh zusammen, haben
munter gelebt, und sind so vergnügt durch die Gegend gewan-
dert, als ob der Sturm und Eegen, von dem alle Zeitungen
berichten (und vielleicht endlich auch die Berliner), garnicht
da wäre. Er war aber da, Wetter hatten wii^ dass die Bäume
und die Felsen krachten. Noch vorgestern auf dem Loch, Lo-
mond sassen wir in der tiefen Dämmerung auf einem kleinen
Euderboot, woUten über's Wasser kreuzen, weil ein Lichtchen
blinkte, das uns einlud, da stiess der Wind aus der Bergecke
sehr rauh und heftig, das Ding fing an so arg zu schwanken,
dass ich meinen Mantel zusammennahm, um mich zum Schwim-
men fertig zu machen, dass aUe unsere Sachen durcheinander
fielen und Klingemann mich ängstlich anfuhr: „Eühr dich!
Rühr dich!" Doch kamen wir glücklich durch, wie wir denn
überhaupt Trefier haben, mussten mit einem fluchenden, jungen
Engländer, der halb Jäger, halb Bauer, halb Gentlemann und
ganz unausstehlich war, sowie mit drei anderen gleichen Ka-
libers in einem Zimmer wohnen und in einem anderen Hause
unter dem Dach schlafen, so dass wir von der Wohn- zur
Schlafstube mit Regenschirm, Mantel und Mütze gingen. Das
Elend, die unwohnliche, ungastliche Einsamkeit des Landes zu
heschreiben reicht aber Zeit und Raum nicht zu; wir wander-
ten zehn Tage, ohne einem einzigen Reisenden zu begegnen;
was auf der Karte als Städte oder doch Dörfer angegeben,
sind einzelne Ställe nebeneinander, in denen Thür, Fenster
und Schornstein aus einer Oeffnung bestehn, die Menschen,
Vieh, Licht und Rauch zugleich ein- und auslässt, in de-
nen Ihr auf aUe Fragen ein dürres „Nein" hört, in denen
dunstiger Branntwein das einzig bekannte Getränk ist, ohne
Kirche, ohne Strasse, ohne Gärten, die Stuben pechfinster am
hellen Tag, Kinder und Hühner auf einem Strohlager, viele
238 Felix in England 1829.
Hütten ohne Dach, viele noch unfertig daliegend, mit zer-
bröckelten Manern, viele Brandstellen; und diese Wohnplätze
sind nur sparsam einzeln zerstreut über das Land ; sehr lange,
ehe Ihr ankommt, hört Ihr von solchem Ort sprechen, der Rest
ist Haide mit rothem oder braunen Kraut, abgestorbenen
Fichtenästen und weissen Steinen dazwischen, oder schwarzer
Moor, in dem sie Trappen schiessen. Dann ündet Ihr auch
wohl schöne Par-ks, aber unbesucht, breite Seen, abea: un-
beschifft; die Landstrassen verödet, und nun über alles das der
Glanz der reichen Sonne gebreitet, die die Haide tausendfarbig
verändert und alles so göttlich bunt und warm beleuchtet, und
die Wolkenschatten, die sich hin und her jagen. Es ist kein
Wunder, wenn die Hochlande melancholisch genannt sind.
Gehn aber zwei Gesellen so lustig durch, lachen, wo's nur
Gelegenheit giebt, dichten und zeichnen zusammen, schnauzen
einander und die Welt an, wenn sie eben verdriesslich sind,
oder nichts zu essen gefunden haben, vertilgen aber alles
Essbare und schlafen zwölf Stunden: so sind das eben wir und
vergessen es im Leben nicht."
Klingemann:
Glasgow, 14. August.
^Mein Gegenüber hat nicht allein die Seite, sondern auch
das Hochland so gründlich beschrieben, dass ich mich schäme,
anzufangen und höchstens ein Stück Oatcahe^) liierher nageln
möchte, als schlagendes Aktenstück und niederschlagendes
Wahrzeichen, ünvergessliches Land! das Gedächtniss der
Nase ist bekannt, und so gut wie Walt**) Aurikelngeruch
nicht vergessen konnte, wird der Hochlandsgeruch in uns fort-
wohnen — eine gewisse räucherige Atmosphäre, die jeder
Bergschotte um sich hat. Ich schloss unterwegs einmal die
Augen und meldete darauf, fünf Hochländer seien vorüberge-
♦) Hafermehlbrot. **) Flegeljahre von J. PauL
Schilderung des Hochlands. 239
gangen — meine Nase hat's gesehen. Die Häuserzahl dort
ist gleichfalls danach bequem zu bestimmen. Im Uebrigen ist
das Land gar so übel nicht, wie es gewisse Leute aus grossen
Residenzen machen wollen, — es hat sich fast ausschliesslich
aufs Bergfach gelegt und leistet doch darin Einiges — Abends,
wenn es dunkel wird und der Stunn sich aufmacht, findet man
doch ein Wirthshaus mit Betten und einen Raum, den man
nicht gerade mit den Viehtreibem zu theilen braucht, sondern
mit schiessenden John Bulls — läuft auch mal ein Huhn durch
die Stube, schreit auch mal unt^r uns ein Schwein, so beweist
das doch, dass man am nächsten Morgen ein frisches Ei und
etwas Schinken zum Fiühstück haben wird, — stösst der
Karren, auf dem man ächzt, auch etwas mörderlich, so ist das
doch nur etwas mehr Aufmunterung zum Fusswandem, — findet
sich auch gerade kein industriöser Kerl, der die Sachen trägt,
wenn man gern zu Fuss gehen will, so ist das nur ein freund-
licher Wink, dass man sich's bequem machen möge und fahren
— hat man einmal nichts weiter als frischen Hering und schöne
fette Sahne, so bedeutet das den patriarchalischen Urzustand,
den wir Neueren immer im Munde haben — machen die Leute
etwas ungeschickt Anstalten zu Mehrerem, mit versetztem Wein
und übersetzten Rechnungen, so ist das doch ein erfreulicher
Ansatz zur Kultur, sowie überhaupt die einzelnen Wirthshäuser,
die auf den Karten als Städte aufgeführt sind, wohl nichts
weiter vorstellen, als eben Samenkörner zu jenen, hier und da
iR die weite, breite Moorerde gesteckt, die schon einmal auf-
laufen werden. —
Und nun kamen wir heraus aus den Hochlanden, denn
wir sehnten uns nach der warmen Sonne, die wir seit Tagen
nicht gesehen, wir wiegten uns in gutem Fuhrwerk, das wir
lange nicht gekostet, durch ebene Gegend und muntere Dörfer,
in denen wir lange nicht gewesen, die Sonne schien draussen
wirklich im blauen Himmel, nur über dem Hochlande lagen
noch schwarze Wolken, je länger und öfter wir aber zurück-
schauten, desto blauer und duftiger wurden die Berge, zu deren
Füssen wir gelegen, alle tiefen Farben spielten und wir hätten
sehnsüchtig werden und uns nach ihnen zurückwünschen mögen,
240 Felix in England 1829.
wenn wir nicht gewnsst hätten, dass es drinnen doch grau
und kaltmajestätisch hergehe. Anf alle Fälle war's aber doch
ein süsses Ade von jenen Höhen, die wir verlänmden nnd
lieben." —
Felix:
19. August, Liverpool.
„Da flog man weg von Glasgow, oben auf der Mail, zehn
Meilen die Stunde, durch Wiesen und Schornsteine, die beide
dampfen, in die Cumberland-Seen, nach Keswick, Kendal, den
niedlichsten Städten und Dörfern, das ganze Land ist wie eine
Wohnstube, Felswände, aber wohltapeziert mit Büschen, Moos
und Tannen, die Bäume sorgfältig in Epheu gewickelt, keine
Mauern oder Zäune, nur hohe Hecken, und diese bis auf die
flachen Berggipfel hinauf, von aUen Seiten fliegen Wagen mit
Eeisenden über den Weg, Korn steht in Garben aufgepflanzt,
und Abhänge, Hügel, Schluchten, alles mit dem warmen, dicken
Grün bedeckt, darauf gleich wieder die dunkelblaue engUsche
Ferne, manche alte Adelsburg dazwischen, so ging's bis Am-
bleside, da wurde der Himmel wieder finster. Regen und Sturm,
wir aussen auf der Stage^ durch die Hohlwege, an den Seen
vorbei, bergauf, bergab wie toU jagend, so in die Mäntel und
Schirme gehüllt, dass wir nur die vorüberfliegenden Gitter,
Steinhaufen oder Gräben zählen konnten, dann wieder hinaus-
guckend auf veränderte Berge und Seen, mit den Regen-
schirmen an die Häuserdächer zuweilen anstossend, durch und
durch nass in ein schlechtes Wirthshaus mit hohem Kaminfeuer
und englischen Gesprächen von Fussgehen, Steinkohlen, Abend-
brot, Wetter und Bonaparte handelnd, dann gestern durch Zu-
fall auf getrennten Ä^ay^plätzen, so dass ich Klingemann kaum
sprach, denn in vierzig Sekunden ist umgespannt, ich auf dem
Bock neben dem Kutscher, der mich frug, ob ich viel die Cour
machte und sich Manches erzählen liess, während ich die Pferde-
sprache von ihm lernte,. Klingemann neben zwei alten Weibern,
denen er ein Stück Schirm abtrat, wieder Fabriken, Wiesen,
Parks, Landstädte, hier ein Canal, da eine Eisenbahn, dahinter
Liverpool. 241
das Meer mit ScMffen, sechs volle Kutschen mit anfgethürmten
Menschen nacheinander, Abends dicker Nebel, die Stages rasen,
wenn's dnnkel wird, durch den Nebel am Horizont weit und
breit Laternen zerstreut, Windmühlenflügel, Fabrikenrauch von
allen Seiten, einzelne Herren zu Pferde vorübersprengend, das
erste StagehoTR tutet iu b-, das zweite in d-dur, noch andre aus
der Feme hinterher, und da sind wir nun iu Liverpool. —
Heut Abend geht Klingemann nach London, ich nach Holy-
well, die Schottische Reise ist vorüber, es geht Alles sehr
schnell, viel ist mir seit Kurzem vorbeigezogen und es steht
noch nicht stül. Wir gehn nun auseinander und legen schöne
Zeit zur Vergangenheit." —
Klingemann:
Liverpool, 19. Aug., Abends halb zehn.
„Um zehn Uhr ist das Vergnügen aus, ich setze mich,
nachdem sich zwei nachdenkliche Reisegesellen auseinander-
gesetzt, auf die Maü und fahre nicht fort, wie ich gewollt,
im Briefe, sondern nach London! Darum hier kurzer warmer
Abschied von Doppelcorrespondenzgenossen und all' dem grünen,
bergigen Durcheinander, nach einem Tage, wie dem heutigen,
im Städtchen Liverpool, wo wir uns auf Börse und im Hafen,
auf neuen Kirchhöfen und in Rathhaussälen haben herumtreiben
müssen und sogar noch für unser Dinner zu guter Letzt im
Dampfboot über die rauhe, regnigte Mersey schiffen, von wo
wir eben, in dunkler Kajüte sitzend, zwischen unsichtbaren,
schweigenden, schwatzenden, angetrunkenen, nüchternen Liver-
poolern zurückkommen, und mit Packen und Berechnen den
vierwöchentlichen nassen aber tapfem Festtag ausläuten. So
mögen denn die Glocken kHngen und stille fortbrummen, bis
das wunderliche Schicksal sich's 'mal wieder in den Kopf setzt,
Leute, Gott weiss wie, auseinanderzubringen und Gott weiss
wo zusammenzuführen. Auf einem närrischen Umwege reden sich
Leute, die sich auf mehr wie eine Weise gegenübersitzen, an,
Die Familie Mendelssolm. L 16
242 Felix in England 1829.
wenn sie sich in einem Doppelbrief anschreiben und etwa sagen:
Gottlohn und schönen Dank für geleistete gute Gesellschaft!
Wir zogen in der That ehi'lich und wacker genug durch Hoch-
und Tieflande, wehe aber all den schlechten Inn's und alle
den Regenschauern, die uns so oft zum Schweigen gebracht
haben! Basta! Felix beneidet mich jetzt um das elende
Fleckchen Platz, was ich noch habe, weil ich nun unter vielen
andern pikanten Dingen noch das herausheben kann, wie wir
heute an Bord eines amerikanischen Schiffes waren, von New-
York, das „Napoleon" heisst, und auf dem sich, ausser allem
erdenklichen Mahagonicomfort, auch ein Piano von Broadwood
befand, zum Trost für lange See-Augenblicke, und wie er, im
Hafen von Liverpool, unfern des Atlantischen, sich hinsetzte
und mir aus dem ersten Satz Ihrer Ostersonate, o Fräulein
Braut, vorspielte, von der wir früher bloss gesprochen, — die
kalte Luft wehte dazu von oben herein, und Matrosen sangen
von Weitem zur Ai'beit ein eintönig Moll-Lied. — Adieu. — "
Felix:
LI angollen, den 25. Aug. 29.
„Nur keine Nationalmusik! Zehntausend Teufel sollen
doch alles Volksthum holen! Da bin ich hier in Welschland,
und, 0 wie schön, ein Harfenist sitzt auf dem Flur jedes Wirths-
hauses von Ruf und spielt in einem fort sogenannte Volks-
melodieen, d. h. infames, gemeines, falsches Zeug, zu gleicher
Zeit dudelt eben ein Leierkasten auch Melodieen ab, zum
ToUwerden ist es, Zahnschmerzen habe ich leider davon; die
Schottischen Dudelsäcke, die Schweizer Kuhhörner, die Wel-
schen Harfen, die alle den Jägerchor mit Variationen als
Improvisationen von grässlicher Art vortragen, ferner die
schönen Gesänge auf dem Flur, überhaupt alle ihre reelle
Musik! Es ist über die Begriffe! Wenn man wie ich Beet-
hoven's Nationallieder nicht ausstehen kann, so gehe man doch
hierher und höre diese von kreischenden Nasenstimmen ge-
Schlimme Musik.
243
grölilt, begleitet von tölpelliaften Stümperfingern, und schimpfe
nicht. Während aller dieser Zeilen spielt der Kerl auf
dem Flur:
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und das varürt er und dazwischen spielt der Leierkasten ein
geistliches Lied aus Es-dur. Ich werde toll und muss das
Schreiben auf nachher lassen. — —
D. 26. Aug. Und daran that ich auch Eecht; icb ging
in Verzweiflung gestern Abend zu den drei Wirthstöcbtern,
die ein Klavier haben, und bat sie, mir darauf etwas vorzu-
spielen; sie sind recht hübsch und thaten's, Leiermann und
Harfenist (letzterer ist übrigens zugleich der Barbier, wie ich
heut früh sah) verstummten, die Töchter orgelten los, ich war
selig, die mttette de Fortid, einige Quadrillen thaten mir wohl,
nachher baten sie mich, sie zu „begünstigen" und darauf be-
günstigte ich denn nach Herzenslust, raste umher und spielte
mir Zahnschmerzen fort; der Abend war ganz angenehm und
ich kam zu spät, um zu schreiben, nach meinem Zimmer zurück.
Dazu war ich gestern auf einen hohen Berg, mit den Trüm-
mern einer Nonnenburg auf seinem Gipfel, geklettert, hatte
mich von da weit umgesehen, in die blaue Ebene, und in
dunkle, einsame Thäler am Fuss; war gleich in eins dieser
stillen Thäler hinabgestiegen, in dem die Mauern und Fenster
einer alten Abtey von zarten grünen Bäumen verdeckt und
ausgefüllt werden, die Abtey liegt am lärmend laufenden Bach,
Berg- und Felssteine liegen umhergestreut, der Chor der Kirch©
16*
244 Felix in England 1929.
ist znm Stall, der Altar zur Küche verwandelt, über die
Spitzen der Fensterzierrathen ragen weit die Gipfel der Buchen,
die im sonstigen Kapitel stehen, und der Himmel war ruhig
grau; ich componirte ein wenig, statt zu zeichnen in Hensel's
Weihnachtsbuch ; es war ein hübscher Tag.
Blauer Himmel und Sonnenschein thuen mir herzinnig
wohl und sind mir so unentbehrlich ! Hier sind sie nicht. Das
macht mich eigentlich ernsthaft oder fast betrübt. Der Sommer
ist fort, und ohne einen Sommertag gesendet zu haben. Gestern
war ein guter Tag, d. h. ich wurde nur dreimal nass, behielt
den Mantel fortwährend um die Schultern und sah die Sonne
ein paarmal durch die Wolken; von schlechten Tagen nun
hat man keine Vorstellung; ein wüthend pfeifender Sturm weht
mit wenig Unterbrechung seit vier Wochen, dazu fallen die
Wolken herunter und würden schrecklich regnen, wenn der
Sturm sie ruhig fallen Hesse ; der fängt sie aber auf, wirft sie
in der Luft umher, peitscht sie als Wasserstaub in's Gesicht,
es ist nichts dagegen zu thun, als still in den Häusern liegen
zu bleiben; statt der sonstigen munteren Eeisegespräche hört
Ihr um Euch nur einzelne verdriessliche Worte: seit Menschen-
gedenken, oder überschwemmter Weg, oder Ausbleiben der
Posten und Schiffe, verdorbener Eeiseplan. Und so ist auch
meiner nun verdorben, heut wollte ich den letzten Versuch
machen, und im Fall blauer Himmel wäre, noch einmal in die
Berge gehen, aber es ist wieder der Regensturm oder Sturm-
regen und ich gebe es heute auf. Die Eeise nach Irland ging
mir in Bangor und auf der Insel Anglesea zu nichte, trotz
aller Nässe dacht ich noch daran, es auf ein Paar Tage drüben
zn versuchen; da kam aber das Dampf boot, war statt sechs
Stunden fünfzehn gegangen, und wie die einzelnen seekranken
Passagiere nass, schwach und fluchend umherwankten, da liess
ich mich zur Kutsche in's Land einschreiben. Ich habe mit
dem Wetter gekämpft, wie man nur kann, bin fast täglich
bis auf die Haut durchnässt gewesen, habe die Berge gesehen
wie Möbel, Kronleuchter und Teppiche eines alten Palastes,
mit grauen Leinwandüberzügen zugedeckt, nur einzelne Pracht-
spitzen unverhüllt, nun aber ist es aus. Morgen geh ich zu
Abschied von Klingemann. Liverpooler Tannel. 245
meiner Familie auf s Land (siehe unten) und Mitte der nächsten
Woche bin ich wieder in London.
Dazwischen stehen aber zwei helle, frohe Tage wie Son-
nenschein, und sonderbar, dass alles so anders kommt, als man
sich's ausmalt, es waren grade die beiden ersten, wo ich so
ganz aUein, ganz in der Fremde war. Am Abend, wo ich den
vorigen Brief schrieb, hatte Klingemann gepackt, sich fertig
gemacht und ich begleitete ihn in der Nacht durch den rasen-
den Regensturm nach dem Posthause, er stieg aufs Deck, wir
sprachen noch einzelne deutsche Worte herab und hinauf, dann
stiess der guard, gräulich in die Trompete, die stage rasselte
ab, mir kam London so heimisch vor, als sei es die Vaterstadt,
und ging nun allein in die leere Stube durch den Regen zurück
und legte mich im Zimmer mit zwei Betten schlafen ; aUes das
war noch vor einer Viertelstunde anders gewesen, kurz, denkt
Euch den schlechtesten Abend und Ihr kommt nicht an die
Wirklichkeit. Dazu schlechte Wirthsleute, theure Rechnungen,
eine verunglückte Zeichnung und dergleichen Kleinigkeiten. —
Am andern Morgen reiste ich erst um Zwei ab, ging also doch,
um etwas zu thun, nach der Eisenbahn, die nach Manchester
fünfunddreissig Meilen weit führt, und kam an die beiden
Tunnels, fing an spazieren drin zu gehen und wie ich vom
grossen das Ende durchaus nicht absehen konnte, imponirte mir
das Ding ein wenig, ich redete den Aufseher an und brachte
ihn endlich durch Vorstellungen und Bitten dahin, dass er mir
einen Wagen erlaubte, um unter Liverpool durch bis an den
Hafen zu fahren; der schwere Wagen kam, hinten auf stieg
ein Arbeiter und los ging's, fünfzehn Meilen in der Stunde war
die Geschwindigkeit, kein Pferd, keine Maschine ist da, der
Wagen läuft von selbst und treibt sich nach und nach zur
tollsten Schnelligkeit ; das kommt, weil es ein wenig, ganz un-
merklich, bergab geht, zwei Lichter brannten vorne, das Tages-
licht verschwand, der Zug blies die Lichter aus und nun war
dichte Finsterniss, ich habe zum ersten Male in meinem Leben
nichts gesehen, dazu raset der Wagen immer schneller und
rasselt stärker, es war etwas für meinen Magen. In der Mitte
des Ganges kamen wir an einem Kohlenfeuer vorbei, da hielt
246 Felix in England 1829.
der Arbeiter still und steckte sich eine Lampe an, streng
kalt war es auch im Gang, dann kam das rothe, warme Ta-
geslicht von fern geströmt und ich stand am Hafen, als ich
herausstieg. Es stärkte mich sehr, und als ich auf dem Heim-
weg durch's Marktgebäude ging, so wurde ich vergnügt. Dies
ist nur ein leichtes Fachwerkgebäude, aber viel grösser als die
katholische Kirche, mit ganz niedrigem Dach, drin laufen in
der ganzen Eeihe etwa acht Reihen Büffets, die mit auf-
gethürmten Früchten, Fleisch, Gemüse, Kuchen beladen sind,
so dass ein langer weiter Spaziergang zwischen Victualien-
aUeen sich aufthut ; Menschen aller Art wimmeln, viel Schwarze,
Amerikaner, Italiener, Welschsprechende, Marineofficiere, unzäh-
lige hübsche Köchinen, in der Mitte hängt eine grosse Uhr, an den
Wänden Pläne von Liverpool; ich wui'de lustig und fuhr nach
ehester. Unterwegs überlegte ich mii% was mir schon lange
im Kopf gelegen hat, ob es nämlich auch ganz recht sei, dass
ich so auf's Gerathewohl, ohne eigentlichen Zweck, nur für's
Plaisir, schon seit vier Wochen umherführe und viel Geld und
Zeit ausgäbe. Die Idee hatte mich melu-mals seit einigen Ta-
gen verdriesslich gemacht. Da sagte ich mir aber, dass ich
etwas sähe, was ich nie wieder sehen würde, dass ich mir
England frei und ohne Geschäftsideen anguckte, dass diese
Unabhängigkeit nüi- hier nicht noch einmal werden könnte,
denn wenn ich wieder komme, so hab ich zu viel zu thun, als
dass ich so munter umherfahi^en könnte; und da ich wohl nie
wieder einen Sommer liier zubringe, da mir Schottland sehr
unvergesslich ist, da ich noch nie Zeit habe verloren nennen
können, in der ich froh und erfrischt war (und wenn ich faul
war, so war ich eben nicht froh),besonders aber da mir manches
Neue sich im Kopf zusammenbaut, was mir beweist, dass ich
die Fischblütigkeit der Gesellschaften und Menschen in London
verdaut habe, und dass ich wieder loscomponiren muss, Avoran
ich zuletzt halb verzweifelte, so warf ich die Verdriesslichkeit
weg und sprach mich fast los ! (Es ist nun die Frage, ob Du,
lieber Vater, es auch thust?) — Nun, und dann wurde ich
froh, und in ehester war ein heiterer Augenblick; auf den
dicken, breiten Stadtmauern läuft ein Spaziergang um die Stadt,
ehester. Coed Du. 247
oben sah ich eme Mädchenpension gehen, ich mit meinen
Zeichenbüchern hinterher, die Mädchen waren ganz hübsch, die
Ferne sehr blau, die nahen Häuser und Thürme dunkelbraun,
Abends regnete es leise und in der Dunkelheit jagten wir nach
Holywell. Mein Nachbar sprach viel von seinem jüngst ge-
storbenen Sohn und lud mich ein (ich komme auch und er
weiss noch nicht meinen Namen), dunkle Klumpen auf beiden
Seiten versprachen Hohlwege, Bäume und Berge, und ich legte
mich zu Bette, nachdem ich dem Jungen befohlen, morgen ja
mit dem Frühesten nach der Post zu gehen. Der weckte mich
drauf mit Briefen, die mir den vergnügtesten Tag bereiteten; ich
erhielt einen lieben von Droysen, dem Ihr meine Freude und
meinen Dank vorlesen müsst und den Eurigen, voll Plaisir und
Mühlenfels! — Der Gedanke, dass Vater vielleicht nach Lon-
don kommen könnte, machte mich fast toll vor Lust; lieber
Vater, wenn Du kämst! die Stadt solltest Du gut sehen, ich
wollte sie zeigen, und wie würdest Du sie lieben! Das sagten
Klingemann und ich schon immer zu einander; Du sagst, Du
brauchest Erregungen; bei Gott, das ist eine; ich will garnichts
mehr sagen, sonst vergesse ich das üebrige. Aber wenn es
wäre ! — Eben das nun, und die ganzen Briefe machten mich
so vergnügt und glücklich und heimisch in der Einsamkeit; da
fuhr ich denn nun hinaus zu Taylors, um mich für übermorgen
anzusagen; die wohnen da im Landhause, das auf weitem,
geschornem Grasplatze zwischen Blumen steht, Bewegung, Lärm,
Menschen sind nirgends, in der Ferne die Bergwerke, denen
der Vater vorsteht. Berge überall, und nun kam ich zu Fuss
durch die Wiesen und fand die elegante, förmliche Londoner
Familie, aber wie verwandelt: Vater und Bruder waren verreist
never mind^ zwei Töchter pflanzten im Garten, die Mutter ritt
zu Ese^ hei me wurde Hand geschüttelt, die hübscheste Toch-
ter vermisste ich ; auf dem Spaziergang hörten wir aber Pferde
trappeln, und gleich darauf kam selbige an in einem blauen
Reitkleid, und ein langer Cousin hinter ihr; sie war ausser
Athem, sehr hübsch und heisst Susanna. Den Cousin fing ich
an zu hassen — bis sichs fand, dass er sich ein Vergnügen
draus machte, mit mir nach Wales zu reisen ; das nahm ich an.
248 Felix in England 1829.
wir schlössen ewige Freundschaft (aber auf Englisch, denn er
versteht kein Französisch und gar Deutsch!) und aUes wurde
verabredet. Als ich drauf den guten englischen Flügel da fand
und mir manches darauf vorspielte, als besagte Reiterin mir ihr
Gartenhaus (sie hat eins von Tannenborke im Park) versprach,
um drin bei meiner Rückkehr zu komponiren, wofür ich ilir
versprechen musste, selbiges Rindenhaus zu zeichnen (es ist so
eine Art Länmierei im beliebten Genre), als zum Essen die
Mädchen alle mit weissen Kleidern erschienen, für die ich eine
entschiedene Vorliebe habe (ob die auf Mädchen oder Kleider
geht, bleibt unentschieden), als ich mir drauf in der Dämmerung
beim Kaminfeuer wieder etwas vorspielte und dann Nachts nach
Holywell zurückfuhr, so schlief ich natürlich im Wagen ein,
träumte aber Angenehmes. Das waren die zwei Sonnentage.
Den Morgen drauf war wieder Regensturm, doch reisten der
Engländer und ich ab, schliefen die Nacht am Meere in Bangor
(Wales ist ein schönes Land, aber das Format ist so klein,
dass ich mündKch die Beschreibung Hefem muss), den nächsten
Tag über Caernawon nach Beddgellert und dem Thal von
Festiniog, dann nach Capel Carrig, endlich gestern nach Corwen,
wo er nach dem Landgut (es heisst Coed Du) zurück und ich
hierher ging. Wir haben uns recht gut vertragen und viel
conversii't; hätte er mich nicht einmal, als ich Fanny's erstes
Lied „Hören möcht ich" auf der Stage sang, beim Aermel ge-
zupft und mir einen Lachsfang gezeigt, wo man die dicksten
Lachse fängt, so hätte ich ihn nie angefahren oder angebrummt.
Diese Lieder aber sind schöner, als gesagt werden kann. Ich
spreche bei Gott als kalter Beurtheüer und finde sie sehi' hübsch.
Aber es giebt doch wirklich Musik, die ist, als ob die Quintes-
senz aus der Musik genommen wäre, als ob es die Seele von
der Musik wäre. So die Lieder. 0 Jesus! Besseres kenne
ich nicht! Aber lebt wohl! Wohin ich heut gehe, nach Osten,
Westen oder Nord, ist noch nicht ganz gewiss, vielleicht
bleibe ich gar sitzen, es regnet zu sehr. Doch ist dies der
letzte Reisebrief, denk' ich, der nächste kommt aus London,
dem Rauchnest. — Betrachte ich meine heutigen Thaten, so
sage ich mit Vater zu mir selbst: Donde diavolo etc. Nehmt's
Englisches Landleben. . 249
auf, wie ich's lunschreibe und seid mir gegrüsst. Sonderbar
ist's, dass der Tag, an dem Ihr Euem Brief schriebt, wo im
Grarten die Sonne schien und Ihr mir Gleiches wünschtet, einer
der wenigen hellen Tage auch für uns war. Guten, frohen,
heitern Morgen denn Euch Allen!"
Felix.
Coed Du, den 2ten Sept. 29.
„An die Schwestern will ich ihn richten, habe meine Gründe
dazu; es ist der Wendepunktsbrief für dies Jahi^, denn von
nun an werden sie posttäglich näher und näher adressirt, bis
sie ganz aufhören; dies der eine; es ist eben nichts Wichtiges.
Ernsthaftes, Geschäftsmässiges zu berichten, sondern mehr von
Gärten, Zeichnen, Länmiern, dies der andere ; und zum ersten
Mal seit Deutschland bin ich wieder mal herzlich und zutrau-
lich mit Menschen zusammen und freue mich ihrer und denke
Eurer: dies der Hauptgrund. Denn viel ist von Euch Schwes-
tern hier die Eede, sie machen Euerm Bilde schrecklich die
Cour und kennen Euch sehr gut mit Vornamen und allem und
ich beschreibe Euch pünktlich. Zwar hätte ich Euch alles dies
schon von London aus schreiben können, denn wie ich im letzten
Brief meldete, werde ich gegen Ende dieser Woche da sein;
weil ich aber nicht weiss, wie viel Zeit und Lust die schnelle
Eeise und vieles andere bei meiner Ankunft in London zum
Schreiben lassen werden, weil ich zweifle, dass ich Euch so
heiter von da aus anreden kann, wie ich es nun gerade jetzt
mag, so ist es besser, dass ich den Brief noch von hier aus
schicke, wenn er auch ein Paar Tage älter ist; hier nämlich
ist Coed Du, das Landgut in England. Den Tag meines letzten
Briefes aus Llangollen fuhr ich allein in der Mail durch furcht-
baren Eegen; ging dann zu Fuss in's Thal von Llanrust und
fuhr im offenen Wagen nach Conway, wo ich so nass ankam,
wie ich vielleicht noch nie in meinem Leben gewesen bin. Den
folgenden Tag fuhr ich nach Holywell, wo ich Briefe von
Euch erwartete und keine fand; ich kam nasser an, als den
vorigen Tag, diesmal war meine Stube schlecht, der Kopf
brummte mir vom Sturm, die gehofften Nachrichten von Hause,
250 Felix in England 1829.
an denen icli immer einen Tag lang kaue und zehre, blieben
aus, das Kamin rauchte, kui-z so behaglich ich es das erste
Mal im Wirthshaus fand, so unbequem langweüig war es das
zweite Mal und wie ich denn überhaupt alle Zweitenmale hasse
oder fürchte, so zitterte ich vor der Rückkehr nach Coed Du.
Dazu hatte ich nichts zu lesen, weil der erste Theil von Guy
Mannering, den ich mir in der neuen Fünf-Schilling-Ausgabe
kaufte, zu Ende war und der zweite erst heut in London er-
scheint; nahm also die Zeitungen und las vom Irländischen
Dampfschiff, das der Capitain schon aufgegeben hatte, dem alle
Kohlen fehlten, das statt sechs und zwanzig, sechs und fünfzig
Stunden ging, in dem die Passagiere auf der Erde lagen, die
Aufwärter auf den Vieren kriechen mussten, die Damen nicht
aus der Ohnmacht erwachten und das nur durch ein augen-
blickliches Anhalten des Wüthewindes gerettet ist ; dann wieder
von zwei Personen, die trotz alles Läugnens und mancher Uu-
wahrscheinlichkeiten in drei Tagen verdammt und gestorben
sind und so mehrere hässliche Sachen. Am andern Tage aber
kam das Landgut und nun möchte ich doch so gerne beschreiben,
aber wie soll ich es machen ; wenn jeder Schritt, jeder Augen-
blick, alles so ganz von Deutschland verschieden ist, was soll
ich hinausheben?
Ich wollte, ich wäre ein berühmter Schi'iftsteUer, es wäre
was für mich. Doch lege ich los mit Beschi-eiben, für Euch
Kinder ist es gut genug. Englisch spricht man hier, so fein
wie nur möglich, und ich nehme mich sonderlich aus zuweilen,
aber das thut wenig. Der Vater also, Herr Taylor, ist der
englischste Engländer, den Ihr erdenken könnt. (A propos,
Hamilton & Co. kenne ich nicht, habe sie nicht gesehen, und
sie zu nichts als einem Singakademiebillete empfohlen.) Der
Hausherr also ist der Inhaber ungemein bedeutender Bergwerke
in vielen Theilen Englands und scheint sehr angesehen in seinem
Fach; hier hat er sechs Bleiwerke und inspicirt die mit seineu
Söhnen, die waren in Deutschland, sprechen deutsch mit mir,
jagen auf Mord (Dick hat gestern fünfzehn Eebhühner und
einen Fasan geschossen), reiten Carriere über die Wiese vor
dem Haus, fischen, richten die Hunde gut ab und necken ihre
Englisches Landleben. 251
Schwestern. Diese haben ihre Meriten, hübsch ist eigentlich
nur die zweite, diese aber sehr und spricht einen guten Ton, aber
gut sehen sie Alle aus, und die älteste ist ein prächtiges
Mädchen, so wie auch an der jüngsten nichts getadelt werden
muss. Zum Glück spielt hauptsächlich die zweite Klavier und
ich gab ihr schon manchen guten E,ath, wie sie das Gelenk
lose halten müsse und die Finger: so! Aber die älteste zeichnet
vortrefflich Landschaften und kann auch Männer und Frauen
im Vordergrund anbringen ; da das mir nun nicht gegeben ist,
so macht sie mir zu einigen schottischen Gegenden gute Staffage,
unter andern gestern ein paar wundernette Hochländer; die
jüngste aber hat mir eben ein kleines Nadelkissen geschenkt.
Die Mutter ist ruhig und still und gut; man sieht wohl, dass
sie das Ganze führt und regelt, ob sie schon wenig spricht;
ich bin ihr von Herzen gut und sie mir auch, denk ich; sie
erinnert mich oft lebhaft an Dich, liebe Mutter, sogar im Ge-
sicht ist zuweilen die Aehnlichkeit sehr auffallend. Ausserdem
sind da: di*ei lange, dürre, hässHche, moquante Cousinen aus
Irland, unverheirathet, alt, heimlich Idchernd, in papageigrünen,
kurzen Kleidern; wir stehen in offener Fehde gegeneinander
und hassen uns sehr; item ihr Bruder, ein stiller, grämlicher,
junger Mann, spielt das Hörn und versteht was vom Berg-
bau; ferner ein anderer Cousin, mein Reisegefährte, schiesst
viel Kaninchen, zeichnet und macht der jüngsten Cousine fast
den Hof; item ein ruhiger Seekapitain, item 3 Ponys und
Donkeys (ist ein Esel), ein Phaeton, ein in Sammt und Seide
gehüllter Bedienter, Gärtner, Bauern etc. Die Scene ist zwi-
schen Mold und Ruthin in Flintshire, Zeit zwölf Uhr Mittags.
Die vielen Fremden sind aber erst seit gestern hier und wollen
der grossen Fete beiwohnen, die in einer Stunde losgeht. In
einem engen Thale, sechs Meilen von hier, ist nämlich ein Zelt
aufgebaut, unter dem heut zu Mittag gegessen wird; da ist
nun die ganze Nachbarschaft gebeten, versammelt sich hier
um eins und bewegt sich dann zu Fuss nach dem besagten
Zelt zu; wo es hübsch ist, wird stiU gehalten und nach allen
vier Weltgegenden hin gezeichnet, die Mutter reitet zu Esel,
für Honorazioren ist der Phaeton angespannt, der gestern ge-
252 Felix in England 1829.
schossene Fasan steckt sclion in der braunen Pyekruste, viel
Blumen muss der Gärtner bringen, ich sehe aus meinem Fenster
weisse Kleider auf der Wiese umherschimmern, ist's gut Wetter,
so lachen wir, sollt' es regnen, so lachen wir noch mehr, auch
ist eine Dampfmaschine in der Nähe, an der wir uns wärmen
können und unterki'iechen im schlimmsten Falle ; wenn wir zu
Hause kommen heut Abend, so finden wir den Saal erleuchtet
und offen, weil getanzt werden soll (das haben mir die Mäd-
chen heimlich verrathen, sagt's also nicht weiter), und so ist's
auf einmal heut ein Festtag, aber ganz ohne Anlass, nur bloss
um sich Vergnügen zu machen; das gefällt mir nun gar zu
sehi', und es soll mir Keiner so gleich auf die Engländer schimpfen.
Ausserdem leb' ich hier prächtig, vor Allem giebt's viel Musik,
ich spiele wohl drei bis vier Stunden den Tag und komponire
mancherlei, unter Anderm einen J^usgangssatz für die nächste
Hochzeitsfeier. Auch ist das veniickte Lied an die Tragödinn
abgegangen. Du, Fanny, machst die Correkturen. Ferner
habe ich Miss Anne voreilig versprochen, das Bouquet Nelken
mit einer Eose in der Mitte, was sie mir neulich schenkte, zu
komponiren, und laborire etwas daran; ich muss es in ihr Buch
schreiben und den Strauss darüber zeichnen, es wird, wie Seidel
sagt, sehr zart. Mein Violüiquartett schicke ich bald fertig
hinüber, und zur Vollendung meiner Reformations - Symphonie
war ich neulich fünfhundert Fuss unter der Erde, vielleicht
nicht ohne Erfolg. Die Hebridengeschichte kann auch toll
werden, und zur silbernen Hochzeit braue ich viel Getränk.
Das ist die Musik explicüe. — hwplicite ist sie nun, wenn wir
Alle zusammen drüben an der Schleuse sitzen und zeichnen:
Miss Anne und ich die Schleuse, Susan ihre Schwester Anne,
die jüngste, mit dem Rücken gegen ims, den weitern Lauf des
Bachs, der Cousin die ganze Gruppe, und dann kommt der
Vater aus seinem Bergwerk über die Brücke und lächelt sehr
behaglich, und plaudert mit uns, die wii* uns nicht stören lassen ;
am Abend, wenn genug Musik gemacht ist, werden dann die
Zeichnungen genommen und gebessert, Anne führt die ihrigen
gut aus und hat Licht und Schatten, ich nehme die Sachen
breiter und wichtiger, Susan's Staffage wird in unsere Land-
Englisches Landleben. 253
schaffe eingetragen, sie hrancht unsere Bäume als Hintergrund
und so fort. Oder wenn wir zusammen spazieren reiten, denn
die Mädchen nehmen sich in den blauen Eeitkleidem erträg-
lich aus; so war ich neulich mit dem Bruder John und der
ältesten Schwester und machten in der Nachbarschaft einen
Besuch an zwei alte Damen, so ritt ich gestern mit dem Cousin
und Susan weit durch die Gegend über zwölf Meilen ; hat man
nun eine Weile tüchtig Weg gemacht, über mein deutsches
Leben gesprochen, und reitet dann langsam und conversirt,
und fängt dann so eine stille Engländerin auf einmal an, von
Dir, Beckchen, zu sprechen und mir zu beschreiben, wie sie
Dich reiten lehren woUe, wenn Du nach Coed du kommst (denn
dass Ihr kommt, ist seit einigen Ta£:en den Mädchen ganz
unzweifelhaft), und wie Du viel besser reiten werdest als Fanny
(ich glaube es fast selbst), und welche Zimmer Ihr dann be-
wohnen soUt. — Oder wenn alle Mittag von demselben lieben
Hausfreund geredet wird, der jetzt grade nach Mexico ist und
Captain Lion heisst ; Vater wird sich aus Eitter's Colleg seiner
erinnern; es ist Derselbe, der die Wüste Sahara schnell ver-
liess, um nach dem Nordpol zu gehen; und wenn der Vater
dann die schönsten Züge von Lion's Reisen erzählt und die
Töchter die Amerikanischen Dinge zeigen, die er jeder ge-
schenkt, und die Mutter mir gern die Lieder der Esquimaux
beschreiben möchte, die er ihnen an Sommerabenden im Freien
vorsang. — AUes das ist freilich Musik und recht schön; wisst
Ihr noch, dass ich bei Potsdam mal für Heliotrop schwärmte?
ich thue es hier für eine grosse Nelkenart (Samen davon wird
mitgebracht) und alle Morgen bekomme ich die schönsten ge-
schenkt; mein Zimmer duftet gar zu süss; und wenn ich am
Sonntag nicht Ciavier spiele, weil ich deutlich merke, dass
es ihnen unangenehm ist, und dann am Abend ihnen was
Ernsthaftes, Geistliches von Händel oder dergleichen spielen
muss, so ist das vielleicht doppelte Musik. Morgen ist in
HolyweU ein public dinner^ Herrn Taylor von den Leuten in
der Umgegend gegeben; dem wohne ich noch bei, als Haus-
freund, denn ich glaube, ich darf mich fast so nennen, und
fahre dann übermorgen nach London zurück. Von da aus mache
254 Felix in England 1829.
ich mehrere Dmge richtig, bedanke mich bei allen Freunden
und Gönnern, schreibe an Moscheies, Johnston etc., führe meine
Zeichnungen aus, gehe über den Canal etc. etc. Dies Ende
schreibe ich schon neben der Dampfmaschine, von der ich sprach,
denn in der Mitte wurde ich abgerufen und spazierte mit den
Damen hierher in's Thal, wo's Zelt steht. Das Weitere will
ich eben erleben und Euch dann schreiben."
London, 10. Sept. 29.
^ Mein Aufenthalt bei Taylor's war eine von den
Zeiten, die ich nie aus dem Gedächtniss verlieren werde, und
es wird mir blumenmässig zu Muth werden und die Wiesen
und Waldkräuter und Bachkiesel mit dem Rauschen vergess
ich nicht ; wir sind Freunde geworden, denk ich, und ich habe
die Mädchen so recht herzinnig lieb, glaube sogar, dass sie mir
auch gut sind, denn wir waren fröhlich zusammen; drei mei-
ner besten Ciavierstücke verdank ich ihnen übrigens; als die
beiden Schwestern sahen, dass ich mit den Nelken und der
Rose Ernst machte und zu componiren anfing (natürlich in
Susan's Haus), so kam die Jüngste mal mit gelben, offnen,
kleinen Kelchen im Haar, versicherte mich, das seien Trom-
peten und ob ich die nicht in's Orchester einführen wolle, da
ich doch geäussert hätte, ich brauchte neue Instrumente, und
da wir am Abend nach Bergmannsmusik tanzten und die Trom-
peten sehr schrillten, meinte sie, nach ihren Uesse sich's wohl
besser tanzen; da componirte ich ihr denn einen Tanz, wozu
die gelben Trompetenkelche aufspielen; und der mittelsten gab
ich den Bach, der uns während des Spazierrittes so gefiel,
dass wir abstiegen und uns dran hinsetzten (ich glaube, ich
hab's Euch schon geschrieben?) Dies letzte Stück, glaube ich,
ist das beste, was ich in der Art mir ausgesonnen habe, es ist so
langsam laufend und ruhig und ein bischen langweilig einfach,
dass ich es mir alle die Tage vorgespielt habe und sentimen-
tal dabei geworden bin. Ich würde Euch die Stücke schicken,
aber da ich am nächsten Posttage mein Quartett beendigt zu
haben hoffe und Euch zusenden will, so muss ich doch auch
etwas Neues im December mitbringen und behalte meine fünf
Rückkehr nach London. 255
Stücke, nicht Uons, wie Beckchen fälschlicli sagt, sondern da/T'
Ungs von mir, für mich. Besitze ich doch das eine nicht ein-
mal in meinem Manuscript. Ja, ärgert Euch nur, Kinder! Es
wird nichts anderes als Süssholz geraspelt und zwar Englisches.
— Im Ernst aber, die Zeit war froh und verlief schnell, dann
am Abend spät fuhr ich fort, die Lichter im Hause flackerten
noch hell in der Ferne durch die Büsche; in meinem offenen
Wagen kam ich dann an verschiedenen Lieblingsplätzen, an
besagtem langsamen Bach, an dem letzten Zaun der Besitzung
vorbei und nun ging's fort in der rasenden, englischen Ge-
schwindigkeit; ich brummte aUe meine unangenehmen Reise-
gefährten an, sprach kein Wort, sondern blieb ruhig halb
träumend, halb denkend, halb verdriesslich wie man immer wird,
glaub' ich, wenn man in einer Mail so seine zwei hundert Mei-
len abraset. Und fast eine laterna magica des ZufaUs war es,
dass kurz vor der zweiten Nacht, die ich durchfuhr, um den
andern Morgen in London zu sein, die Mail still hielt, weil sie
der Mail von London nach Chester begegnete, und dass ich
während des Gesprächs der beiden Kutscher meinen Kopf aus
dem Fenster steckte und in der tiefen Dämmerung aus der
andern Mail Fr. Gramer mit seiner Tochter herausgucken sah
(ihr erinnert Euch doch Miss Marian?) Wie man sich denn so
ein Paar W^orte zuwirft und dann auseinander fährt, für Jahre
oder länger, das ist nun eben die Welt, und treibt und begeg-
net und nähert und entfernt sich. Hier wieder angekommen,
fing ich mein ruhiges Leben an, das aus Componiren und Eng-
lisch Lesen besteht. Mein Quartett ist in der Mitte des letzten
Stückes und ich denke, es wird in diesen Tagen fertig ; ebenso
das Orgelstück für die Hochzeit; meine Reformations-Symphonie
denke ich dann, so Gott will, hier anzufangen und die Schot-
tische Symphonie, sowie auch die Hebridengeschichte baut sich
nach und nach zu. Auch Vokalmusik habe ich viel im Kopfe
und vor, hüte mich aber schon zu sagen, w^elche Art und wie? Die
Clementi'sche Fabrik schickte mir am Tage meiner Ankunft
wieder das schöne Klavier, das ich bei meinem vorigen Auf-
enthalt hatte; und da ich Herrn Collard bat, es mir diesmal
zui' Miethe zu geben, so schickte er mir ein paar englische
256 Felix in England 1829.
Strophen und bat mich, sie zu componiren. Es wird mir schwer,
indess ich muss."
üeber den Eindmck, welchen Felix auf seine Wirthe in
Coed Du machte, spricht sich ein Brief der einen Tochter sehr
anschaulich aus, der nach Felix' Tode geschrieben wurde:*)
„Im Jahre 1829 wurden wir zuerst mit Herrn Mendelssohn
bekannt. Eingeführt wurde er durch meine Tante, Mrs. Austin,
welche seinen Vetter Professor Mendelssohn in Bonn gut ge-
kannt hatte. Er besuchte uns Anfang der Saison in Bedford-
Kow, aber wirklich befreundet wurden wir in Coed Du, einem
Hause nahe bei Mold in Flintshire, welches viele Jahre von
meinem Vater gepachtet war.
Herr Mendelssohn verlebte gelegentlich einer Tour durch
England und Schottland dort einige Zeit bei uns. Meine Eltern
empfingen ihn freundlich wie Jeden, aber seine Ankunft er-
regte kein besonderes Aufsehn, da viele Fremde in unser Haus
kamen, um die von meinem Vater geleiteten Bergwerke zu
sehen und wir oft Ausländer aufnahmen. Bald aber wurde es
uns klar, dass ein ausserordentlicher Geist von scharfer Be-
obachtung und feiner Empfindung unter uns weüte. Er war
etwas schüchtern und sehr bescheiden. Wir wussten wenig
von seiner Musik, aber ihr wunderbares Wesen kam über uns
und ich erinnere mich an einen Abend, als wir drei Schwestern
nach unseren Zimmern gingen, wie wir zu einander sagten:
„Gewiss muss das ein genialer Mann sein, . . . wir können
uns in dieser Musik nicht irren; noch nie haben wir einen
Menschen so spielen hören, und doch kennen wir die besten
Londoner Musiker. Sicher werden wir einmal hören, dass
Felix Mendelssohn Bartholdy ein berühmter Mann gewor-
den ist."
Meines Vaters Geburtstag fiel in die Zeit seiner Anwesen-
heit. Es wurde eine grossartige Expedition nach einem ent-
fernten Bergwerke oben in den Hügeln veranstaltet, ein Zelt
dort aufgeschlagen und den Bergleuten ein Festessen gegeben.
*) Veröffentlicht in Ä Bictionary of Music and Musicians by
G, Grove,
Brief von Miss Taylor. 257
Es wurden Eeden gehalten, Gesundheiten ausgebracht, und
Mendelssohn ging mit einem Feuer auf die Sache ein, als ob
er Einer von uns wäre. Er Hess sich mit Interesse von den
Verhältnissen und dem Leben der Walliser Bergleute erzählen.
Nichts entging seiner Aufmerksamkeit. Ein Brief, den er kurz
nach seiner Abreise aus Coed Du an meinen Bruder John
schrieb, schildert in reizender Weise die Eindrücke, die er von
unserer Gegend mitnahm. Mitunter ging er mit uns Mädchen
aus zeichnen, dann setzte er sich ernsthaft an die Arbeit,
amüsirte sich aber unendlich über Versuche, die seiner Meinung
nach misslungen waren. Eine Zeichnung eines Walliser Mäd-
chens, fand er, sähe wie ein Kameel aus, und sie wurde nun
nie anders als „das Kameel* genannt. Obgleich er seine
eigenen Zeichnungen verspottete, hatte er doch ächten Künstler-
sinn und grosse Freude an Gemälden. Ich brauche nicht erst
zu sagen, wie tief er die Schönheit der Berge und Wälder
empfand. Er stellte sie nicht mit dem Bleistift dar, aber an den
Abenden zeigte seine improvisirte Musik, was er im Laufe
des Tages empfunden oder beobachtet hatte. Das Stück, was
er in dieser Zeit für meine Schwester Susan schrieb und „den
Bach" nannte, zeigt, was ich meine; es war eine Erinnerung
an einen wirklichen Bach.
Wir bemerkten, wie äussere Gegenstände ihn zur Musik
anregten. In dem Garten meiner Schwester Honora wuchs
eine hübsche Schlingpflanze mit kleinen trompetenförmigen
Blüthen, die damals etwas neues wai*. Sie frappirte ihn, und
er spielte für meine Schwester das Stück, welches (wie er
sagte) die Elfen auf diesen Trompeten blasen würden. Als er
das Stück (Capriccio in e-moU genannt) aufschrieb, zeichnete
er einen kleinen Zweig jener Blumen um den ganzen Rand
des Blattes. Das Stück (Andante und Allegro), welches Herr
Mendelssohn für mich schrieb, fiel ihm beim Anblick eines Strausses
Rosen und Nelken ein. Wir hatten das Jahr wunderschöne
Nelken, sie waren seine Lieblingsblumen und er trug oft eine
im Knopfloch. Die Arpeggio- Passagen in der Komposition
sollten den süssen^ aufsteigenden Duft der Blumen vor-
stellen.
Die Familie Mendelssolm. I. 17
258 Felix in England 1829.
Er war nicht die Spur sentimental, trotz seines tiefen
GefüMs. Niemand freute sich mehr über Unsinn als er, und sein
Lachen war das Lustigste, was man hören konnte. Einen
Abend im Sommer blieben wir später als gewöhnlich in dem
Wald oberhalb unseres Hauses. Wir hatten in Susan's Garten
oben im Wald ein Haus von Fichtenästen gebaut. Wir machten
ein Feuer in einiger Entfernung davon in einem Dickicht
zwischen den Bäumen. Mendelssohn half mit dem höchsten Eifer
und schleppte mehr und mehr Holz herbei ; wü' wurden müde von
der lustigen Arbeit, lagerten uns um unser Feuer, der Rauch
wehte darüber hin, die Kohlen glimmten ; es wurde dunkel, aber
wir konnten uns nicht entschliessen, unser Feuer zu verlassen
„Wenn wir nur etwas Musik hätten", sagte er „Könnte nicht
irgend Jemand etwas zum Spielen besorgen?" Nun fiel es
meinem Bruder ein, dass wir in der Nähe des Gärtnerhauses
wären, und dass der Gärtner eine Violine hätte, und unsere
Jungen stürzten fort, diese zu holen. Als sie kam, war sie
das elendeste Ding von der Welt, mit nur Einer Saite. Mendelssohn
nahm das Instrument in die Hände und schüttete sich vor
Lachen aus, als er die Töne hörte, welche entstanden. Sein
Lachen war sehr ansteckend, er brachte uns alle in die herz-
lichste Lustigkeit ; aber dann lockte er doch schöne Musik aus
der armen alten Geige, und wir sassen und horchten auf
eine Melodie nach der anderen, bis die Dunkelheit uns nach
Hause trieb.
Mein Vetter John Edward Taylor wohnte zu der Zeit bei
uns. Er hatte ein imitirtes Waliiser Stück komponii't und
spielte es eines Morgens vor dem Frühstück durch, ohne zu
wissen, dass Herr Mendelssohn (dessen Schlafzimmer an das Wohn-
zimmer stiess) jeden Ton hörte. Am Abend, als wir wie gewöhnlich
musizirten, setzte sich Mendelssohn an's Klavier. Und nach einem
zierlichen Vorspiel hörte John Edward sein armes kleines Lied-
chen so vortheilhaft als möglich als Musikstück des Abends
eingeführt. Und als er dabei verweilt und es in der graziösesten
Weise ausgeschmückt hatte, verbeugte er sich in seiner liebens-
würdigen, muthwilligen Art gegen den Componisten imd erkannte
diesem alle Ehre zu.
Brief von Miss Taylor. 259
Vielleicht lag etwas von dem Eeiz seiner Rede in den
ungewöhnlichen Worten, die er als Deutscher beim EngUach-
sprechen wählte. Er lispelte ein wenig. Er hatte ein.e Art,
rasch mit dem Kopf zu nicken, bis die langen Haarlocken ihm
über seine hohe Stirn fielen, in der Nachdrücklichkeit seiner
Zustimmung zu Sachen, die inn ireuten. Manchmal unterhielt
er sich sehi' ernsthaft mit meiner Mutter. Da er sah, dass
wir Geschwister uns untereinander und die Eltern herzlich
liebten, so sprach er darüber mit meiner Mutter, erzählte ihr,
dass er Familien gekannt hätte, wo es nicht so sei, und sagte :
„Sie wissen nicht wie glücklich Sie sind."
Er war so entfernt von jeder Prätension, oder davon, sein
Musikmachen als eine Gunst zu betrachten, dass an einem
Abend, wo eine Nachbarfamilie zu Mittag kam und wir nachher
tanzten, er sich mit den Andern im Spielen von Quadrillen und
Walzern abwechselte. Er war der Erste, der uns Galopp
tanzen lehrte, und wir hörten von ihm zuerst Weber's letzten
Walzer. Er tanzte eben so gern wie jeder andere junge Mann
seines Alters. Damals war er 20 Jahre alt. Er hatte die
Ouvertüre zum Sommernachtstraum vor jener Zeit geschrieben.
Ich erinnere mich genau, wie er sie spielte.
Er verüess Coed Du Anfang September. Wir sahen ihn
aber, so oft er nach England kam, indessen die Besuche, die
er uns in London machte, haben mir keinen so tiefen Eindruck
hinterlassen wie der in Coed Du. Doch erinnere ich mich einer
Gesellschaft bei meinem Vater, welcher er beiwohnte. Sir
George Smart war auch da ; als derselbe zum Spielen aufgefordert
•wurde, sagte er zu meiner Mutter: „Nein, neüi, lassen Sie nur
das alte Postpferd bei Seite, wenn Sie einen muthigen jungen
Renner bei der Hand haben." Das Resultat davon war ein
von Sir George Smart und Herrn Mendelssohn gespieltes Quatre-
mains. Unser lieber alter Lehrer, Mr. Attwood, traf ihn oft bei uns.
Einmal besuchte er mit uns eiaen Ball bei Mr. Attwood in
Norwood. Auf der Rückfahrt war es schon hell, und ich erinnere
mich, wie er den Anblick von St. Paul in der Morgen-
beleuchtung, den wir von Blackfriars Bridge aus hatten, be-
wunderte. Aber sein fröhlichster Besuch bei uns war der, wo
17*
260 Felix in England 1829.
er zuerst seine süsse junge Frau zu meiner Mutter brachte.
Frau Felix Mendelssolin war damals ganz jung verheirathet, und
wir sagten Alle, er hätte keine finden können, die seiner würdiger
gewesen wäre. Und mit der entzückenden Erinnerung an sein
damaliges Glück will ich schliessen."
In London warf Felix am 17. September mit dem Wagen
um und verletzte sich das Knie so bedeutend, dass seine Ab-
reise von England um zwei Monat bis Ende November ver-
zögert und alle seine Pläne zerstört wurden. Er hatte seinen
Vater in Holland ti-effen und mit diesem zusammen die Rück-
reise durch Holland und Belgien machen wollen, um am 3. Oc-
tober bei der Hochzeit von Fanny anwesend zu sein. Statt
dessen langes, schmerzhaftes Krankenlager, aber erleichtert
und versüsst durch die aufopfernde Liebe von Klingemann, der
sogleich zu Felix zog, und durch die Freundschaft und Theil-
nahme aller englischen Bekannten.
Felix an Fanny.
London, 25. September 29.
^Dies ist denn also der letzte Brief, der vor der Hochzeit
nach Euch gelangt, und zum letzten Male rede ich Fräulein
Fanny Mendelssohn Bartholdy an, und wohl viel hätte ich zu
sagen. Aber noch immer will es nicht recht gehn. Zwar
sitze ich seit gestern alle Tage ein wenig auf und kann daher
besser und kleiner schreiben, aber der Kopf ist mir noch gar
so wüst von dem vielen im Bett liegen und von der langen
Gedankenlosigkeit, und je mehr ich zusammenfassen möchte
in diesem Augenblick, desto schneller entschlüpft es mir und
will sich nicht halten lassen. Dass es nun mit mir dasselbe
ist, ob ich's gut oder schlecht sage, oder verschweige, das
wisst Ihr wohl recht gut; mir aber ist's als hätte ich ganz
und gar die Zügel verloren über das, was ich sonst schon zu
bemeistem wusste ; und die Gedanken über Alles, was sich
nun verändern und festsetzen vn]l, die sich mir sonst gleich
Hoclizeitsbrief für Fanny. 261
in Einen verschmolzen hätten, wenn ich angefangen hätte,
Euch zu schreiben, die fahren mir nun einzeln, unbestimmt und
halb wild umher und sind nicht zu ordnen. Aber es ist nun
so, und wenn man täglich sieht, wie alle Kleinigkeiten, die
man sich ausmalt, durch die Wirklichkeit verschoben, ver-
grössert oder vernichtet werden, so steht man vor einem wirk-
lichen Lebensereigniss mit rechter Ehrfurcht und Demuth.
„Mit Ehrfurcht, damit meine ich aber frisch und fröhlich und
mit Vertrauen. Lebt und webt, heirathet Euch und seid
glücklich, baut Euch das Leben zu, auf dass ich es schön und
wohnlich finde, wenn ich zu Euch komme (und das geschieht
ja nun recht bald), und bleibt Ihr dieselben, dann lasst es
draussen rütteln wie's mag; übrigens kenne ich Euch beide
ja, und somit gut. Ob ich die Schwester dann Fräulein oder
Madame anrede, bedeutet wenig. Der Name thut wenig.
Freilich habe ich das nun gelernt, wie man doch auch aufs
kleinste Vorhaben mit Scheu hinsehn und sich über das kleinste
Gelingen schon fi'euen müsse, denn auch dazu gehört ein Zu-
sammentreffen des Glücks; aus Llangollen schrieb ich's Euch,
wie mir die beiden ersten Tage ohne Klingemann zwei freu-
dige geworden sind, Tage, vor denen ich mich seit dem Anfang
der Eeise fürchtete; Menschen, Gegenden, Stunden, auf die
ich mich lange gefreut hatte, auf welche Alles gut und günstig
vorbereitet war, denen nichts fehlte, was sich berechnen liess,
gingen kalt, ungenossen, oft unangenehm vorüber ; die kleinsten
Freuden schlugen fehl aus Zufällen, grosse gelangen aus dem-
selben Grunde, und Alles, Alles kam anders als ich es er-
wartet, gewünscht, gefürchtet hatte; so ist mir es gegangen
und wird auch so bleiben. Aber statt dass mich das furchtsam
oder ängstlich machen sollte, macht es mich recht muthig und
wohl; und weit entfernt, desswegen nun an die kleinen Voraus-
bestimmungen mit Besorgniss zu denken, gehe ich vielmehr
an grosse mit Zuversicht. Und somit auf Wiedersehn im
Winter.
Viel Besseres hätt' ich wohl schreiben sollen, aber es geht
eben nicht. Sagt, was Ihr wollt, der Körper hängt gar zu
eng mit dem Geiste zusammen; ich sah's neulich zu meinem
262 Felix in England 1829.
rechten Aerger, als sie mir zur Ader Hessen und mir alle
freien frischen Gedanken, die ich vorher gehabt, mit dem Blut
in die Tasse tropften und ich matt und gelangweilt wurde.
ffiJngemann's Epigramm beweist auch, wie sie mir das bischen
Poesie wegkapern und der Brief hier zeigts auch; ich wette,
in jeder Zeile steht, dass ich das Bein nicht krümmen darf.
Bin ich aber nur erst wieder wohl, dann will ich wegfliegen
von hier, denn nun hab' ich genug vom Eauchnest, und will
mich wieder auf den Weg machen, und will nach Süden, und
will dann nach Westen;*) wie es zu Hause am Mittagstisch
aussieht, kann ich mir gar nicht mehr recht denken, ebenso
am Sonntag Abend, und unter allen den lieben Gesichtern.
TJeberhaupt wird mir nie sehnsüchtiger nach Haus zu Muthe,
als wenn ich an Kleinigkeiten von daher denke : an den runden
Theetisch, Vaters türkische Stiefel, die grünen Lampen, oder
wenn ich mir meine Reisemütze ansehe, die über meinem Bett
hängt, und die ich zu Hause abzunehmen gedenke. Nun, die
Tage werden ja schon kalt imd kurz, die Kohlen stehen wie-
der auf der Wochenrechnung wie als ich herkam, Alles spricht
schon von der nächsten Saison und die ist im Frühling; was
sonst nach Vierteljahren, ^vird jetzt nach W^ochen, bald nach
Tagen gerechnet; bald bin ich wieder frei, bald sehn wir uns.
Sei mir's vergönnt, froh in die nächste Zukunft zu schauen,
und was der blaue Himmel Freudiges, Beglückendes seinen
Menschen senden kann, das werde Euch und schmücke Euch
die Zeit, und mache sie Euch unvergesslich."
Klingemann.
„Schönsten Gruss zuvor ans ganze Haus! Dahin musste
es kommen, dass Sie alle anfangen werden, die Doppelbriefe
zu verwünschen, die immer nur darauf ausgehen, zu beweisen,
dass Sie einen süssen Hochzeitsgast weniger haben werden,
dass der noch immer in der grossen Stadt London sitzt oder
♦) Auf die grosse E-eise nach Italien und Frankreich.
KliDgemann an Fanny. 263
liegt, wie's fällt, und noch immer nicht selbstständig und
galopptanzend einhergeht oder springt. Die armen Doppel-
briefe können aber nicht dafür — er braucht seine acht Tage,
ehe er wieder aufstehen kann (wir verbrauchen sie jetzt), seine
anderen acht, ehe er im Zimmer ambulirt, und dann noch acht
letzte, ehe er zum Abreisen flott wii'd; dabei könnt' ich noch
ein eigennütziger Verräther werden und meinen Freund, den
Dr. Kind, bestechen, dass der aus den vierzehn Tagen drei
Wochen machte, in denen ich mir vom scheidenden Genossen
noch die schönsten Henkersschmäuse und Kehrausse aufspielen
liesse — ich wül's aber nicht thun. Einmal des Tages ver-
fällt er in bittere Ironie gegen das Schicksal, wenn er sein
massiges Dinner bestellt, er giebt seine Aufträge in ver-
höhnenden Ausdrücken, etwa sprechend: To dmj I want for
my luxurious dinner etc., wobei die dicke Magd, die keinen
Unterricht in der Ironie gehabt hat und nicht versteht, etwas
verdutzt fragt: Sir? Hört sie aber, dass in der BesteUung
Mutton cJtops mit enthalten sind, so lächelt sie freundlich, denn
sie versteht diese rein menschliche Scala leiblichen Wohlseins
und erkennt darin eine Variation des süssen Themas: Genesung.
Ueberhaupt soll mir Keiner die Engländer der unteren Klasse
schelten, die Wirthsleute im Hause sind bei allem diesen
Trouble freundlich und hülffertig, dass es einem Freude macht,
es zu sehn, und auch die meinigen erkundigen sich täglich
angelegentlich nach dem Befinden des Freundes. Goldschnüdt
hilft uns täglich zu irgend einer Ergötzlichkeit — ich selbst
that viel für meinen Kranken und seine Aufheiterung, indem
ich mir heute einen schönen und seltenen Backenbart abschnitt
und mich so umgekehi^t maskirte. Dafür fiiert mich nun.
Die Braut-Epigramme sind nun aus; ich projektirte aber
eine Sammlung „über ernsthafte Vorfälle des Lebens" und
machte somit folgendes Krankengedicht; das Ganze gründet
sich auf eine wahi-e Geschichte:
Jalappe (Sie kennen doch das Gewächs?).
Der Kranke blättert im Lieblingsbuch
Und findet die Blume, die blaue,
Die sie vor Kurzem am Herzen trug —
Er sehnt sich, dass er sie schaue.
264 Felix in England 1829.
„Was seufzt Ihr?" — fragt der Doktor kalt —
„So sehr bei der Blume, der blauen?
Ihr kriegt sie zu schlucken in Pillengestalt,
Da hilft sie Euch trefflich verdauen.*'
Und so ist dies denn der letzte Brief — sage icli mit
Felix und spreche mit Fräulein Fanny — der Sie noch in-
mitten von uns und anderen jungen Leuten, Springinsfelden,
begrüsst. — Haben Sie himmlischen Sonnenschein aussen, so
wie innen und nichts wie schönen Klang um sich her. Neben-
bei halte der Prediger eine möglichst kurze Rede und wolle
Sie nicht zu unmässig rühren! Im Herbst, etwa am dritten
October, sollte sich aber klüglicher Weise Jedermann verhei-
rathen — das wäre ein tüchtiger Satz, den man aus dem
Sommer gleich in den Frühling liinein thäte; wo der Winter
als Winter bleibt, sehe ich wenigstens nicht ein; was kann
so jungem Volke der warme Ofen anders sein, als ein lustiger
Meilerstein, in dem es Paradiesäpfel brät? —
0 Himmel, warum sind die Zeiten so ruhig, und warum
mischt sich Hannover so wenig in die tüi'kische Sache? Ab-
gesehen, d^ss damit so wenig für die Geschichte geschieht,
giebt's auch gar keine Courierreisen für hiesiges Gesandtschafts-
personal ; ein Krieglein, das mich im December mit Depeschen
nach Berlin brächte, sollte dafür von mir aus warmer Dank-
barkeit in Gold gefasst und nett beschrieben werden. Felix
und ich haben heute Morgen schon mehrfach überlegt, aber
wir bringen die politische Verwirrung, aus der diese poetische
Ordnung hervorgehn könnte, schwerlich zu Stande, und ich
wäre doch insofern so sehr nöthlg in Berlin, dass ich mich so
überaus göttlich amüsiren würde. Die Sachen geschehen nie,
me man sie calculirt, darum trifft's vielleicht einmal. Es
schweigt
Klingemann."
Felix.
London, 9. Oct. 29.
^ Bei Euch muss es jetzt wohl bunt, lebhaft und
schön aussehn, könnte ich nur emen Augenblick herübergucken,
Freundlichkeit der Engländer. 265
um die neuen Herrliclikeiten kennen zu lernen, und das ganze
frische Leben und die Veränderungen und jede Kleinigkeit,
die mir schon bedeutend wäre ; denn nun ist ja Alles das vor-
bei, woran ich lange gedacht, und die Flitterwochen stehn im
Glänze. —
Es geht die Zeit pfeilschnell, obgleich die Minuten schlei-
chen; der Morgen verfliegt, am Mittag kommen Besuche,
Klingemann ist immer bei mir und ich werde ihm nie danken
können, was er mich jetzt beglückt; dann wird's wieder
Dämmerung, dann erscheint wieder das dicke Mädchen mit
dem Essen, dann brennt das lange magere Nachtlicht wieder
vor meinem Bette und dann sehe ich wieder nach, ob der
Tag bald dämmern will. Noch so und so viel magere Nacht-
lichter und ich bin wieder bei Euch; ich möchte, ich wäre
schon da.
Wie freundlich sich die Engländer gegen mich nehmen,
glaubt Ihr nicht. Da ich Bücher nicht brauchen kann und
Fleisch nicht essen darf, so überhäufen sie mich mit Früchten,
Süssigkeiten aller Art; wir müssen von den fremden Schüsseln
Buch halten und einen Keller anlegen, sagt Klingemann.
Namentlich legt es Lady MoUer förmlich darauf an, mich zu
verfüttern, und da Sir Lewis, der mich fast täglich besucht,
ein berühmter Gustronom ist, so denkt Euch, wie die Puddings
und Gelees aussehn, die sie schickt. Gestern kam ein grosser
Korb von Attwood aus Surrey; oben auf lagen herrliche Blu-
men, die eben neben mir am Kaminfeuer duften, unter den
Blumen lag ein grosser Fasan verborgen, unter dem Fasan
eine Menge Aepfel für pyes und dergleichen; Mr. Hawes er-
schien heut mit Weintrauben, die ich nie schöner und male-
rischer gesehn habe. Dance schickt zwei eigenfabricirte Torten
von seiner alten Frau, „weil sie mir einmal bei ihr geschmeckt
haben", Göschen schöne Erdbeeren, und Jeder thut mir Liebes
und Freundliches an. Was Euch fast rühren muss, ist, dass
meiu voriger Wirth neulich Morgens kam und mich im Bett
fand, ganz still fortging und denselben Abend wieder erschien
mit den Complimenten seiner Frau, die mir meine Lieblings-
gerichte sandte, die sie sich von damals her gemerkt hatte;
266 Felix in England 1829.
einen Rosinenpndding und eine Art Zwieback; ja dass er sich
ffestem zur Essenszeit wieder einfand mit einem Seefisch nnd
einer ^german sok^^, die mir königlich geschmeckt hat. Ver-
zeiht die vielen Essgeschichten, es sind meine einzigen Amüse-
ments jetzt."
London, 6. Novbr. 1829.
„Ehen komme ich von der ersten Spazierfahrt zurück,
die ich mit Klingemann gemacht ; es ist nun einmal ein liebes
Ding um Luft und Sonne. Sie haben mich müde imd matt
gemacht und doch fühle ich, wie ich erquickt bin, und mir
ist gesunder als je zu Muthe. Schon als ich die Treppe so
recht langsam herunterstieg und sich die Hausthüre wieder
einmal vor mir aufthat und die Wirthsleute aus ihren Zimmern
traten und mir gratulirten und der Fuhrmann mir seinen Arm
zum Einsteigen bot, wurde mir warm imd wohl: als es aber
nun um die Ecke ging und die Sonne mich so warm beschien
und der Himmel mir den Gefallen that, tief blau zu sein, da
fühlte ich die Gesundheit zum ersten Male in meinem Leben ;
denn ich hatte sie früher nie auf so lange Zeit entbehrt.
London war unbeschreiblich schön; wie die rothen und braunen
Schornsteine sich scharf vom dunkelblauen Himmel abschnitten
und alle Farben so stechend glänzten, wie die bunten Läden
schimmerten, und der blaue Duft mir aus jedem Querwege so
dick entgegenquoll und allen Hintergrund einhüllte und me
statt der grünen, beweglichen Blätter auf den Sträuchern, die
ich mii' aus meinem Gig heraus damals anguckte, nun rothe
Ruthen steif dastanden und nur der Rasen noch grün war,
und wie schön der Hügel in Piccadilly von dem Sonnenschein
bestrahlt wurde und wie lebendig mir Alles vorkam, — das
gab einen seltsamen, aber sehr wohlthuenden Eindruck und
ich fühle die Kraft der wiederkehrenden Gesundheit. Ich
nehme liebe Erinnerungen von der Stadt mit und wenn ich
auf der Stage (oder vielmehr in derselben, denn ich bin ein
gebrannt Kind) hinausfahren werde, so sehe ich wohl manch-
Genesung. 267
mal noch zurück und denke an die Freude, die ich hier gehabt.
Denn es thut einem doch gar zu wohl, wenn die Leute freund-
lich sind und was auf einen halten und es gereicht mir zum
innigsten Vergnügen, mit Aufrichtigkeit mir sagen zu können,
dass sie es hier thun; mein Aufenthalt ist also nicht um-
sonst gewesen und die Zeit wird mir immer lieb bleiben, wenn
ich an sie zui'ückdenke.
Da Euch die Geschichte meines vorigen Wirths gefällt,
so gebe ich hier die Fortsetzung: ich hatte diesen Ironmonger
seit acht Tagen nicht gesehen, da kam er neulich, entschuldigt«
sich, dass er so lange nicht hier gewesen sei, er habe aber
eine neue Küche mit Ofen in seinem Hause gebaut, das hätte
ihn abgehalten: heut habe aber seine Frau zuerst in dem Ofen
gebacken und schicke mir nun das erste Produkt daraus, damit
ich entscheide, ob es nicht noch besser sei, wie die Kuchen
aus der vorigen Küche. —
Neulich kamen auch Eure Briefe, in denen Ihr, liebe Eltern,
so besorgt um mich seid, und Du, liebster Vater, Dich gar auf
die entsetzlich lange Reise machen A\illst. Was soll ich Dir
darauf nun sagen? Aber so stehe ich ja doch nun einmal zu
Dir, leider! oder vielmehr Gottlob! dass ich ein für aUe Mal
Dir meinen Dank und meine Liebe verschweigen muss, sonst
müsste ich Dii^ ja Alles nur in solchen Worten sagen und
käme zu nichts Anderem, denn ich verdanke Dir ja eben Alles
und so soll denn auch dies verschwiegen sein. Wären doch
nur Worte nicht so kalt! Und nun gar geschriebene! —
Lti dem Brief vom 27. Oct., den ich erst heut über Ham-
burg empfing, stichelt Fanny auf meine Ungeduld ; das ist fehl-
geschossen, denn seit der dritten Woche bin ich in eine faule
Apathie gerathen, die alle Grenzen übersteigt: ich könnte jetzt
den ganzen Tag auf dem Sopha sitzen und nichts thun, neulich
sass ich eine halbe Stunde lang in der Dämmerung allein, sah
in's Feuer und dachte an garnichts — ein Unternehmen, bei
dem ich sonst unfehlbar eingeschlafen wäre, — hier blieb ich
aber wach und bequem dabei ; — ich lese das ganze Ende des
achtzehnten Jahrhimderts : Kotzebue, Iffland, Meissner, Engel;
einen Theil Schilling und drei Seiten Clauren habe ich auch
26S Felix iu England 1829.
gelesen etc. Kurz, wenn ich nur noch aus einer langen Pfeife
rauchte und eine Nachtmütze aufhätte, so könnte man mich
mit meinen Krücken im Hintergrunde recht gut für einen
rüstigen alten Onkel halten, der das Zipperlein hat.*'
Schliesslich verlebte Felix noch einige Zeit zur Stärkung
seiner Gesundheit in Norwood Surrey bei seinem alten Freunde
Attwood und schrieb von da am löten November:
^Bei Gott! Nicht umsonst sollen mir Attwood's diesen
Bogen Papier auf meinen Tisch hingelegt haben, nebst Siegel-
lack, Federn und Allem: ich wiU Euch nach dem letzten Brief
von vorgestern noch einen allerletzten schreiben, zumal, da ich
Euch sagen muss, wie sehr ich mich freue, dass Ihr meine
„Hora'' leiden möget; besonders Deine Zeüen, liebster Vater,
haben mich gar zu sehr ergriffen, und jedesmal, wenn Du mir
sagst, dass Dir ein Stück von mir recht ist, so ist's mir, als
hätt' ich's noch einmal so lieb, oder als hätt' ich's gar von
neuem komponirt und eben fertig gemacht. Nun muss ich das
Lokal erstlich besclu-eiben: Hier ist Norwood, berühmt wegen
guter Luft, denn es liegt auf einem Hügel, so hoch, als das
Kreuz auf St. Paul, sagen die Londoner, und ich sitze Abends
spät auf meinem Stübchen, wo der Wind entsetzlich wild um's
Fenster heult, während das Kaminfeuer ruhig brennt, habe heut
einen Spaziergang von zwei Meilen gemacht, die Luft hat
wirklich sehr wohlthätig auf mich gewirkt, und schon in den
drei Tagen, die ich hier bin, fühle ich, wie ich stärker und
gesunder geworden bin.
Ich freue mich ungemein darauf, von der Akademie die
Hora zu hören, das Stück gefällt Attwood sehr; aber nichts
macht hier so viel Glück als die Portraits von Euch Schwestern ;
die jungen Engländer tanzen den Veitstanz, wenn ich sie unterm
Arm heiTinterbringe und jeden Abend einmal zeige ; die jungen
Engländerinnen sagen einmal über das andere: ^Sweet creature^y
und ich sage: y^They a/re indifferent fretty indeed'^ ^ kurz, wenn
Hensel nach England gehn will, so ist ihm die Familie Attwood
und ihr Cirkel gewiss: er muss sie alle zeiclmen, denn sein
j^dyle"- ist nicht das Letzte, worüber sie ausser sich sind.
In meiner Schlafstube steht zum Glück gerade der Musik-
Landaufenthalt. Enryanthepartitur. 269
schrank des alten Attwood, und der Schlüssel steckt darin, da
krame ich denn hemm, und wie ich neuHcli ein Tedeum von
Croft über's andere und zwanzig Anthems von Boyce finde und
in Psalmen von Purcell wühle, — was fällt mir da in drei
dicken Bänden auf? — Euryanthe, score 1"^) Das war ein Fund!
Nun lese ich's sehr aufmerksam durch und erquicke mich darin;
der alte Herr hat sich's von Deutschland aus kommen lassen, um's
besser kennen zu lernen, als aus dem Auszug ; eine Stelle schreibe
ich mir Merkwürdigkeit halber ab, es ist die in ges ^Der du
die Unschuld kennst". Du weisst, Fanny, dass ich immer
behauptete, da klänge es nach Blech wie nirgends; und was
ist's ? der Herr von Weber hat dazu drei Posaunen, die Trom-
peten, zwei Hörner in es und — zwei Hörner in des!!! Das
ist doch wohl toll? und süsse Flöten giebt's überall. S'ist
eine liebe Musik und mir konunt's sonderbar vor gerade hier
in England, wo kein Mensch sie kennt und kennen kann, und
wo sie den Weber doch eigentlich schändlich behandelt haben,
und wo der Mann gestorben ist, gerade da sein Lieblingswerk
so genau mir ansehn zu können. Auch Cherubini's Eequiem
und Anderes habe ich gefunden, und so geht die Zeit sehr
angenehm vorbei.
P. S. von Klingemann.
In Berlin hätte ein Aufzug achttägiges Stadt- und
Theegespräch veranlasst, der gestern durch die Felder um
Norwood ohne weitere Störung der öffentlichen Kühe und der
Sabbathordnung zog. In Norwood lebt nämlich einer der
distinguirtesten Esel, die je Disteln gefressen haben (er kriegt
aber nur Korn) — ein milchweisses rundes Thier voller Leb-
haftigkeit und Gaben, von einem der Attwood'schen Söhne, dem
Theologen William, grossgezogen und nun selber ziehend,
nämlich ein ganz kleines vierrädriges Fuhrwerk: In diesem
sass FeKx, munter trottirte der Donkey die Heerstrasse entlang,
einige Hunde sprangen nebenher, und zu beiden Seiten oder
hinterher schritten durch Dick und Dünn, Hügel auf, Hügel
t
*) Partitur.
270 Felix in England 1829.
ab der Theologe und ich , jener stolz und hewusst auf seinen
trabenden unermüdlichen Esel blickend und nur beklagend, dass
er, der Theologe nämlich, so viel trockene Bücher lesen müsse,
um sein theologisches Examen zu machen. Auf dem Heimweg
stiessen wir auf noch einen Bruder mit der Schwester und noch
einem Hunde, Felix stieg aus und ging mit uns, und eine
Caravane von einer Dame, vier jungen Leuten, dem Fuhrwerk
mit dem milchweissen Esel und drei Hunden zog gelassen den
Hügel hinauf in's Dorf hinein, — ein ewiger Vorwurf füi' Maler
und eins ihrer unsterblichsten Kunstwerke. Die ganze Familie
besteht übrigens aus Portraits, und wir Neueren müssen wieder
einmal den Herrn von Göthe nachahmen und an den Vicar von
Wakefield denken, wenn auch nur eine Tochter da ist. —
Keiner sieht dem Andern ähnlich und jeder treibt sein Wesen
für sich, und doch geht der Famüienzug durch das Ganze.
Dann kam unser Dinner in London, es ist wenig davon
zu sagen, als dass Felix nachher sich vierhändig mit Mrs.
Anderson und mit Glanz vernehmen liess und darauf nach Nor-
wood wieder entschwand, — er liess, im Gegensatz des Bösen,
den Duft seiner high talents und des perfect gentleman hinter
sich — man kann in der Fremde kaum fassen, wie viel eine
Engländerin damit sagt, es steckt ein ganzer Foliant von An-
erkennung darin, — ich kann mii* den Fall denken, dass der
grosse Apollo selber käme und unwiderstehlich auf der Guitarre
spielte, und doch, wenn er etwa als freidenkender Grieche nicht
Wein tränke mit der Frau vom Hause, mit dem Bannfluch:
^He ü no gentleman"' belegt wüi'de, dem grössten der civilisir-
ten Welt."
Felix.
Hotel Quillacq. Calais, 29. Novbr. 29.
„Und so liegt England hinter mir und gehört mit zur
Vergangenheit. Es ist ein schönes, liebes Land, und wie die
weisse Küste eben untertauchte und die schwarze französische
auf, da war mir's, als hätte ich von einem Freunde Abschied
genommen, und alle lieben, freundlichen Menschen nickten mir
Abreise von England. 271
noch einmal zu. Das war ein grosses Bild. Aber nun ist es
Vergangenheit. Ich kann die letzten vierzehn Tage in London
die glücklichsten und reichsten nennen, die ich da genossen
habe. Hörn, dem ich alles zeigen konnte und der sich über
Alles mit mii* freute und erstaunte, durch den ich die grossen
Eindrücke der Stadt wieder neu empfing, der sich unter mei-
nen Freunden bald wohl und einheimisch fühlte, trug viel
dazu bei; dann versammelte sich alle Abende spät bei mir
ein Kreis von Leuten, wie er sich wohl selten zusammen-
finden mag: Rosen, Mühlenfels, Klingemann, Kind und Hörn,
das war hübsch zu hören, wie da das Gespräch belebt und
froh ging, und wie nichts Mattes oder Falsches durchgelassen
wurde, sondern zu Zeiten ein Geschworenengericht darüber
zur Entscheidung gebildet, und wie alle die Menschen von
Funken und Feuer sprühten, wenn man sie anregte, und wie
alle so verschieden und abweichend und doch über gewisse
Punkte einig waren, ohne sich je darüber verständigt zu
haben: wahrlich, wenn ich so in der Nacht zu Hause kam
und nun wusste Alle bei mir im Zimmer um's Kamin sitzend
zu finden, (denn um elf versammelten wir uns gewöhnlich
erst), so gab mir das ein sonderbares, glückliches Gefühl.
Vorher war ich dann nicht in Gesellschaften, wie damals in
der tollen Season, sondern in den engeren, herzlicheren
Kreisen meiner englischen Bekannten, und ein merkwürdiger,
interessanter, ehrenvoller Augenblick folgte dem andern. Man
merkt zuweilen, dass man etwas ünvergessUches eben erlebt,
und so ein Gefühl dui'chfuhr mich oft. 0! was will ich Euch
nicht Alles erzählen! Wie werde ich mit einem Munde
durchkommen?" —
1830 — 1834.
Im Laufe der Zeit nahte denn auch für Hensel und Fanny
das Ziel ihrer Wünsche: der Termin der Hochzeit wurde be-
stimmt, am 6. September wurden sie zuerst aufgeboten. Abra-
ham machte noch eine Reise nach Hamburg und den Nieder-
landen, von wo er wunderschöne Hochzeitsgeschenke schickte ;
der Dankbrief der Tochter ist interessant in Bezug auf die
damaligen Trachten:
Berlin, 19. Septbr. 1829.
"VVir sind nun schon so lange ohne Nachrichten
von Dir, lieber Vater, dass wir aufs Ungefähr in die Welt
hineinschreiben müssen; vorgestern haben wir einen Brief nach
Frankfurt geschickt und wenn wir heut keinen von Dir er-
halten, so wandert dieser denselben Weg. Statt von Dir zu
hören, haben wir aber von Dir gesehen, denn die weltberühmte
Kiste ist angekommen und ihr Inhalt hat freilich jede Vor-
stellung übertroffen, Du hast einmal wieder Deinen Geschmack
und Deine Pracht sehr glänzend gezeigt und jedes in seiner
Art ist das Schönste, was ich gesehen, Stickereien, Stoffe,
Muster, alles vollkommen, Nathan der Weise hat gewiss nichts
Schöneres von seinen Reisen mitgebracht! Was den wunder-
schönen Schleier betrifft, so hat er hier die weiblichen Ge-
müther sehr in Aufregung gebracht; es ist nämlich allein hier
^'^^
/
.-\
/>
Hochzeit von Fanny Hensel. 273
nicht Mode, dass Bräute Schleier tragen; ich finde es aber so
schön, so passend und es wäre mir besonders meines rothen
Halses wegen so vortheilhaft, dass ich die grösste Lust habe,
es doch zu thun und die Erste zu sein, da ich gewiss die
Letzte nicht wäre; so riethen mir auch Alle hier im Hause,
Hensel und viele Andere, dann fürchteten wir aber wieder, es
würde zu viel Aufsehen machen — kurz, der Process schwebt
noch. Bänder, Shawls, alles ist von der schönsten Sorte und
nochmals schönsten Dank für Alles.
Wir sind jetzt hier sehr beschäftigt und bringen die
meisten Vormittage in Läden zu, wobei ich Mutter's Unermüd-
lichkeit nicht genug bewundern kann. Es ist, als wäre sie
nie wohler, nie mehr in ihrem Element, als wenn sie vor
Geschäften kaum zu Athem kommen kann. Es ist fast un-
möglich, so gradezu zu danken, am allerwenigsten, wenn man
eigentlich den ganzen Tag danken müsste, so will ich's denn
hier thun, sie wird es lesen, und ich bin Dir doch denselben
Dank schuldig, der sich, wenn er auch immer empfunden
worden, doch gewiss nie so koncentrirt hat, als in dieser
Zeit, wo ich zwar Eure unmittelbare Aufsicht, aber doch,
dem Himmel und Euch sei Dank, nicht das väterliche Haus
verlasse."
Am 3. October 1829 war die Hochzeit. Fanny hatte sich
selbst ein Orgelstück komponii't, welches in der Kirche vor
der Trauung gespielt wurde. Wilmsen hielt die Traurede.
Natürlich waren alle Bekannten und Freunde versammelt und
wohl nur die einzige Wolke am Himmel Fanny's war Felix'
Abwesenheit. Sonst aber liess sich alles zum glücklichsten
Leben für das junge Paar an und die Erwartung wurde nicht
getäuscht.
Hensel hatte für das erste Jahr grosse Pläne gehabt,
denen Fanny zwar nicht sehr gläubig, doch ein williges Ohr
lieh. Wir wissen, wie heftig ihre Sehnsucht nach Italien
schon während der Schweizer Reise des Jahres 1822 gewesen
war. Nun war sie verheirathet mit einem Mann, der das
Land in fünfjährigem Aufenthalt gründlich kennen gelernt
hatte und den es jetzt mit fast unwiderstehlicher Gewalt trieb
IHe Familie Mendelssohn. L 18
274 1830—1834.
es seiner Frau zu zeigen. Und wie denn Hensel mit erreg-
barer Künstlerphantasie sich Illusionen über reale Verhältnisse
gern hingab, (er hielt eme Anstellung in Italien für leicht er-
reichbar, etwa nach dem Muster der französischen Akademie
in Rom, eine preussische,) so war der Entschluss gereift, bald
Berlin zu verlassen und eine Heise nach Italien zu unter-
nehmen. Wäre das an und für sich schon lockend genug ge-
wesen, so kam eine weitere Kombination dazu, die den Eeiz
des Gedankens noch sehr erhöhen musste. Felix sollte von
England aus seinerseits, nach kurzem Aufenthalt in Berlin,
nach Italien gehen und fasste den Plan, seine Eltern mit der
ganzen Familie auch zu überreden, dass sie reisten. Er schrieb
darüber an Eebecka:
Mein liebstes Beckchen!
Glasgow, den 10. Aug. 29.
^Höre an! Wir wollen jetzt mit emander froh plaudern
und von der Zukunft sprechen, von der ich vielleicht jetzt
mehr weiss als Du, denn ich male viel daran herum und will
Dir nun hier meinen Hauptplan mittheilen, darum schreibe ich
an Dich, oder vielmehr darum setze ich mich auf den Sopha
und spreche Dir in's Ohr, leise. Von Glasgow tönt's hinüber
und im Augenblick ist die Entfernung weg, denn Du hast gar
keinen Begriff, wie ich Dich liebe und wie nahe ich mich Dir
denken muss, um froh zu sein, und wie jede frohe Stunde Du
mir verschaffst, und wie ich in meinem Leben nie anders den-
ken und fühlen werde. Nie! — Kannst ein dickes Haus auf
mich bauen, ich halte fest. Aber es ist sonderbar, dass ich
keine Note schreiben könnte, wärst Du nicht in der Welt,
möcht' auch nicht leben. Guten Abend, liebes Beckchen! Hör'
meinen Hauptplan; aber sag' ihn nicht weiter, denn kein
Mensch erfährt ihn, als Du, und keiner soll ihn erfahren, bis
ich ihn erfülle. Niemand muss das wissen, als wir beide, und
dann soll's auf einmal losbrechen. Willst Du's Fanny und
Hensel sagen, so ist's gut, vielleicht findest Du's sogar noth-
wendig ; diese sind aber die Eüizigen, denen Du's sagen darfst,
Keisepläne. 275
bei allen anderen ^eb das erste Beispiel. — Nun geht der
Kongress zwischen uns Beiden an. — Von liier aus verschweigst
Du Alles: —
I. Ich werde in Berlin wohl etwas früher eintreffen, als
ich dachte; die Gründe, warum ich früher komme und länger
bleibe, sage ich Dir und Euch Allen mündlich, wenn ich komme.
Ihr werdet dann zufrieden sein. Im Februar gehe ich darauf
nach Italien, werde aber dann nicht, wie ich dachte, drei
oder vier Jahre ausbleiben, sondern nicht einmal so lange als
jetzt. Der Grund ist einfach der: ich werde komponiren
müssen, viel und fleissig und gut ; das kann und will ich aber
nirgends als bei Dir. Und so werde ich denn, im Fall ich
meine Reisen später fortsetze, immer nach BerKn gehen und
da komponiren, was ich dann aussen den Leuten spiele und
aufführe, dann wieder bei Dir komponiren, dann wieder auf-
führen, das mag eine Zeitlang so gehen, dann aber bleiben
wir zusammen und für lange, denn ich wül womöglich in Berliu
mich festsetzen. So dächt' ich, sähen wir uns oft, froh, immer
neu, in der nächsten Zeit, und die Sache wäre ganz hübsch.
— Nun aber
n. Ich, von Gottes Gnaden, Ich F. M. B. Esquire, Ich
will die Eltern dazu bringen, im nächsten Frühling nach
Italien zu gehen und mit Dir mich in Rom zu besuchen, zu
Ostern. Ich will's. Und ich glaube, ich werde es können.
Zweifle nicht an der Möglichkeit, denn ich hab's reiflich über-
legt und es geht. Will Dir auch sagen, wie? Vater hat es
längst gewünscht, das Land zu sehen, nur fehlte ihm der
Entschluss und er scheute die Unbequemlichkeit, auch hielt
ihn Mutter ab. Komme ich nun wieder, so bin ich Schooss-
kind und kann viel mit Quälen durchsetzen, wie Du weisst,
auch geht Mutter v/ohl schon lieber, wenn sie einen Theil ihres
Hauses da findet, den Entschluss erstürme ich dann (weiss
auch schon wie?) und die Unbequemlichkeit kann ich sehr er-
leichtem, denn ich kenne nun aus den Hochlanden schlimmes
Reisen, weiss, wie ihm abzuhelfen, und komme Euch weit ent-
gegen. Ich bringe übrigens noch für Euch AUe wahrscheinlich
eine üeberraschung mit, die mir viel Kredit geben und zum
18*
276 1830-1834.
Erstürmen helfen wird; es ist noch nngewiss, also kann ich
noch nichts sagen, Du wirst aber sehen. Am Uten December*)
oder an der silbernen Hochzeit mach' ich's. Alles ist vorbereitet
in mir, es ist mein höchster Wunsch. Ich werde es klug an-
fangen. Gott wird helfen, da wird es gehen. Nun höre, was
Du dabei zu thun hast: Nichts. Schweige von Allem und
sprich, als hätte ich nicht geschrieben. Brich das Gespräch
ab, wenn von Italien die Hede kommt ; ferner lass auch Fanny
und Hensel die Eltern garnicht mit Bitten darüber angehen.
Ich wiU aus den Wolken damit fallen, dann schlägt es besser
ein. Und sieh zu, dass Du gelegentlich erfährst, wie es mit
Hensel's Hinkommen steht; ich treibe ihn tüchtig dazu in diesem
Briefe, und wenn Du mir antworten willst, so schreibe an
Klingemann und gieb den Brief selbst auf die Post. Hast Du
Nichts zu antworten, so antworte lieber nicht. Und nun sage,
was Du dazu meinst? Eine goldene Zeit soll's werden und
ein Blumenkranz von Tagen. Wir wollen uns im Vatican
amüsiren, denn hinkommen werdet Ihr, und dann ist Alles recht
hübsch. Du sagst, Du kennst „die Eltern und den Garten und
deshalb würde nichts daraus?" Ich aber sage, ich kenne die
Eltern auch, und Italien ist auch ein Garten und es wird was
daraus. Nun ist's vorbei; ich gehe aus der Stube, Du willst
mich am Flausrock festhalten, ich laufe aber doch fort, kucke
aber natürlich gleich wieder durch die Thüre. Noch fragst
Du, ob Du nächsten Winter zwei Stuben bewohnen sollst?
Nein, denn ich brauche eine davon und will während meines
Aufenthaltes meder malen. Gesegnete Malzeit! Denk' an Italien!
Es geht nun stark zum Wiedersehen. Ich bin wieder frisch
und es saust mir mancherlei Musik durch den Kopf. Mündlich!
So möge denn gelingen, was wir hoffen. —
Dein Bruder."
Dasselbe Thema wird in einem späteren Brief an die Ge-
schwister weiter behandelt, in dem auch die ersten näheren
Andeutungen über das Mittel, wodurch Felix seinen Zweck zu
erreichen hofft, das „Liederspiel", gemacht werden.
^) Des Vaters Geburtstag.
Pläne zur silbernen Hochzeit. 277
35, Bury Street, St. James,
10. Sept. 1829.
„Die Sache ist die — fängt ein junges Frauenzimmer, das
wir beide hochachten, lieber Bruder, ihre Berichte gern an, und
es folgt dann nichts nach, liier brauch ich's mit dem Unter-
schiede, dass ich ihr Bruder bin und dass etwas Wichtiges
folgt — die Sache ist also die, dass ein Comite' niedergesetzt
werden muss zur Anordnung silberner Feierlichkeiten. Früher
hatte ich mir Fanny als Präsident gedacht, sie hat aber bei
ihrem ersten Vorschlage soviel auf eine gewisse Familie Eück-
sicht genommen (z. B. Abends sind wir allein bei Hensel's,
Mittag essen wir bei Hensel's etc.), dass ich sie der Parthei-
lichkeit schuldig erkläre, perhon-escire, absetze, und Beckchen
muss CJiairman sein. Du und Fanny und ich, wir sind ordent-
liche Mitglieder, Droysen ist ein Ehrenmitglied und Klingemann
ist auswärtiges Mitglied. Nun geht's los. Ich bitte um's Wort
imd habe einen Vorschlag zu machen: wie wär's, wenn wir
den Polterabend so feierten: drei Liederspiele, jedes in einem
Aufzug, mit Kostüm, Gesang etc. ordentlich dargestellt, und
ein vollständiges Orchester unten (letzteres will ich übrigens
zn allen Hochzeitsfeierlichkeiten aus eigenen Mitteln bestreiten
und zu dem Ende hier eine kleine Musikspeculation machen),
die Titel folgende: No. 1 Soldatenliebschaft, nämlich mein be-
rühmtes Machwerk des Namens*), das den Eltern immer noch
lieb ist, gegeben ohne Veränderung einer Note und ganz mit
der Besetzung von damals. Was meint Ihr? Ist's nicht lu-
minös? Dann ein neues Liederspiel von Fanny, das Hensel
dichten muss, nett, luftig, lieblich an allen Ecken, sehr zart
und schön. Dann eine Idylle von mir, zu der mir vieles im
Kopf herimfährt; es muss hübsch werden, und soU ein gesetztes
Ehepaar drin vorkommen, das Ihr beide Hensels agiren müsst,
ferner eine Nachbarstochter, ein toller Flurschütz, ein verklei-
deter Seemann oder Soldat oder was weiss ich? Ein Bauern-
zuff und a dwr über und über. Dazwischen kann dann Eis und
*) Es war eine der ersten Compositionen von Felix.
278 1830-1834.
Kuchen, und Allegorie und Pro- und Epilog passend Statt
finden; ich denke, es amüsirt die Eltern weit mehr, als ein
blosses Instrumentalconcert. Mit meinen übrigen Plänen rücke
ich heut noch nicht heraus, sondern ^vill erst Euem Gegen-
vorschlag, Beifall für den meinigen und Ideen für den Hoch-
zeitstag vernehmen, die Ihr mir gleich umgehend mittheilen
müsst. — Und hei der Gelegenheit werde bezeugt, o Hensel,
dass Du ein grosser Mann bist. Deine Zeichnung ist ganz
himmlisch und macht mir wahre Freude, wenn sie mich anguckt ;
denn das thut sie; es ist so genial und schön und doch ähn-
lich und doch komisch und so fort, wo, Teufel, kriegst Du
solche Einfälle her? Auch Fanny's grosses Portrait ist schön,
aber es gefällt mir nicht. Ich sehe, wie herrlich es gezeich-
net, wie sprechend ähnlich es ist; aber in der Stellung, Klei-
dung, im Blick, in der ganzen sybiUigen Prophetenhaftigkeit
oder schwärmenden Begeisterung ist mein Cantor nicht ge-
troffen! Da liegt die Begeisterung nicht so oben auf, mehr
innen drin und zeigt sich nicht in gen Himmel sehn, oder im
Ausstrecken des Annes, oder im wilden Blumenkranz, denn
alles das sieht einer auf den ersten Blick! Das muss er aber
nicht, sondern erst nach und nach di-aus klug werden. Nimm
mir das nicht übel, Hofmaler; aber ich kenne meine Schwester
doch länger als Du, habe sie als Kind in meinen Ai^men ge-
tragen (üebertreibung!) und bin nun mal ein ungeleckter, un-
dankbarer Brummbär, der Dir für die Sonnenstrahlen, die Du
mir so von Zeit zu Zeit herüberwirfst, nicht einmal genug
danken kann; wenn Du mich sehn könntest, wie ich oft still
Deinen Zeichnungen gegenüber sitze und dann in ihrer Gesell-
schaft bin und nirgends weniger als in London, so wäre das
eben der Dank, der Dir gebührte ; aber sagen ! ? Pfui über die
Worte. So nimm denn meine Freude als Dank hin darüber,
dass es Dir gegeben ist, in Formen hinzustellen, was unser
einem so wohl als Bild vorschwebt, aber doch nur nebelig. Du
kannst es festhalten.
D, 11, Heut frühstückte ich bei Klingemann, und unser
idyllisches Liederspiel rückt sehr vor und fängt an. Form und
Gestalt zu gewinnen; ich denke, es soll nett werden, und Du
Abermals Reisepläne. 279
wirst prächtig eingeführt, Hensel; fürchte Dich nicht vor dem
Singen, es ist für Dich gesorgt; der Flurschütz ist ein Haupt-
kerl, und Devrient soll wüthen.
Nun ein Paar Worte an Dich, Beckchen, meine ruhige
Bundesgenossin. Aber ein Paar wichtige: Ich habe nämlich
in diesen Tagen fast die Gewissheit eingesehen, dass unser
Plan zu Stande kommt, dass wenigstens die Eltern keine
Hindemisse in den Weg legen werden, und die habe ich durch
einen Brief von Vater erlangt. Vater hat erstlich die Reiselust
wieder bekommen, das ist ein grosses Moment. Zweitens würde
es ihm lieb sein, mit mir ein Weilchen in Holland umherzu-
reisen, woraus diesmal wohl leider nicht viel werden wird, das
ist ein grosses; endlich scheint er die Idee, ich müsse allein
umherfahren, um Selbstständigkeit zu lernen, fast aufgegeben
zu haben, und giebt viel auf meinen glücklichen Erfolg in
diesem Lande. Das ist die Hauptsache. Ich sage Dir, Du
sollst Orangenbäume sehen. Wie mild und weich und freund-
lich Vaters Brief ist, kann ich Dir garnicht beschreiben, und
sein eigentlicher Eeiseplan ist auch zu weitläufig, als dass ich
ihn Dir anders als mündlich mittheilen sollte, aber das genüge
Dir, dass er mir ein Beweis ist, dass es gelingen wird. Ja,
ein unumstösslicher Beweis. Freue Dich einmal ein Bischen.
Brauche übrigens mein Eecept aus dem vorigen Briefe fort und
sprich von Nichts. Noch dies eine: Aus Vaters Brief folgt
auch, dass ich solange im Winter bei Euch bleiben werde, als
wir mögen. (Schweig!) Vieles Gute folgt daraus und Schönes
und Liebes. Kurz, ich denke, wenn wir im December zu-
sammenkommen, so ist für's Auseinandergehen garnicht sehi'
gesorgt.
Wenn ich wiederkomme, werdet Ihr mich gewiss sehr viel
Englisch anreden, um meine Aussprache zu prüfen, Fehler zu
jagen und dergleichen. Ich werde Euch nicht anworten und
keinen einzigen meiner gebildeten Laute von mir geben, kein
y^never mmd'\ kein „/ sm/'. „Dieser Rock ist gut genug, um
drin zu trinken", sagt Toby; „diese Zunge ist gut genug, um
drin zu raspeln," sag ich, und ist sie das nicht, so mögt Du*
sie räuchern und essen. A propos, was ich esse? Neulich
280 1830—1834.
erwähnte einer der frischen Austern und da wnrde ich senti-
mental, weil ich mich erinnerte, wie sie im Frühling hier schlecht
worden nnd ausgingen. Seitdem esse ich sie aus Melancholie
und denke dran, wie die Zeit vergeht. In E-egentstreet stand
ich gestern still, wo eine Karte von Holland aushing und
machte mir auf der bunten Strasse meinen ruhigen Reiseplan,
wie er im Familienbrief steht, und sah mir den Weg zwischen
Elherfeld und Berlin an. — Das Liederspiel wird nett, denke
ich: Hensel und Fanny ein altes Ehepaar, Hensel hasst die
Musik, Fanny hasst die Soldaten und ihr Sohn kommt nun in
einen fahrenden Musikanten verkleidet zurück, ist aber eigent-
licher Soldat und vergisst sich alle Augenblicke und lässt den
Kriegsmann durchgucken ; nun mag ihn der Vater nicht wegen
der Verkleidung, die Mutter nicht wegen der durchguckenden
Wirklichkeit, Beide haben ihn doch aber lieb^ und der Flur-
schütz macht sich Alles zu Nutze; er ist auch ein Fremder
und da die alten Schulzen Nachi'icht vom Wiederkommen des
Sohns erhalten, so halten sie diesen für den Sohn und sparen
sich gegenseitig die üeberraschung für den folgenden Tag auf,
wo Geburts- und Amtsjubiläumstag von Hensel ist, bemühen
sich auch, den Eüpel Ueb zu haben, versperren ihrem Sohne
die Gelegenheit, zur Nachbarstochter zu kommen und klemmen
immer den Flurschützen ein, der dann statt des Soldaten ihr
ein tolles Ständchen auf seiner Fiedel bringt ; am Morgen erklärt
sich Alles und erheitert sich; das Stück fängt nämlich den
Abend unter der Linde an, spielt die Nacht durch, wo das
Ständchen und der Zank der beiden jungen Leute vor sich
geht, und schliesst am Jubiiäumsmorgen. Was meinst Du zu
diesen rohen Entwürfen? Mehr zur Zeit; froh soU es sein und
wir nicht minder." —
So gingen denn im Winter 1829/30 zwei Dinge mit ein-
ander vorwärts: die Vorbereitungen zur silbernen Hochzeit der
Eltern, am 26. December, und die, wenn man so sagen darf,
„Verschwörung" der Jugend, wegen der italiänischen Reise,
Ersteres, die Aufführung, gelang vollkommen ; aus jenem „rohen
Entwurf", den Felix im letzten Brief mittheilt, hatte er da»
reizende Liederspiel „die Heimkehr aus der Fremde" gemacht.
Das Liederspiel: Die Heimkehr. 281
Der Text war von Klingemann. Ganz besonders machte Hensel
in seiner Eolle als Schulze Furore, für den, da er absolut un-
musikalisch war, Felix ein Musikstück auf einen Ton kom-
ponirt hatte. Mantius gab den Sohn, Devrient den Kauz,
ßebecka die Lisbeth, Wilhelm und Fanny die Schulzen. Es
war ein in seiner Art einziges Fest und Alles ging vortrefflich
und sehr nach Wunsch.
Nicht dasselbe kann man von dem italiänischen Projekt
sagen: Es scheiterte vollständig an dem entschiedenen Wider-
spruch der Mutter Lea, die keine grosse Eeisefreundin war
und sich in dem schönen Haus und Garten viel zu behaglich
fühlte, um es ohne zwingenden Grund zu verlassen. Dass das
Aufgeben des lockenden Plans, der wirklich geeignet genug
war, den Kopf zu verdrehen, nicht ohne viel Herzbrechen ab-
ging, versteht sich ; es kam dazu, dass im März Eebecka zuerst,
dann FeUx und Paul die Masern bekamen, um diesen Winter
so voll petites mishres de la vie privSe zu machen , wie sobald
keiner in der Mendelssohnschen Familie gewesen war. —
Im Sommer 1830 wurde Hensel's ein ungemein schwäch-
licher Knabe*) zwei Monat vor der Zeit geboren. An der
Lebensfähigkeit dieses Kindes wurde lange gezweifelt und nur
die sorgfältigste Pflege konnte es erhalten. Dass dies Ereig-
niss von bestimmendem Einfluss auf das Leben und die Pläne
des Henselschen Paares wurde, versteht sich. Vor allen Dingen
wurden damit alle italiänischen Eeise-Ideen auf Jahre hinaus
vertagt. Das war in einer Beziehung gewiss ein Glück: es
schied damit ein Moment der Unruhe und Ungewissheit aus
ihrem Leben, was sich in Fanny's Tagebuch aus dem ersten
Ehejahr recht deutlich erkennen lässt; und es ergab sich dafür
die Nothwendigkeit, feste Pläne für das heimathliche, häusUche
Leben zu entwerfen, welches sie sich gar behaglich und erfreu-
lich zurechtzimmerten. Abraham hatte im Anschluss an den
Gartensaal ein Atelier bauen und zweckmässig einrichten lassen,
was füi* Hensel den unschätzbaren Vortheil hatte, dass er nicht,
wie die meisten Maler, genöthigt war, seine Arbeit ausser dem
*) Der Verfasser dieses Buches.
282 1830—1834.
Hause zu thun, dass er jeden freien Augenblick seiner Frau
widmen, dass sie häufig im Atelier sein, mit ihrer Arbeit da-
selbst sitzen und doch den Haushalt und ihr Kind im Auge
behalten konnte. Im Januar 1831 bezog er dies Atelier und
eröffnete gleichzeitig ein Schüleratelier, was an das seinige
anstossend gebaut war und sogleich von mehreren jungen Leuten
besucht wurde, die übrigens auch, wo es anging, zu allen
Festen, Geburtstagen, Weihnachten zugezogen wurden und durch
Heiterkeit und witzige Einfälle viel zu dem Gelingen aller
Vergnügungen beitrugen.
Hensel entwickelte in diesen glücklichen Verhältnissen
eine unter so günstigen Bedingungen sehr erfolgreiche Thätig-
keit. Gleich Morgens nach dem Frühstück ging er ins Atelier
und arbeitete hier fast ohne Unterbrechung bis zum Dunkel-
werden. Nach dem Essen, was um halbfünf Uhr stattfand,
wurde entweder im Sommer noch gemalt, oder, wenn es schon
zu dunkel war, im Garten die nothwendige Bewegung und
Genuss der frischen Luft gewöhnlich bei dem durch ihn nach
Berlin verpflanzten und mit Leidenschaft kultivirten Bocciaspiel
gesucht. Für die Abende aber, namentlich im Winter, wo
der Garten keine Zerstreuung bot, hatte er wieder künst-
lerische Beschäftigung mit dem Bleistift. Die Portraitsammlung
wuchs durch diese Abendthätigkeit zu achtungswerther Grösse.
Aus unbedeutenden Anfängen war sie entstanden; kleine
Büchelchen nahmen hin und wieder das Bild irgend eines
Freundes, flüchtig gezeichnet, auf. AUmälig aber vergrösserte
sich das Format und mit des Künstlers wachsender Virtuosität
in der Behandlung des Bleistifts und im Auffassen der Aehn-
lichkeit wurden auch die Portraits schöner und ausdrucksvoller.
Bald -viTirden diese Sammlungen bekannt, die Bände mehrten
sich und er hinterliess deren siebenundvierzig mit über tausend
Köpfen.*) Die früheren Zeichnungen sind ausschliesslich mit
dem spitzen und ziemlich harten Bleistift gemacht: die Formen
scharf mit Linien umschrieben, aber noch ziemlich steif, die
Ausführung des Details sehr sauber und fein, aber ängstlich;
•) Im Besitze des Verfassers. Einige der interessantesten Blätter sind in vor-
xäglicher phototypischer Nachhildung veröffentlicht.
Portraitsammlung Wilhelm Hensels. 283
es fehlt an Rundung und Weiche, die Lichter sind mit Weiss
aufgesetzt. Man merkt der ganzen Zeichenart die frühere Be-
schäftigung mit Radirungen an, es hat etwas von der Schärfe
und Härte des Kupferstichs. Bald aber tritt der Gebrauch
des Wischers und die Anwendung des w^eichen und immer
weicheren Bleistifts ein und diese Zeichenart wird aUmählig
zu hoher Vollendung, namentlich in Verbindung mit Papier
pelU und ausradirten Lichtem ausgebildet. Die Behandlung
wird immer freier und genialer, der Strich tritt immer mehr
zurück, die gewischte Fläche immer mehr in den Vordergrund,
die Fonn wird nicht mehr durch umschreibende Linien, son-
dern dui'ch weiche Schatten dargestellt, namentlich die Be-
handlung des Haares ist von grosser Schönheit. Es sind
schliesslich kaum mehr Zeichnungen, sondern Gemälde, schwarz
in schwarz. — So die Technik. Damit Hand in Hand geht
eine grosse Veränderung in der Auffassung der darzustellenden
Menschen, eine andere Ansicht von der Aufgabe des Portraits.
Li den ersten Bänden wird eine möglichst treue, wenn man so
will, daguerreotypartige Wiedergabe des Gesichts erstrebt.
Daher völlige Vernachlässigung alles Anderen, nur objektive
Kopirung der Gesichtszüge. Allmäüg aber tritt die individuelle,
künstlerische Auffassung mehr in den Vordergrund, der zu
Portraitirende wird gewissermassen nur Rohmaterial, Motiv zu
einem Bilde. Ist nun ein Gesicht recht charakteristisch, so
machte Hensel auch wohl in den letzten Jaliren ein voll-
kommen treues Bild von ihm. Gewöhnlich aber gewinnt
eine idealisirende und namentlich verschönernde, verjüngende
Richtung die Oberhand — Fanny nannte das einmal treffend:
-Wilhelm zeichnet eine Grossmutter in's Stechkissen." — Durch
77
Umgebung oft landschaftlicher, oft symbolischer Natur (\vie
z. B. b3i dem Astronomen Quetelet der gestirnte Himmel) soll
der Charakter des Menschen näher bezeichnet werden, es sind
auch hierin, wie in der Technili, mehr Bilder nach gegebenen
Motiven, als Portraits, freie Phantasien auf ein Gesicht. Und
bei alledem haben selbst diese, auf den ersten Anblick kaum
ähnlichen Zeichnungen das Eigenthümliche, dass man sich im-
mer mehr und mehr in sie hineinsieht, weil sie eben die ver-
284 1830—1834.
geistigte Auffassung eines geistreichen, künstlerischen Auges
darstellen und so eine zv/ingende Gewalt auf den Beschauer
ausüben. — Die gelungeneren unter den Zeichnungen dieser
letzten Bände gehören wohl zu dem Vollendetsten, was in
solcher Art von irgend einem Künstler geschaffen worden ist.
— Aber noch in anderer Beziehung haben die Albums grossen
Werth; und zwar einen Werth, der sich mit der Zeit sehr
steigern wird; sie sind interessante Kostüm- und Trachtendar-
Stallungen über einen Zeitraum von beinahe fünfzig Jahren.
Und schliesslich gewähren die fast ausnahmslos den Bildern
beigefügten Autographen der dargestellten Personen noch ein
ganz besonderes Interesse; — allerdings fast nur in formeller
Hinsicht ; denn unter den vielen Hunderten von Unterschriften
sind kaum ein Dutzend wirklich hübsch und charakteristich.
Uns aber giebt die Sammlung ein lebendiges Bild von
der ausgebreiteten Geselligkeit des Henselschen Hauses. Alle
diese, gewöhnlich durch ii-gend eine hervorragende Eigenschaft —
Geist, Talent, Schönheit, und wäre es auch nur Eang — aus-
gezeichneten Personen standen in mehr oder weniger nahen
Beziehungen zu Hensels und Mendelssohns. Dass die Künstler-
welt am reichhaltigsten vertreten ist, liegt in der Natur der
Sache. Von bedeutenderen Musikern wären zu nennen:
C. M. V. Weber, Zelter, Paganini, Henselt, Gounod, Hiller,
Ernst, Liszt, Clara Schumann, natürlich Felix in verschiedenen
Bildern; die Malerei ist u. A. vertreten durch Cornelius, Ingres,
Horace Vemet, Magnus, Kopisch, Verboekhoven, Kaulbach und
Max V. Schwindt; das Theater durch die Müder, die Rachel-Felix,
Seydelmann, die Novello, Lablache, die Grisi, die Pasta, die
Ungher-Sabatier, die Schröder-Devrient. Die Litteratur sendet
als Repräsentanten La Motte Fouque, Theodor Körner, Cl.
Brentano, Bettina von Arnim, E. T. A. Hoffniann, Tieck, Vam-
hagen, H. Heine, Goethe, Steffens, die Austin, Paul Heyse;
Thorwaldsen, Rauch und Kiss repräsentii-en die Bildhauer,
Schmkel die Architekten; während von Männern der Wissen-
schaft Hegel, Gans, Bunsen, Humboldt, Jacob Grimm, Lepsius,
Böckh, Quetelet, Jacoby, Dirichlet, Ranke und Ehrenberg sich
linden. Sie wurden fast Alle Abends, während Musik gemacht
Portraitsammlung. Sonntagfsmusiken. 285
wurde, oder die lebhafteste Unterhaltung im Gang war, ge-
zeichnet, manchmal sogar, ohne dass sie es selbst wussten.
Das eben gab die Lebendigkeit und Natürlichkeit von Hensels
Auffassung, dass er kein steifes, gelangweiltes „Sitzen" ver-
langte, sondern den Menschen frei gewähren, sprechen und
sich bewegen Hess. Und hatte er so ein eigenes Talent, das
Leben aufzufassen, so besass er andererseits die Gabe, den
Tod würdig, ernst und schön darzustellen, eine Gabe, die sich
selbst in den schwersten Momenten des Lebens bewährte.
Wie vielen hat er so noch die letzten Züge geliebter Menschen
zu bleibender Erinnerung festgehalten — der Familie nicht am
wenigsten. Schöneres kann man kaum sehn, als die Todten-
bilder von Schlnkel, von Fanny, von Felix, letzteres ist das
einzige wirklich gute Bild, was von ihm existirt.
Die Sonntagsmusiken fingen auch in dieser Zeit an, eine
stehende Institution zu werden, und wie alles Derartige, ein-
mal angefangen, die Tendenz hat zu wachsen, so war es auch
hier. Sie waren für Fanny, was für ihren Mann die Albums
waren. Aus kleinen Anfängen, aus der Vereinigung der
nächsten Freimde am Sonntag Vonnittag, dem arbeitfi-eien
Tage, entwickelten sich allmälig wohlvorbereitete Aufführungen
mit Chor und Sologesang, auch Trio und Streichquartett von
den besten Kräften Berlins, vor einem zahlreichen, alle Räume
ausfüllenden Riblikum. Viele Jahre gehörte es zum guten
Ton in Berlins musikalischen und leider! auch nicht musika-
lischen Kreisen, zu diesen Musiken Zutritt zu haben. Am
meisten Freude hatte Fanny dabei an dem trefflich geschulten
kleinen Chor und an dem Elinstudiren der Sachen mit diesem,
was gewöhnlich Freitag Nachmittags geschah. — An einem
schönen Sommermorgen konnte es aber auch nichts Hübscheres
geben, als den Gartensaal, mit dem Blick auf die herrlichen
Laubparthien des Gartens, angefüllt mit einer dichtgedrängten
Menge munterer, festlich gekleideter Menschen, und sie am
Flügel mit ihrem Chor irgend ein altes oder neues Meisterwerk
aufführend. Hatte Hensel ein Bild der Vollendimg nahe, so
standen wohl die Atelierthüren offen und ein ernster Christus
sah auf die bimte, moderne Welt hernieder, oder Mirjam, den
286 1830-1834.
Ihren voranschreitend, drückte symbolisch auf der Leinwand
ans, was im Saal lebendig vor sich ging. Viele gute Musik-
stücke wurden durch Fanny Hensel zuerst in Berlin bekannt.
Eine Auffülirung im Jahr 1834 muss ganz besonders gut ge-
wesen sein, sie schreibt darüber: „Ich habe im vorigen Monat
(Juni) eine wunderschöne Fete gegeben: Iphigenie in Tauris
von der Decker, Bader und Mantius gesungen. Es war wirk-
lich etwas so vollkommenes, wie man nicht leicht wieder
hören wird, besonders Bader war hinreissend, aber alle drei
trieben sich einander so, und die drei schönen Stimmen bildeten
einen Strom von Klang, der mir unvergesslich bleiben wird.
Auch aUes Andere ging sehr gut und erfreulich. Es waren
gerade hundert Personen hier, unter Andern Bunsen, dem es
eigentlich galt, melirere Engländer, Lady Davy; Eadzi-würs
hatten sich gemeldet, konnten aber dann nicht kommen, etc.
Alles war sehr schön und gelungen, noch schöner als Orpheus
voriges Jalir. — Den Sonntag drauf hatte ich Musik mit
ganzem Orchester aus der Königstadt und Kess meine Ouver-
türe spielen, die sich sehr gut ausnahm." — Als Schluss dieser
ersten Ehejahre mag eine Stelle aus einem Brief Fanny's an
ihren Vater stehn, am Tauftage ihres Knaben geschrieben:
,, Ich kann einen so frohen und schönen Tag un-
möglich beschliessen, ohne mich an Dich zu wenden, lieber
Vater, und Dir zu sagen, wie sehr wir Dich dabei vermisst
haben; ja, da man bei solchen Veranlassungen mehr als sonst
auf sein ganzes Leben zurückgeführt wird, so kann ich nicht
umhin. Euch, denn dieser Brief ist eigentlich für Mutter mit-
gemeint, wieder einmal, und wohl nicht zum letzten Mal in
meinem Leben, von der Stufe aus, auf der ich stehe, zu dan-
ken, dass Ihr mich hierher gefülu't habt, Euch zu danken für
mein Leben, für meine Erziehung und für meinen Mann, und
Euch zu danken, dass Ihr gut gewesen seid, weil guter Eltern
Segen auf den Kindern ruht, und ich mich in jeder Beziehung
so glücklich fühle, dass ich varklich nichts als Fortdauer zu
wünschen weiss. Bei allem Glück habe ich besonders das, es
so recht zu wissen und zu empfinden, und es ist doch wohl
der nöthipre Schlussstein." —
Briefe Abraham's aus Paris. 287
Abraham Mendelssohn war nach Paris gereist, und mögen
einige seiner Briefe an Lea hier eine Stelle finden:
Paris, 13. JuU 1830.
^Ich möchte Euch gern eine andre, als die trockene Nach-
richt, dass ich gestern Abend um 11 hier angelangt bin, geben;
allein ich kann nicht. Ich bin so ermüdet von allem, was ich
seit diesem Morgen bereits gethan, geselm und gesprochen, dass
mir die Sinne vergehn. Also ich bin hier; jede Einfahrt in
Paris ist ein wichtiger und merkwürdiger Abschnitt im Leben,
und wie alt, kalt und abgespannt einer auch sei, er muss den
letzten Eest seiner Kräfte hergeben, um mit allen Sinnen sich
zu freuen, dass er in Paris ist. Bist Du liberal — die Wahlen
faUen alle antiministeriell aus; bist Du ein Ministerieller —
gleich werden die Kanonen wegen der Eroberung von Algier
gelöst; bist Du ein Philosoph (ich nämlich bin keiner), so wird
Dir heute Mittag Gustav Eichthal die neuen theosophisch-
industriellen Systeme expliciren; bist Du ein Kaufmann, so
kehrst Du eben von dem allerwunderwürdigsten Monumente
zurück, welches der Eeichthum sich je und irgendwo in der
Welt selbst gesetzt hat, von der Börse, an welcher übrigens
auch die Damen jetzt Theil nehmen können — und nehmen;
bist Du Rike Robert, so kaufst Du Dir einen der 1500 Mille
Hüte, welche Dir zu Gebote stehn; und bist Du endlich der
Stadtrath Mendelssohn Bartholdy, so thust Du dasselbe, da der
einzige Fehler, der Paris verunstaltet, der ist, dass Mützen
nicht tolerirt werden. Sie haben da etwas von honnet rotige
sagen hören und lassen daher niemand mit einem honnet Um
nur an den Tuileriengarten ; mit der Nachtmütze ginge es
vielleicht, weil das ein honnet hlanc oder hianc honnet ist. (Am
allerwenigsten ginge es wohl mit einer Mütze aus allen diesen
drei Farben.) Du willst Dich etwa, ohne aus dem Hotel des
Princes zu gehn, im Klavierspiel oder der Komposition vervoll-
kommnen, und ich habe beides nöthig, da ich ein wenig auf
der Reise aus der Hebung gekommen, — Herr Kapellmeister
Hummel und Herr Meyerbeer wohnen Wand an Wand mit
Dir. —
288 1830—1834.
Paris, 21. Juli 1830.
Das sicherste Mittel, welches ich bis jetzt aus meinem
Aufenthalt hier gezogen hahe, ist, dass die Frauen sehr viel
weiss und sonstige einfache Farben, nur die jungen Mädchen
sehr viel Eosa und alle insgesammt sehr vernünftige Kopf-
trachten tragen, und auf keine Weise so lächerlich angezogen
sind, als es unsere Modejournale berichten und unsere Frauen
pflichtschuldigst nachahmen. Ich kann alle meine geliebten
und verehrten Landsmänninnen, alt und jung, gross und klein,
versichern, dass die sicherste Weise, dem gewünschten Pariser
Ideal gleichzukommen, Eiofachheit in Farbe und Schnitt ist,
und dass eine Berlinerin, welche mit Gigots, Imb6cile, unsem
Locken und Hüten hierher käme, kein einziges Vorbild und
auch gewiss keine einzige Nachahmung finden würde. — Ver-
diene ich Geld hier, so bringe ich Euch sinen acht eleganten
Pariser Anzug, damit Ihr Euch schämen und kleiden lernt; ich
ärgere dann unsere ganze ^elegante" Welt — pauvres gens du
nord, auxqueh on n'envote que le rebut — ich habe es immer
geahnt und gesagt.
Im Museum war ich schon mehreremal. Es sind noch immer
die alten herrlichen Bilder, aber es sind leider nicht mehr die
nämlichen Augen, mit welchen ich sie betrachte: fast noch nie
hat mich die Abnahme meiner Sehkraft so geschmerzt; doch
ist die Erinnerung alter Liebe, alten Genusses noch lebendig
genug in mir, um das Eindringen schlechter Gesellschaft in
diese Götterversammlung auf das bitterste zu empfinden. Im
ersten Theil der Gallerie, in der Ecole francaise, hat man,
wahrscheinlich um leeren Platz auszufüllen, alle Davids Brutus,
Horazier, Sabinerinnen, Leonidas, Belisar und einen schauer-
lichen Paris mit der Helena, aUe Girardets Endymion, Sünd-
fluth (welche mir einmal im Luxemburg gefallen, hier aber ganz
unerträglich geworden), Einnahme von Cairo, kurz den Teufel
und seine ganze Familie hingehängt; glücklicher Weise ist
diese Barbareninvasion bis jetzt nur bis zum ersten Achtel
ungefähr der Gallerie gelangt, und lässt man sich von diesen
IJngethümen nicht abschrecken , so kommt man endlich auf
geheiligten Boden. Schön ist die Menge Arbeitender zu sehn,
Pere la Chaise. Juli-Revolution. 289
am meisten freilich Frauen alles Alters und aller Gestalt.
Obenerwähnter gräulicher Paris von David und die grosse hei-
lige Familie au berceau von Raphael werden von Dreien auf
einmal copirt. Im Mmee des Statiies habe ich nichts Neues
entdeckt als eine Venus von Milo, der beide Arme fehlen; weiter
weiss ich nichts von ihr.
Heute war ich, vde alle Engländer, wieder einmal im Pere la
Chaise. Diese ungeheure Todten Stadt wird immer ungeheurer,
wichtiger, interessanter; an Bevölkerimg fehlt es ihr nicht, und
Thorheit und Uebermuth machen die Denkmäler immer mehr
Häusern und Pallästen ähnlich. Nun fand ich Talma und viele
schöne Frauen meiner Zeit. Mein Führer (ein alter bonapar-
tistischer Soldat) sagte mir: ^ Voulez vous savoir le fin mot de
toiä cela? Plus dJorgueü ^ue de sentiment!'^ (wörtlich.)
Heut haben die Pairs de France lettres closes erhalten,
pour V Ouvertüre des cJiamlres au 3 aoüt; ich halte mich, nach
allem, was ich mir abnehmen kann, für tiberzeugt, dass sich
alles für jetzt in Wohlgefallen auflöset. Auf beiden Seiten
hat man zu viel zu verlieren, und keiner hat recht Courage,
va tout zu spielen."
Unmittelbar nach Absendung dieses Briefs wurde Abraham
krank, und es fehlen daher Nachrichten von ihm über die „drei
Tage". — Erst am 16ten August konnte er wieder schreiben :
„ Ich habe mich nun entschlossen, bis Ende dieses
lionats oder die ersten Tage September hierzubleiben, um alles
selbst zu ordnen, was hier geordnet werden muss. Ich habe
gestern zum ersten Mal seit mehr als drei Wochen in Gesell-
schaft gegessen, bei Leo's mit Koreff, welchen ich wahrlich
nicht genug loben und danken kann.
Da, wo ein so mächtiger Revolutionsinstinkt sich im Volke
entwickelt und geäussert hat, da scheint mir ein legaler Zu-
stand in dem Sinne, wie wir dieses Wort nehmen und verstehen
können , ganz und gar unmöglich. Ganz neue Formen und
Verhältnisse müssen sich bilden, um einem solchen Volke zu
entsprechen und zu genügen; alles Vorhandene ist abgenutzt
und wird langweilig und lächerlich, und ich irre mich sehr,
oder dies Gefühl fängt schon an sich zu äussern. Ein Volk,
Die Familie Mendelssolm. I. 19
290 1830-1834.
wie das Pariser sich gezeigt hat, ist entweder im Gefühl eige-
ner Stärke und Mündigkeit aUen Einflüssen und Einwirkungen
individueller Ueherlegenheit entwachsen, und dann steht es
schlimm um das Bestehende, oder aber es wird eine furchtbare,
unwiderstelüiche Waffe in den Händen derer, die es zu ge-
brauchen wissen, und dann steht es wieder schlimm um das
Bestehende. Mir scheinen die drei Tage ein ungeheiu-es, gehemi-
nissvoUes Wort ausgesprochen zu haben, dessen Deutung jetzt
zu errathen ist. Eins ist klar; mit Charles X. ist nur der
allerkleinste Theil der Verderbniss, der Niederträchtigkeit, der
Habsucht und Intriguen der höheren Stände vertrieben. Die
rechte Grundsuppe ist geblieben, sie lastet wie eine undurch-
dringliche Atmosphäre auf Frankreich, sie ist ein feindseliges
Element, schwerer und nothwendiger zu bekämpfen als die
garde royale. Mir scheint qu'il n'y a rien de change en France,
quoiqyCil y ait heureusement un Francais de moins.
Gefalle ich Euch nicht, so bedenkt, dass ich drei Wochen
lang krank war. Gott gebe, dass ich mich iiTen möge, dass
ich nicht in meiner Einsamkeit und gerade, weil ich darin war,
richtiger sehe, als die im Treiben waren und sind. Gewiss
ist, was geschehen war nothwendig, unumgänglich; wird, was
darauf und daraus folgt, gut und recht sein? Ich kann's
kaum hoffen, aber Gott geb's, sagt Jacobi. 0 ! ich werde alt! — "
Paris, 25. Angibst 1830.
„Tausend Dank für Deinen liebenswürdigen Brief vom 17ten.
Gott erhalte Dir Deinen Enthusiasmus und Deine Lebendigkeit.
Du irrst aber sehr, wenn Du glaubst, die Aerzte hätten mir
verboten, Journale zu lesen ; das verbot sich von selbst. Wenn
ich einen Brief von Dir 24 Stunden uneröffnet lassen muss, so
kann ich gewiss in 8 Tagen keine Zeitung lesen; ich war,
bevor das Fieber kam, in einem vollkommenen Marasmus, einer
wahren Nichtigkeit, aus welcher mich nur Unwohlsein und
Leiden mancher Art weckten; es war nicht schön.
In Auxerre war ein Auflauf; das Volk riss die Barrieren
«in, um keine Abgaben mehr zu zahlen, und erklärte, sich an
Juli-Revolution. 291
die Worte des Königs zu halten: ^^que desormaisy ü rCy awa
pizis de larriere entre le roi et le pewple. Es ist historiscli wahr
und doch wirklich Shakespearisch.
Ein Kabrioletkutscher, welcher mich dieser Tage fuhr, er-
zählte mii% am fürchterlichen Mittwoch hahe er mit einem
Haufen Bürger in der rue St. Honor6 gefochten; unter sie
hätten sich mehrere Kinder von 12 — 14 Jahren, mit Stöcken
bewaffnet, gemischt; er habe zu dem Aeltesten, der sie an-
führte, gesagt: ^^MaJheureux ^ quo fais-tu ici\ tu n'as pas meme
d'armes?^'- ^^J^cdtends que tu sois ttce, pvur prendre les timneSy'-''
war die Antwort, welche kein Kabrioletkutscher erfindet; mich
hat es schaudern gemacht, und ich kenne kein ähnliches." —
Paris, 27. August 1830.
^ Hiller gefällt mir am besten. Er ist gutmüthig,
lebendig, obwohl auch ein bischen scharf. Er hat mir vor-
gestern Hector Berlioz zugeführt, den Verfasser, oder Kom-
ponisten des Faust; er schien mir angenehm, interessant und
viel vernünftiger als seine Musik. Ihr könnt Euch nicht denken,
wie alle die jungen Leute auf Felix warten. Berlioz hat kürz-
lich den grand prix de composition erhalten und bekommt auf
5 Jahr dreitausend Francs Pension zu einem Aufenthalt in
Italien. Er will aber nicht hingehn, sondern sich Erlaubniss
erwirken, hier zu bleiben (das ist Wasser auf Deine Mühle,
Lea!). In allen den jungen Köpfen jedes Standes und Gewerbes
gährt es, alle wittern Regeneration, Freiheit, Neues, und wollen
daran Theil nehmen. Ich gestehe, dass ich noch mit mir zu
keinem Resultat darüber gelangt bin, was aus allem dem
sich gestalten wird.
Ich habe gestern bei Gerard etwas gesehen, was mich
unglaublich interessirt hat und so bald nicht aus meinem Ge-
dächtniss weichen wird: er hat Bonaparte in seinem Cabinet
mit historisch diplomatischer Genauigkeit der kleinsten Details
gemalt; es hat mich gebannt! Nebenbei hat Gerard im Ge-
spräch gesagt, er habe in seinem Leben 400 Portraits gemalt.
Gebannt hat mich aber auch gestern die Taglioni. Das
19*
292 1830—1834.
ist ganz neu. Ilir erinnert Euch alle noch, wie uns bei der
Sonntag und Paganini die Gelassenheit, die Ruhe, die Sicher-
heit oft und am meisten entzückte. Das ist die Taglioni; sie
tanzt nie geschwind, wenigstens nie heftig. Mit vollkommener
Ruhe, ohne Rücksicht auf das Publikum folgt sie den Ein-
gebungen ihrer Grazie und Laune, sucht nie etwas und findet
alles, strengt sich nie an und thut Unglaubliches.
Aber Wilhelm Teil ! ! ! Ich reisse noch heut Leo den Kopf
ab wegen seines ürtheils. Atroce! und leer. Ich bringe den
Text mit, der allein eine Merkwürdigkeit ist. In einem zärt-
lichen passionirten Duett fragt Melchthal seine Geliebte Ma-
thilde (eine österreichische Prinzessin! welche mit ihm glück-
liche Tage verleben will) vous reverrai-je? Oui demain^ ist die
Antwort, ich habe es sogleich in oui gäteaiix übertragen; die-
selbe Mathilde sagt : les rayons de Vastre de la nuit sont discrets
comme mon Arnold. Wie der Mann, der den Barbier und
OtheUo geschrieben, solch eine Musik hat machen könnei^,-
bleibt mir unbegreiflich und eine solche Dissonanz nur in der
Musik möglich.
Die innere Ruhe ist vollkommen wieder hergestellt und
morgen wird Revue über 50,000 Mann Nationalgarden gehal-
ten. Jetzt ist man aber wegen der belgischen Unruhen un-
ruhig, und ich fürchte eine stürmische Zeit, da sich eine neue
gebären zu wollen scheint. Die jungen Leute woUen heran,
das gefäUt den Alten nicht. '^
Paris, 30. August 1830.
„Gestern (Sonntag) vor 5 Wochen war ich inMontmorency;
es war gerade die Fete du village, 5 — 6000 Menschen waren
dort zusammengekommen, tanzend, singend, fröhlich und guter
Dinge, einige Gensd'armes waren müssige Zuschauer. Wie ich
gegen 11 Uhr nach Paris zurückkam, war eben die Fete in
Tivoli aus, und Tausende strömten in friedlichster Ordnung die
Strassen entlang. Drei Tage darauf war Paris in Feuer und
Flammen, und wohl an 10,000 Menschen verloren Leben und
Gesundheit; alle Ordnung war aufgelöst, es hing an einem
Juli-Eevolution. 293
Haar, so siegte Tyrannei und Zerstörung, und Paris war seinem
Untergang nahe. Gestern waren 50,000 Mann vollkommen
exercirter und bekleideter Nationalgarden auf dem Champ de
Mars versammelt, um vor dem König die Eevue zu passiren,
150,000 — 200,000 Menschen waren auf demselben Platz Zu-
schauer, von Lüiientruppen, von Polizei, von Gensd'armes keine
Spur, und ich habe ein imposanteres, friedlicheres, ruhigeres,
schöneres Fest nie in meinem Leben gesehen. Es waren die-
selben Menschen, welche 3 Wochen vorher sich auf Tod und
Leben geschlagen hatten, dieselben, welche ich in einem Zu-
stande von überreizter, physisch und moralisch erhitzter Exal-
tation und Wuth gesehn, der mir nie aus dem Gedächtniss
kommen wird. In Paris selbst war nichts als alte, kranke
Leute, kleine Kinder und die Hefe des Volks zui'ückgebUeben,
und es ist weder ausser Paris noch in Paris der Schatten eines
Excesses vorgefallen.
Das ist allerdings ein wahres und imgeheures Wunder!
Allein ich bleibe dabei, dass solch furchtbarer, schneller Wechsel
der entgegengesetztesten Erscheinungen einenZustand, wenigstens
dieses Landes, anzeigt oder als nahe verkündet, vor dem nichts
bis jetzt Bestehendes dauern kann. Glücklich sind jetzt die
Jungen, sie können und werden erwerben, und ihnen eröffnet
sich ein unermessliches Theater. Wir treten hinter die Coulisseu
und sehen Rauch und Schminke.
— — Ich erhalte Deinen lieben Brief vom 24ten und
bleibe dabei, es ist eine üble Sache um die Correspondenz auf
150 Meilen weit; ich habe Dir vor 26 Jahren schon dasselbe
von hier aus gesclirieben. Entweder ich habe total vergessen
oder Du hast durchaus missverstanden, was ich Dir über meine
Ansicht der hiesigen Angelegenheiten geschrieben habe. Ich
bin mic Leib und Seele, mit Herz und Magen dem Princip der
Journees de Juillet zugethan und halte sie für die ausser-
ordentlichste Begebenheit der ganzen Weltgeschichte. Aber
Jean Paul sagt, Niemand sei so gut als seine guten Aufwal-
lungen und so schlecht als seine schlechten, und wenn letzteres
unfehlbar von den Franzosen von 93 gesagt werden muss, so
kann ich nicht umhin, auch erst eres von denen von 1830 zu
294 1830-1834.
besorgen. Und wenn Du aus diesem Gesichtspunkt das beur-
theilst, was ich Dir geschrieben zu haben glaube, so wirst
Du es vielleicht nicht mehr so räthselhaft finden. Ich bin
übrigens 53 oder 63 Jahr alt, und es kann mir keiner ver-
denken, wenn ich mii' Euhe wünsche.
Der Marquis de Praslin geht nach Italien, um ü'gendwo
die Thronbesteigung zu notificiren. Tel ministre Schwieger-
vater, tel amhassadeur Schwiegersohn ! Dieser Minister Schwie-
gervater könnte mn* die Jowrnees de Juillet verhasst machen."
Am 13. Mai, nach überstandener Krankheit, begab sich
Felix auf seine italiänische Reise, von der er die nach seinem
Tode herausgegebenen „Eeisebriefe" nach Hause schrieb. Aber
was er nicht schrieb, was seine grosse Bescheidenheit ihn zu
schreiben und vielleicht sogar zu bemerken verhinderte, war
der Zauber, den seine Person auf Alle ausübte, die mit ihm
in Beruhigung kamen. Darüber aber schiieb Marx, der am
Anfang der Eeise mit Felix in München zusammentraf, an
Fanny Hensel folgendermassen:
München, 21. Juli 30.
„Ueber Haidegenist und Moor; bei der Kapelle vorbei,
wo ein alter Beter von der Enkelin mühsam aufgerichtet -wird ;
durch die selige Ebene, wo die lieben Engel aUen Wallfahrern
den Tisch gedeckt haben; über alle geschäftigen Quellen und
Bäche längs der grollenden Schwarza, wo das Eeh stutzt;
über aU die Städte voll Arbeit und Lust zu den geliebten
Schwestern. Ein Bück! Ein Gedanke an Sie, der den Norden^
hundert Meilen hinab in den helleren Süden verwandelt ! Und
neben mir Felix, der sich wohl im Morgentraum Ihrer freut,
wie ich im Schreiben, und wir Beide gestern und vorgestern
Nacht im späten Plaudern! — Sehen Sie da, beste Fannj^ ob
ich „einmal Sonnenschein zu einem Unternehmen" habe, wie
das grüne Blatt neben mir wünscht ? und ob ich gar noch die
Schneeberge brauche, die aus den Wolken, mü' zum ersten Mal,
herüberwtuken? Obwohl man nicht verschmähen wird, sie am
24. zu besteigen und am 25. zu Oberammergau „dem grossen
Felix in München. 295
VersöliiiTiiigsopfer auf Golgatha" beizuwohnen, nämlich einer
Passionsmusik mit Handlung. Das haben sie vor Jahrhun-
derten gestiftet und just so eingerichtet, dass alle zehn Jahr,
genau 1830 am 25. Juli, wo wir bei der Hand sind, das Fest
auf den Bergen begangen wird. Jetzt aber ist es Mittwoch
früh am 21. und ich sende die ersten Zeilen, die ich seit Berlin
schreibe, bald ab.
Was wir aber bis dahero thun und gethan, ist bald ge-
sagt: Wir regieren. Ich habe geruht, Vicekönig zu werden^
— Sie können sich vorstellen, beste Rebecka, wie mir's steht
und lasse mir huldigen, ohne eine Miene zu verziehen. ,, Bester
Herr von Marx" — oder „Hochgeacht'ter Herr" — oder
„Liebwerthster" etc. etc. heisst's da und da, und dort: „wie
unschätzbar" etc., „wir wollen Sie auf Händen tragen" etc.
— „wenn Sie sich's recht lange bei uns gefallen lassen." —
Die Leute haben sich nämlich (hören Sie auf zu staunen) in
den Kopf gesetzt, dass meine Abreise das Signal von Felixens
sein wird ; da wollen sie mir denn, wie die egyptischen Mütter
\md Bräute dem Krokodil, Wein und Lämmer opfern und süss-
betäubenden Weihrauch streuen, damit ich ihnen ihr Lamm
nicht raube. War' ich keine noble Natur, sondern eine profi-
table, ich könnt' eine Kontribution ausschreiben ; kurz, ich bin
wirklich unwiderstehlich, ein Parvenü! Der Rückweg wird
mich aber nicht über München führen; da will ich incognito
reisen. —
Alles Ernstes können Sie sich keine Vorstellung von
Felixens Stellung hier machen; er kann nicht das Hundertste
schreiben und auch mir wird es bei dem besten Vorsatze nicht
gelingen. Die Anerkennung seiner Musik — nun, das haben
wir vorausgewusst. Jetzt — er könnte die allerschlechteste
Musik aufführen und Alles würde entzückt sein. Doch das
muss man beobachten, wie er überall Kind im Hause, wie er
recht eigentlich der Mittelpunkt jedes Kreises ist. Von Früh
an bezieht sich alles auf ihn. Gestern z. B. hatte ich bis
zum „Incognito" geschrieben und Felix geschlafen, da bringt des
Gesandten Jäger ein Billet von der zärtlichst schreibenden
Betty, die ich kenne: Felix möge doch, da er um drei nicht
296 1830-1834.
zu Tisch kommen könne, um zwölf oder Nachmittags, oder
Morgens kommen, sie würde zu jeder Zeit glücklich sein etc.
Wieder öffiiet sich die Thür ; nun tritt der Jäger eines Grafen
ein (Protzschy oder Prutzschi heisst er, oder sonst anders,,
nur nicht wie ein vernünftiger Mensch) und bringt eüien
Nelkenstrauss, von Fräulein so und so. Ihm folgt der erst^
Klavierlehrer von München und möchte eine Lektion haben, —
seine eigenen hat er ausgesetzt, solange Felix hier ist. Dann :
Ein Kompliment von der dankbaren Peppi Lang (o ! was werde
ich von der zu erzählen haben, ehe sie noch sechszehn Jahr
alt wii'd) und sie wage die Bitte, er möge nicht übel nelimen,
dass sie ihm ein Andenken (acht reizende Lieder) darbringe.
Fräulein Delphine Schauroth — (sechszehuahnig wenigstens)
hat zwar die Nacht durch an einem Lied ohne Worte für ihn
komponirt, lässt aber bitten, ja nicht um halbelf, sondern wo-
möglich schon um zehn zu kommen, oder womöglich noch
früher; darum muss der Graf Wittgenstein eine halbe Stunde
weit Pflaster treten. — Staatsrath Maui'er, Kapellmeister Stanz,
Moralt und andere trockene Visiten und Bestellungen nicht zu
erwähnen, lässt Herr v. Staudacher anfragen: Herr v. Mendels-
sohn habe zwar bereits zugesagt, zum Diner zu kommen, ob
man aber gewiss hoffen dürfe etc. etc. Dann kommt noch
Bärmann mit der konfidentiellen Note: Staudacher's hätten zwei
Mehlspeisen bestellt, um ihm zu gefallen. Sie werden diese
unvollständige Liste für trockenen Spass halten; es ist aber
lustiger Ernst. Und nun sollten Sie — o ! wie göttlich wär's !
— uns begleiten, wde man schon auf den um und um lächeln-
den Gesichtern der Domestiken liest, was die Herrschaften
unter sich gesprochen, wie man keinen dahin bringt, anzu-
melden, wie — wer kann all' das Detaü schreiben, die tausend
Blätter aufzählen am Baum der Freude und Liebe? Nur im
Ganzen versteht und gouth't man, wie das Interesse auch die
kleinsten Aederchen durchströmt. Ich habe den ernsten, hoch-
trabenden Staudacher und Bärmann lange heftig streiten ge-
hört, ob Felix bei irgend einem Anlass erst den Mund aufge-
macht und dann gelacht, oder gleich gelacht habe? Wörtlich
so! Mich haben sie mit Danksagungen und Händeschüttela
Felix in München. 297
erstickt, für die Komposition der E-Soaate — weil ich sie ihnen
nämlich genannt.
Aber es gehört auch dieses regsame, südländische Natui^ell
dazu, um das Schöne und Liebenswürdige so warm und lebendig
aufzunehmen. Die Menschen, das Laub, der Himmel, der Stein
sind hier voll warmen Lebenshauches, der überall Fülle des
Reizes und der Freude weckt und über den ausgebreitet reichen
Teppich verklärende, schillernde, wechselnde Tinten giesst.
0 Hensel! Wie oft hab' ich Dich hergewünscht, wie hundert-
mal Dir meine Freude zu der Deinigen und mir Dein Auge
zu meinem Neulingserstaunen. Was hab' ich mit Dir zu
sprechen von meinen Quellenthälern, — ich habe viel geseh'n
und viel nachgedacht — und ich glaube, viel gefunden. Ich
brenne darauf, es Deiner Sichtung vorzulegen. Soweit; denn^
die Minuten sind gezählt. Nun geht's in's Gebirge und dann
geh* ich, ich weiss selbst noch nicht, nach welcher Weltgegend.
Lebewohl allen Theueni! Aber keine Antwort kann mich
erreichen.
Herzlich liebend
Marx.^
Von Felix selbst mögen hier noch zwei Briefe aus München
Platz finden:
Mein liebes Schwesterlein!
München, 11. Juni 1830.
^Bist Du auch wieder recht gesund? Und nicht mehr
böse auf den Rüpel von Bruder, der so lange nicht geschrieben
hat? Er sitzt jetzt hier in einem netten Stübchen und hat
Euer grünes Sammetbuch mit den Portraits vor sich und
schreibt am oifenen Fenster. Hör' mal, ich wollte. Du wärest
recht froh und heiter in diesem Augenblick, weil ich gerade
an Dich denke, und so wärest Du es in jedem Moment, wo
ich an Dich dächte: da solltest Du nie verdriesslich und un-
wohl werden. Aber ein ganzer Kerl bist Du, das muss wahr
298 1830—1834.
sein und hast einige Musik los; gestern Abend sah ich es
wieder recht ein, als ich stark Cour schnitt. Denn so weise
Du bist, so habe ich doch mich sehr niedUch gemacht, d. h.
so weise Du bist, so thöricht ist Dein Herr Bruder. Grosse
Soir6e war nämlich gestern bei dem P. Kerstorf und Minister
und Grafen liefen umher, wie die Hausthiere auf dem Hühner-
hof. Auch Künstler und andere Gebildete. — Die Delphine
Schauroth, die nun hier angebetet wu'd (und mit Eecht), hatte
von aU' diesen Klassen ein Bischen; denn ihre Mutter ist
Freifrau von und sie ist Künstlerin und sehr wohlgebildet;
kui'z, ich lämmerte sehr. Nämlich so, dass wir die vierhändige
Sonate von Hummel zu allgemeinem Jubel schön vortrugen,
dass ich nachgab und lächelte und zusclilug und das As im
Anfang des letzten Stückes für sie aushielt, „weil ja die kleine
Hand nicht zureichte" und dass die Frau vom Hause uns
nebeneinander setzte, Gesundheiten ausbrachte und so fort. —
Aber eigentlich wollte ich ja nur sagen, dass das Mädchen
sehr gut spielt und mii', als wir vorgestern zum ersten Mal
zusammenspielten (denn das Stück ist schon dreimal gegeben
worden), ganz ordentlich imponii'te; als ich sie nun gestern
früh alleiu hörte und auch sehr bewunderte, fiel mir plötzlich
ein, dass wir im Hinterhause ein Frauenzimmer besässen, das
von der Musik doch eine gewisse andere Idee im Kopf hätte,
als viele Damen zusammengenommen, und ich dachte, ich
woUte ihr diesen Brief schreiben, woUte sie so herzlich grüssen ;
die Dame bist Du nun freilich, aber ich sage Dir, Fanny, dass
ich an gewisse Stücke von Dir nur zu denken brauche, um
recht weich und aufrichtig zu werden, obgleich man doch in
Süddeutschland viel lügen muss. Du weisst aber wahrhaftig,
was sich der Hebe Gott bei der Musik gedacht hat, als er sie
erfand; da ist es kein Wunder, wenn man sich darüber freut.
Kannst auch Klavier spielen und wenn Du einen grössern
Anbeter brauchst, als mich, so kannst Du Dir ihn malen oder
Dich von ihm malen lassen.
Da ich eben auf Hensel anspiele, so muss ich ilim doch
erzählen, wie mich Göthe sehr nach ihm frug und wiederholt
sich nach seiner Beschäftigung erkundigte ; das grüne Freund
Felix in München. 299
buch musste ich ihm melirere Tage da lassen und er lobte es
dann sehr; die Lammgruppe in meinem Stammbuch sah er sich
an und brummte: „die haben's gut — und sieht so zierlich und
hübsch aus — und so bequem und doch schön und anmuthig^,
so ging's dann weiter, kurz, o Hensel, er ist, mit Dir zu
reden, sehr für Dich.
Jetzt kommt eine Stelle aus einem seiner Gedichte für das
Chaos (er sagt, woran ihn die unbekannte Geliebte erkennt):
Wenn Du kommst, es muss mich freuen,
Wenn Du gehst, es muss mich schmerzen,
Und so wird es sich erneuen
Immerfort in beiden Herzen.
Fragst Du, werd' ich gern ausführlich
Deinem Forschen Auskunft geben.
Wenn ich frage, wirst Du wirklich
Mit der Antwort mich beleben.
Leiden, welche Dich berührten.
Rühren mich in gleicher Strenge;
Wenn die Feste Dich entführten.
Folg' ich Dir zur heitern Menge etc.
Hier ist auch ein sonderbarer Schluss eines Gedichtes an
Fräulein von Schiller:
Milde zum Verständlichen
"Wird die Mutter mahnen,
Deutend zum Unendlichen
Auf des Vaters Bahnen.
Beides ist aber nur aus dem Gedächtniss.
Gestern lobte mich eine gnädige Gräfin wegen meiner
Lieder und meinte frageweise, ob nicht das von Grillparzer
ganz entzückend sei? Ja, sagte ich, und sie hielt mich schon
für unbescheiden, als ich Alles erklärte, Dich als Verfasserin
nannte und versprach, die Kompositionen, die Du mir nächstens
schicken würdest, in Gesellschaften gleich mitzutheilen. Wenn
300
1830—1834.
ich das thue, bin ich ein Pfefferkorn, ein Brauerpferd: Da
schickst aber am Ende auch keine.
Eben kommt Licht, und mein Quernachbar zermartert sein
Klavier in der Dämmerung, indem er das GlÖckchen vcn Pa-
ganini fast zu jämmerlich verarbeitet.
Als ich auf meiner eiligen, verdriesslichen Reise liierher
in der Nacht durch Feucht kam, hörte ich in einem Hause
Mordlärm und der Postillon sagte: „Se sufen da!" — da
horchte ich zu und die Bauern sangen ein grosses Lied vom
Jäger, dessen Refrain so ging:
Ällegro.
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^^fr^
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Nun, wenn ich von einer Staatsvisite komme oder aus
einem BaUet (wie gestern) oder wenn ich Abends zu Hause
gehe und an die feiosten Redensarten denken sollte, brülle
ich:
4* iSitt:
aus Herzenslust, theilst Du nicht
dies Gefühl? Ich glaube, es haben mich schon mehrere Mün-
chener deshalb für roh gehalten; das bin ich aber nicht, son-
dern habe eine feine Seele und mit der liebe ich Dich."
München, den 26. Juni 1830.
^ Liebe Fanny, sei sehr gegrüsst und nimm meinen
Glückwunsch hin,*) wie Du AUes nimmst, was ich Dir geben
kann, — denke nicht an die Sache, nur an mich, dessen Herz
rosenroth ist; ich bin sehr bei Dir und so werde ich es immer
auch bleiben, mag kommen wie es wolle. Ich hätte Dir gern
') Zur Geburt ihres Sohnes.
Felix in München.
301
ein Lied gescMckt, aber es ist zu schlecht gerathen.*) — Eben
sehe ich es mir noch einmal an nnd denke: Ach was! das
Herz war schwarz, Du verstehst Dich darauf: da ist es
a yiypcK^a^ yiypacpa; ist Dir's zu schlecht, so kann ich nicht
helfen, mir war so, als ich Euren ersten halb ängstlichen, halb
erfreuten Brief bekam:
Con moto agitato. ^^^
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Heft Lieder ohne Worte herausgekommen.
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Felix in München. 305
Den 27teii. Das Lied ist docli so schlecht nicht. Heute
kam Euer froher Brief, der von haldigem Aufstehen und lauter
Angenehmem spricht. 0 liehste Geren! Wenn Ihr so viel
schreibt und so durcheinander und miteinander und grosse
Possen macht — das rührt manchen Landsmann von Euch so
sehr wie Trauerspiele; wahrscheinlich, weil er Euch so genau
tennt. Beckchen soU mir der Hensel malen, wie er will, wenn
es nur göttlich wird, so bin ich zufrieden. Im Ernst aber
möchte ich Dich, o W. H., nicht beschränken, will also weder
liber Stellung, noch über Kranz oder Nichtkranz entscheiden;
aber mach' nur kein Modebild und kein Knallbild; ich möchte
keine feuerspeiende Berge in den Hintergrund und keine dicken
Samimetgewänder, Diademe, Juwelen in den Vorgrund (ich
spreche bildlich), sondern ein stilles, ruhiges, leuchtendes Eben-
bild möcht' ich, durch nichts glänzend, als durch die Wahrheit
innen, ohne jede Romantik oder Historie, die nicht im Gesicht
liegt, und ohne irgend etwas anderes Anziehendes, als wieder
das Gesicht. Dazu taugte, dächt' ich, die einmal gefundene
Stellung nicht bitter; indess mach' es, wie Du willst; und wenn
es ein Gegenstück zu meinem grossen Tizian wird, so sollst
Du belobt sein. Aber einfach und still! — Du siehst, ich sehe
das Bild schon vor Augen; war' es nur wahr!
Was mich nun betrifft, so gehe ich Tag um Tag auf die
Gallerie und zweimal in der Woche Morgens zur Schauroth,
wo ich lange Visiten mache ; wir raspeln grässlich, es ist aber
nicht gefährlich, denn ich bin schon verliebt. Und zwar in
eine Schottin, deren Namen ich nicht weiss. Gestern war
nämlich der Universitätsball, von dem Ihr wisst. Ich wollte,
Ihr hättet mich mit der Frau Rektorin walzen sehen! Schön
war's ! Ein Gartenplatz war gedielt und mit Zeug und Blumen-
guirlandsn bedeckt, da wurde getanzt; die Bäume waren mit
chinesischen bunten Lampen behängt ; als es ganz dunkel war,
kam Feuerwerk, dann ein Transparent, die üniversitas vor-
stellend, dann grosse Illumination ; mein Specieller, der Nuntius,
war auch da, ferner der Erzieher des Herzogs von Bordeaux,
Ml*. Martin, der sich theünehmend nach Tante Jette sehr er-
kundigte und der ihr tausend „Sachen" sagen lässt (denn
Die Familie Mendelssohn. L ^^
306 1830—1834.
wir sprachen französisch), aus einer dunkeln Allee tauchte auf
einmal Hensel's Portrait von Ringseis auf, dem ich mich der
Aehnlichkeit wegen vorstellen liess und der freundlichst nach
AUen fragte, rechts von mir sprachen sie russisch, die schönsten
Bürgermädchen in Ringelhäubchen gingen unter den grossen
Bäumen, weiter oben im Kreis sass der österreichische Gesandte
und die Frau von So und so und Baronin So und so und Saphir
ohne Halsbinde, auch eine Menge ernsthafte Professoren, süsse
Offiziere, Posaunen und Trompeten für die Studentenlieder zur
Begleitung — kurz, das Fest war gelungen und bunt. Ich
ging allein nach Hause, kannte den Weg nicht, ging keck
quer in's Korn hinein, nach der Richtung, wo ich mir die Stadt
dachte, hörte noch von weitem die Tanzmusik und so, auf dem
Fussweg, unter dem hellsten Sternenhimmel zwischen dem
Kom im fremden Lande zu wandern, war doch gar zu hübsch.
Der Weg führte mich auch ganz recht, ich kam an einen
hohen Damm, der an den Ufern der Isar nach der grossen
Brücke zu führte ; der Fluss rauschte tüchtig und vor mir lagen
die Lichter von München ausgebreitet; hinter mir glänzten
fmmer noch die Lampen und Lichter des Balles ; es ist da viel
an Euch gedacht worden. — Aber ich bin heut sehr geschwätzig
und vergesse über eins das Andere ; denn ich woUte eigentlich
nicht vom Ball und meinem einsamen Nachhausegehen sprechen,
auch nicht von den Bürgermädchen in silbernen Hauben, son-
dern ich wollte erzählen, wie man mich der Schottin vorstellte,
wie ich den ganzen Abend englisch mit ihr sprach, wie ich
mich heut morgen höflich bewies und wie wir uns aus Zufall
wieder begegneten. Die Schottin also —
Felix.«
Von München gmg er über Wien, Venedig und Florenz
nach Rom, wo er den grössten Theil des Winters verblieb,
dann nach Neapel; die beabsichtigte sicüianische Reise gestat-
tete sem Vater nicht. Nach abermaligem Aufenthalt in Rom
und Florenz ging die Rückreise über Genua und Mailand nach
der Schweiz, die er im furchtbarsten Wetter grossentheils zu
Rückreise aus Italien. 307
Fuss durchwanderte, und über Südwest-Deutschland. Die „Reise-
briefe" behandeln diese Zeit ausführlich.
Aus Frankfurt schrieb er am 14ten November 1831, als
er nacheinander die Verlobung von Rebecka und den Tod von
Henriette erfahren hatte, an Fanny:
„0 mein liebes Schwesterlein und Musiker!
Heut ist Dein Geburtstag und ich wollte Dir gratuliren
und froh sein, da kamen Eure Briefe über Tante Jette, und
mit der rechten Freude ist es nun wohl vorbei. Gestern kam
die Verlobungsnachricht, heute diese, es geht sonderbar
hin und her. Ich will Dir eins von den neuen unbegreiflich
rührenden Sebastian Bach'schen Orgelstücken schenken, die ich
hier eben kennen gelernt, sie passen zu heut in ihrer reinen,
weichen Feierlichkeit; es ist, als hörte man die Engel im
Himmel singen.
Den 17ten. Ich wollte das Stück schreiben, als ich den
Brief anfing, legte das Papier Abends zurecht, und als ich
Morgens aufstand, war das ganze schon fertig geschrieben,
Schelble war früher aufgestanden, hatte mich davon sprechen
hören und war mir zuvorgekommen. An diesem kleinen Zug
kannst Du Dir mein übriges Leben mit ihm weiter ausmalen;
er beschämt mich jeden Augenblick durch neue Güte, und von
seinem klaren Urtheile lerne ich was. Wollte, Du könntest
mein Leben hier einmal mit ansehn und mitleben, denn es wird
noch lieber durch Philipp Veit, der einer der prächtigsten
Menschen ist, die ich kennen gelernt habe, von einer Liebens-
würdigkeit, Milde und doch Lebhaftigkeit, dass es eine Freude
ist, und ein grosser Maler zugleich. Du solltest eiomal sein
neues Bild sehn. Wir sind meist zusammen, Abends wird m
corpore Musik gemacht, neulich im Cäcilienverein gab Schelble
einige Händel, einen Chor von Mozart, dann „Es ist der alte
Bund* von Bach, das himmlisch klang, das Credo aus der
grossen h-moll-Messe und einen Chor von mir.
Nun spiele diesen Choral mit Beckchen, so lange Ihr noch
zusammen seid und denkt mein dabei. Wenn am Ende die
20*
308 1830-1834.
Ohoralmelodie zn flattern anfängt und oben in der Luft endigt
und Alles sich in Klang auflöst, das ist wohl göttlich. Es
Bind noch viele andere von gleicher Kraft da, aber sie sind
bitterer, heut passt dieser grade und so schicke ich ihn und
grüsse und küsse Dich und Hensel und wünsche, Ihr mögt mir
so bleiben wie ich Euch.
Felix."
Demnächst ging er nach Paris.
Wenn ihm auch natürlich die wundervolle Natur Italiens
und der Anblick der herrlichen Kunstschätze tiefen Eindruck
machte und machen musste, so wird Jedem beim Durchlesen
der Reisebriefe doch sofort klar, dass sein eigentliches Herz im
Norden und zwar speciell in Deutschland war. Dafür ist der
Brief an Zelter aus Paris vom löten Februar 1832 charak-
teristisch, der aus den späteren Auflagen der Reisebriefe be-
kannt ist.
Aber es war nicht aUein der ihm mehr zusagende Zustand
der Kunst, das ihn mehr anheimelnde Naturell der Menschen
in Deutschland, was Felix diesem Lande so entschieden den
Vorzug geben Hess, — auch zu der nordischen Landschaft
fühlte er sich viel mehr hingezogen. So schreibt er aus Flo-
renz: „Den Garten des Palastes (Pitti) habe ich gestern im
Sonnenschein gesehen; er ist herrlich und die unzähligen Cy-
pressen, die dichten Myrthen- und Lorbeerzweige machen
Unsereinem einen seltsamen fremden Eindruck; wenn ich aber
sage, dass ich Buchen, Linden, Eichen und Tannen zehnmal
schöner und malerischer finde als Alles dies, so ruft Hensel j
^Der nordische Bär." — Und in einem Brief an Devrient
schreibt er über die Schweiz: „Alle Träume und Bilder können
Dir nicht eine Ahnung von dem geben, was dies für eine
Schönheit ist. Es ist auch so verschieden von allen Ländern,
AUes so anders, von den Bergformen bis zu den Häusern, dass
man es gesehen haben muss, um sich's zu denken. Wie jeder
Berg seinen eigenen Charakter hat und seine eigene Phy-
Biognomie, finster oder freundlich, alt oder jung, wie man der
ganzen Natur gegenübersteht und alle Jahreszeiten mit einem
Felix' Vorliebe für nordische Natur. 309
Blick sieht, aus dem sommerlichen Thal zu den nackten Felsen
und endlich zum Schnee und Eis mit allen Winternebeln und
Stürmen, und dann wieder, wenn man auf diesem Eise steht,
tief herunter in's grüne Thal mit allen Bäumen und Kräutern.
— Ist denn nicht eine Möglichkeit, dass Ihr die Schweiz ein-
mal sehen könnt ? Denn es giebt einem eine andere Idee vom
lieben Herrgott und seiner Natur und ihrer unermesslichen
Schönheit; jeder Mensch, der es könnte, müsste einmal in seinem
Leben die Schweiz gesehen haben. Wo will da das dürre
Italien hin, gegen diese Lebensfrische und die Kerngesundheit!
Was grün heisst und Wiesen und Wasser und Quellen und
Felsen, das weiss nur einer, der hier gewesen ist. Mir ist
nirgends so ganz frei, so ganz der Natur gegenüber zu Muthe
gcAvesen, als in diesen unvergesslichen Wochen, und ich habe
mir es vorgenommen, wenn ich in meinem Leben einmal wieder
einen Sommer herumschweifen kann, es nur hier in den Bergen
zu thun." — Und er hat Wort gehalten: immer und immer
wieder bis in das letzte Jahr seines Lebens lenkten sich seine
Schritte nach der Schweiz, suchte er Erholung nach den An-
strengungen der englischen Eeisen am Ehein, in den Wäldern
des Taunus; Italien hat er nie wieder betreten.
Mit jenem Brief an Zelter muss man zusammenhalten,
was Felix an seinen Vater aus Paris am 21ten Februar schrieb:
„Es ist nun aber einmal wieder Zeit, dass ich Dir, lieber
Vater, über meinen Eeiseplan ein Paar Worte schreite, und
zwar dieses Mal aus vielen Gründen ernster, als gewöhnlich.
Da möchte ich denn erst einmal das Allgemeine zusammen-
fassen und an das denken, was Du mir vor meiner Abreise
als meine Zwecke hingestellt hast und fest zu halten befahlst:
ich solle mir nämlich die verschiedenen Länder genau betrach-
ten, um mir das auszusuchen, wo ich wohnen und wirken
wolle; ich solle ferner meinen Namen und das, was ich kann,
bekannt machen, damit die Menschen mich da, wo ich bleiben
woUe, gern aufnehmen und ihnen mein Treiben nicht fremd
sei ; und endlich, ich solle mein Glück und Deine Güte benutzen,
um meinem späteren Wirken vorzuarbeiten. Es ist mir ein
freudiges Gefühl, Dir nun sagen zu können, ich glaube, daa
810 1830—1834.
sei geschehen. Die Fehler abgerechnet, die man zu spät ein-
sieht, denke ich diese Deine hingestellten Zwecke erfüllt zu
haben. Die Leute wissen jetzt, dass ich lebe und dass ich
etwas will, und was ich Gutes leiste, werden sie wohl gut an-
nehmen. Sie sind mir hier entgegengekommen und haben
von meinen Sachen verlangt, was sie sonst nie gethan haben,
da sich alle Anderen, sogar Onslow, darum haben melden
müssen. Von London aus hat mich das Philharmonie zum
lOten März einladen lassen, um etwas Neues von mir aufzu-
führen; meinen Münchener Auftrag (eine Oper) habe ich eben-
falls bekommen, ohne den geringsten ersten Schritt zu thun,
tind zwar erst nach meinem Concert. Nun will ich noch hier
(wenn es sich macht) und gewiss in London, falls die Cholera
mich nicht an dem Hinreisen im April verhindert, ein Concert
für meine Rechnung geben und mir etwas Geld verdienen,
damit ich mich auch darin versucht habe, ehe ich zu Euch
zurückkomme, so dass ich hoffe, den Theil Deiner Absicht,
mich den Leuten bekannt zu machen, erfüllt nennen zu können.
Aber auch die andere Absicht, dass ich mir ein Land aufsuchen
solle, wo ich leben möchte, ist mir, wenigstens im Allgemeinen,
gelungen. Das Land ist Deutschland, darüber bin ich jetzt in
mir ganz sicher geworden. Die Stadt aber wüsste ich nicht
zu sagen, denn die wichtigste, zu der es mich aus so vielen
Gründen hinzieht, kenne ich noch nicht in dieser Beziehung —
ich meine Berlin, ich muss also erst bei meiner Rückkunft
prüfen, ob ich da werde bleiben und stehn können, wie ich mir
es denke und wünsche, nachdem ich alles Andere gesehen und
genossen habe."
Felix kam nicht mit leeren Händen aus der Fremde zurück :
aber charakteristisch für seine Richtung, die eben eine durchaus
germanische, nordische, wenn man so sagen darf, war, sind seine
Hauptkompositionen, die er im Süden gemacht: die Hebriden-
Ouverture und die Walpurgisnacht. Beide erinnern in Nichts
an die speciellen Umgebungen, in denen sie entstanden sind;
von Lorbeeren und Orangen umgeben, zog ihn seine Neigung
zu den Wogen des Nordmeeres und in die Eichenwälder Deutsch-
lands. Ueber die Walpurgisnacht spricht er verschiedentlich
Walpurgisnacht. 311
in seinen Keisebriefen, so schreibt er an Devrient: „Ich habe
seitdem wieder eine grosse Musik komponirt, die vielleicht auch
äusserlich wirken kann (die erste Walpurgisnacht von
Göthe). Ich fing es an, bloss weil es mir gefiel und mich warm
machte, und an die Aufführung habe ich nicht gedacht. Aber
nun, da es fertig vor mir liegt, sehe ich, dass es zu einem
grossen Concertstück sehr gut passt, und in meinem ersten
Abonnementsconcert in Berlin musst Du den bärtigen Heiden-
priester singen. Ich habe ihn Dir in die Kehle geschrieben
mit Erlaubniss, also musst Du ihn wieder heraussingen, und
wie ich bis jetzt die Erfahi^ang gemacht habe, dass die Stücke,
die ich mit der wenigsten Eücksicht auf die Leute gemacht
hatte, grade den Leuten immer am Besten gefielen, so glaube
ich, wird es auch mit diesem Stück gehn."
Damit hatte er sich nicht getäuscht. Die Walpurgisnacht
war immer ein grosser Liebling des Publikums, aber fast in
noch höherem Grade ein Liebling der Mitwirkenden. Sie wurde
sehr häufig bei Fanny Hensel aufgeführt, und immer sangen
AUe mit solcher Lust und solchem Feuer, wie bei keiner an-
dern Musik, es war stets ein ganz besonderes Fest, wenn die
Walpurgisnacht vorgenommen wurde. Ihre Töne waren auch
die letzten, die Fanny vernahm — bei eüier Probe derselben
ereüte sie der Tod.
Dass die Walpurgisnacht von ihr oft aufgeführt wurde,
war nur natürliches Gefühl, eiue Art Mutterliebe, denn die
Sonntagsmusiken waren eigentlich Veranlassung zu ihrer Kom-
position. Felix schreibt darüber an seine Schwester: „Ein
Stück dankt diesen Sonntagsmusiken wahrscheinlich schon
seine Entstehung. Als Du mir nämlich neulich davon schriebst,
dachte ich, ob ich Dir nicht etwas dazu schicken könnte, und
da tauchte denn ein alter LiebUngsplan wieder auf, dehnte
sich aber so breit aus, dass ich E. nichts davon mitgeben kann
und es also später nachliefere. Höre und staune! Die erste
Walpurgisnacht von Göthe habe ich seit Wien halb komponirt
\md keine Courage, sie aufzuschreiben. Nun hat sich das
Ding gestaltet, ist aber eine grosse Cantate mit ganzem Or-
chester geworden und kann sich ganz lustig machen, denn am
312 1830—1834.
Anfang giebt es Frülilingslieder und dergleichen vollauf, —
dann, wenn die Wächter mit ihren Gabeln und Zacken und
Eulen Lärm machen, kommt der Hexenspuk dazu, und Du
weisst, dass ich für den ein besonderes Faible habe; dann
kommen die opfernden Druiden in C-dur mit Posaunen heraus ;
dann wieder die Wächter, die sich fürchten, wo ich dann einen
trippelnden, unheimlichen Chor bringen will, und endlich zum
Schluss der volle Opfergesang — meinst Du nicht, das
könne eine neue Art von Cantate werden? Eine Instru-
mentaleinleitung habe ich umsonst und lebendig ist das G-anze
genug.* —
Die Walpurgisnacht wurde übrigens von Felix im Jahre
1842 noch einmal umgearbeitet und erschien dann erst in ihrer
jetzigen Gestalt. Es müssen noch zwei Kuriositäten erwähnt
werden, die in Bezug auf sie sich ereigneten : In einer der Auffüh-
rungen bei Fanny Hensel freute sich ein der höheren Aristokratie
angehöriger und sehr frommer Herr über den schönen ver-
söhnenden und erhebenden christlichen Schlusschor —
der Gute hatte den Gesang der Heiden nach Vertreibung der
christlichen Wächter in diesem ihm mehr zusagenden Sinn auf-
gefasst. — In Oesterreich dagegen strich die Censur die Stelle:
„Mit dem Teufel, den sie fabeln, wollen wir sie selbst er-
schrecken" — und es musste statt dessen gesungen werden:
„Mit dem Teufel, mit dem Teufel wollen wir sie selbst er-
schrecken." Der Teufel gehörte damals in Oesterreich nicht
zu den Fabeln. Es sei hier erwähnt, dass mehrere Briefe, die
Felix aus dem österreichischen Oberitalien mit Noten darin
abschickte, nicht ankamen; sie wurden wahrscheinlich ge-
öffnet und wegen der den Beamten unentzifferbaren Noten-
schrift, in denen sie etwas Hochverrätherisches ahnen mochten,
konfiscirt.
Ausser diesen beiden Hauptwerken brachte Felix noch
manches an Kirchenmusik, sowie einige Lieder mit Worten
und ohne Worte von der Eeise zurück.
Ferner war in dieser Zeit entstanden das g-moll-Concert
für Pianoforte und Orchester in München und das Capriccio
brillant h-moll in London. Und endlich angefangen die grosse
Pie Singakademie wählt Felix nicht. 313
a-dui'-Symphonie, die er in den Eeisebriefen immer die „ita-
liänische* nannte und in Berlin später beendete. Er kam
nicht mit leeren Händen nach Berlin zurück, nm der Vater-
stadt die Frage zu thun, ob daselbst für ihn ein Platz sei zu
tüchtiger Arbeit.
Berlin hat diese Frage verneint, obgleich ein Platz wohl
dagewesen wäre, und ein ausserordentlich geeigneter, zu dessen
Ausfüllung Felix Mendelssohn alle wünschenswerthen Eigen-
schaften in sich vereinigte: Zelter war während seiner Reise
gestorben und die Singakademie sah sich nach einem andern
Dirigenten um. Mendelssohn war Zelter's Liebüngsscliüler ge-
wesen, er hatte ihn verscliiedentlich in der Direktion vertreten,
er hatte durch die Aufführung der Passion schon drei Jahre
früher bewiesen, dass er vollkommen dazu befähigt war; jetzt,
nach einer Eeise durch fast ganz Europa, auf der er überall
mit offenen Armen aufgenommen war und seinen Namen weit
über die Grenzen des Vaterlands bekannt gemacht hatte, kam
er zurück und die Singakademie konnte ihn haben, wenn sie
wollte: er war sogar bereit, die Dii-ektion mit Eungenhagen
gemeinsam zu führen, eine Stellung, w^elche ihn diesem gewisser-
massen untergeordnet hätte. Die Akademie aber wählte mit
überwältigender Majorität Eungenhagen, und wie Devrient in
seinen „Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy" sehr
richtig bemerkt, sie war damit auf eine lange Eeihe von Jahren
zur Mittelmässigkeit verdammt, nur gut, um einem neuer-
stehenden Gesangverein als Folie zu dienen.
Felix verlebte den ganzen Sommer 1832 und den darauf
folgenden Winter in Berlin und gab mehrere Concerte; in dem
einen wurden die Hebriden-Ouverture und die Walpurgisnacht
aufgeführt. Das Leben in der Familie war reizend: alle Feste^
Weihnachten, die Geburtstage von Abraham, Lea und Felix
wurden durch Aufführungen verherrlicht. Das war Alles selir
hübsch, aber in der Hauptsache, dem Versuch, in Berlin festen
Fuss zu fassen, war es doch ein verfehltes Jahr mit vielen
Enttäuschungen. Da er und sein Vater in der üeberzeugung
einig waren, dass er nicht als blosser Musiker, sondern mit
einer festen Stelle, einem bestimmten Wirkungskreis leben
314 1830—1834.
müsse und ausser jener Direktorschaft nichts derartiges in
Berlin frei war, es sich überhaupt mehr und mehr heraus-
stellte, dass dort nicht das geeignete Feld für ihn sei, so war
es leider! klar, dass er ein anderes suchen müsse; das war
eine schmerzliche Wahrheit, die sich Allen aufdrängte. Nicht
in Berlin bei den Schwestern komponiren und es den Leuten
draussen aufführen und dann wieder „nach Hause" zurück-
kehren und komponiren, wie er's in jenem Briefe an Eebecka
sich vorgenommen hatte — nicht so sollte fortan das Leben
werden, — sondern das „zu Hause" soUte er sich draussen
bei den „Leuten" suchen und dort komponiren und höchstens
hin und wieder zum Besuch nach dem alten Hause kommen
und, wenn's Glück gut war, aufführen, was er anderswo ge-
schrieben. Das wurde noch ein anderer Abschied, als er jetzt
Berlin verliess, als damals vor den Reisen nach England und
Italien, es war ein Abschied für's Leben. Und Vater und
Mutter wurden älter — v/ie oft konnten sie noch hoffen, den
Sohn zu umarmen! — Dass unter den unangenehmen Ereig-
nissen dieser Zeit auch die Produktionskraft Htt, ist natürlich.
Von bedeutenden Kompositionen aus diesem Berliner Aufenthalt
ist nichts zu erwähnen. Und solcher Mangel an Produktivität,
wie er aus der Stimmung entstanden, wirkte auch wieder auf
die Stimmung zurück.
Im April des Jahres 1833 reiste er von Berlin ab und
ging zunächst nach Düsseldorf, wo sich nun die Fäden an-
knüpften, die zu seinem dauernden Aufenthalt daselbst führen
soUten. Wir wissen, wie ilm das ganze Wesen und Leben,
das künstlerische Treiben in Düsseldorf bei seinem Aufenthalt
daselbst auf der grossen E-eise angezogen hatte. Jetzt wurde
nun zunächst verabredet, dass er das grosse Düsseldorfer
Musikfest des Jahres 1833 dii'igiren soUe. Die Zwischenzeit
benutzte er zu einem Ausflug nach England, wo seine italiä-
nische A-dur- Symphonie mit grossem Erfolg im Philharmonie
gegeben wui^de. Dann ging's zurück nach Düsseldorf zum
Musikfest. Felix hatte das Glück gehabt, die Originalpartitur
von Israel in Egypten aufzufinden und die Aufführung dieses
Werkes soUte das Hauptstück des Festes sein. Abraham ging
Düsseldorfer Musikfest. 315
dazn nach Düsseldorf und wir haben in einer ganzen Reihe
von Briefen von ihm an seine Frau einen ausführlichen Be-
richt über das Fest und eüie sich daran schliessende Reise
von ihm und Felix nach England. Einiges aus diesen Briefen
möge hier eine Stelle finden.
Düsseldorf, den 22. Mai 1833.
„Da Du erst ganz vor Kurzem Voltaü^e's Romane gelesen
hast, so wirst Du Dich erinnern, mit welchen Vorsätzen der
weise Memnon des Morgens ausging und wie consequent er
solche bis zum Abend ausgeführt hatte. Nun bin ich zwar
nicht der weise Memnon, aber doch der Sohn des weisen Men-
delssohn, und da ich Felix aufgetragen hatte, mir eine Woh-
nung teile quelle zu besorgen, wenn ich sie nur bezahlte, dies
sei eine conditio sine qua non — so folgt ganz natürlich daraus,
dass ich jetzt bei Herrn von Woringen Vater in einem seiner
schönsten Zimmer wohne, eben bei ihm zu Mittag gegessen
habe und jetzt, da ich mich hinsetze zum Schreiben, mir der
alte vierundsiebenzigjährige Präsident selbst eine Karaffe frischen
Wassers aufs Zimmer bringt, seine Bedienten oder Mädchen
habe ich noch nicht mit Augen gesehen. Die Sache ging so
zu: Ich fuhr in fürchterlicher Hitze, müde und sehr herunter,
auf Düsseldorf zu, bemerkte ein Gebäude, welches ich nach
der Beschreibung für den Musiksaal hielt, als mich Jemand
sehr freundlich grüsste und auf den Wagen zuging. Ich lasse
halten, kenne den Mann nicht und sage daher ganz getrost:
„Guten Tag, Herr von Woringen!" denn kein anderer mir
unbekannter Mensch konnte mich in Düsseldorf kennen, als
eben dieser. Er erzählte mii', Felix habe in keinem einzigen
Wirths- oder Privathause mehr em Logis für mich finden
können und ich müsste schon bei seinem Vater wohnen. Ich
schlug dies beharrlich ab, er aber blieb noch beharrlicher dabei
und sagte unter anderm, das Zimmer, welches Felix meinem
bestimmten Wunsche nach doch einstweilen genommen, sei in
einem schmutzigen Hause etc. Nun war ich selbst so
schmutzig von dem fürchterlichen Staube der beiden letzten
316 1830-1734.
Tage, und mir selbst so zum Ekel, dass jenes Wort meine
ganze Widerstandskraft brach; zugleich musste das Gespräch
auf der Landstrasse doch ein Ende nehmen, Woringen hatte
sich in den Wagen hineingedi'ängt, ich Hess mir eine dowe
violence anthun — und wohne hier. Ich würde es vergeblich
versuchen. Dir von der wirklich unglaublichen Freundlichkeit
und wahi'haft antiken Gastfreundschaft einen Begriff zu machen,
mit der ich von diesen Leuten povo' les heaux yeux de — mon
fils behandelt werde ; und ich kann nicht leugnen, dass ich dem
Zufall, welcher mich Woringen auf der Strasse treffen und ihn
mich erkennen Hess, herzlich dankbar bin für die ungemein
comfortable Existenz, die ich hier geniesse. Reiseerzählungen
mancher Art und sonstiges Erlebte später, für jetzt nur von
Felix und dem Fest. Felix war eben in der Probe, als ich
ankam. Woringen war gleich hingelaufen, ihm dies anzukün-
digen, und mit besonderem Triumph, dass ich bei ihm wohne,
welches Felix gar nicht glauben wollte. Nach einiger Zeit
kam er denn an, und ich kann es Dir allerdings weder ver-
schweigen, noch leugnen, er hat mir vor Freude die Hand ge-
küsst. Er sieht sehr wohl aus, hat sich aber, wenn mich mein
Auge nicht ganz trügt, in der kurzen Zeit wieder sehr ver-
ändert; sein Gesicht ist noch marquirter, alle Formen schärfer
geschnitten und herausgetreten, dazu die Augen wie sonst,
und das macht Alles zusammen einen ganz eigenen Effekt ; es ist
mir ein solches Gesicht noch nicht vorgekommen. Es ist aber mir
auch noch nicht vorgekommen, einen Menschen so auf Händen
getragen zu sehen, wie Felix hier; er selbst kann den Eifer
aller zum Fest Mitwirkenden, ihr Zutrauen zu ihm nicht genug
rühmen, und, wie überall, setzt er Alles durch sein Spiel und
sein Gedächtniss in Erstaunen und Bewegung. So hat er es z. B.
nur dadurch bewirkt, dass eine früher angesetzte Beethoven'sche
Symphonie, welche schon einigemal hier gespielt wurde, auf-
gegeben und die Pastoral-Symphonie (mir wird brühwarm, wenn
ich bedenke, dass ich solche übermorgen in der fürchterlichen
Hitze werde hören müssen) an die Stelle gesetzt worden, dass
er dieselbe, als die Rede davon war, nicht allein sofort aus-
wendig spielte, sondern für den Tag darauf, als eine kleine
Düsseldorfer Musikfest. 317
Probe davon gemacht wurde und keine Partitur da war,
sie auswendig dirigirte und die ausbleibenden Instrumente
mitsang etc.
Das Drängen und Treiben zu diesem Fest ist allerdings
etwas Eigenes und Erfreuliches ; aus Holland kommen die Leute
und eine Hauptsängerin z. B. aus Utrecht. Dass in der Stadt
kein Platz mehr ist, ersehe ich zu meiner Freude, denn es
gefällt mir sehr hier im Hause. Dasselbe ist ein Hauptpfeiler
des ganzen musikalischen Wesens hier, und der Vater, wie
gesagt, vierundsiebzig Jahre alt, singt tapfer im Tenor mit.
Gestern (ich schrieb dies Alles nämlich heute, einen Tag später
als gestern und glaube auch, meinen Brief falsch datirt zu
haben, denn gestern war wohl der 20te), nachdem ich bei
Woringen zu Mittag gegessen, kamen Kaffeevisiten, die Decker,
die Schadow u. A. Nach dem Kaffee wurde eine Landpartie
gemacht, von der ich mich aber ausschloss, weil ich zu müde
war und zu schreiben anfangen wollte. Felix hatte bei dem
Prinzen dinirt und kam mit Immermann zurück, mit dem ich
ein langes Gespräch hatte. (Felix sagte, dieser Besuch sei
eine hohe Ehre und Immermann für stolz bekannt.) Dann
blieb ich einige Stunden mit Felix allein ; nachher wurden wir
zum Thee gerufen, und ich glaubte mich wirklich zu Hause.
"Wir waren mit der Familie, einem Thee und einem Butter-
brod ganz allein und wir gingen erst um elf einhalb Uhr
auseinander.
Heute Vormittag ist hier Probe am Klavier von den
Solosachen im Israel, Nachmittags um 3 Uhr Hauptprobe des
ganzen Israel, welche, wie Felix meint, bis gegen acht Uhr
dauern wird (ich werde schwitzen wie auf dem Rhigi, denn
da sie hier die gescheite Einrichtung getroffen, dass Jeder,
welcher sein BiUet zu der Aufführung genommen und be-
zahlt hat, für zehn Sübergroschen ein Probebillet be-
kommen kann, so wird dieselbe fast so voll, als die Auf-
führung.) — Morgen ist Vor- und Nachmittag Probe, Sonntag
und Montag die Concerte, Dienstag ein grosser BaU und
dann noch ein drittes Concert, in welchem, hoffe ich, alle fünf
oder sechs Beethoven'schen Symphonien hinter einander gegeben
318 1830-1834.
werden, die Decker singen, Felix spielen und dann noch einiges
geschehen -svird. Ich werde vorschlagen, solches nm zehn Uhr
Abends anfangen und die ganze Nacht hindurch dauern zu
lassen. Es hat Manches für sich. Erstens ist es jetzt nur
Nachts erträglich (daher ich mir vornehme, sie zur Besich-
tigung der Ateliers zu benutzen, da wir wieder Mondschein
haben), dann ist es nur natürlich und Niemandem übel zu neh-
men, wenn man einschläft, wozu die Nacht denn doch gemacht
ist; so würde sich Natur und Kunst in die Hände arbeiten,
ich würde dann zur Einleitung oder als Ouvertüre zu den
Symphonien den ersten Chor aus dem „Doctor und Apotheker"
erwählen, und wenn dann die Decker die Arie aus dem Frei-
schützen (mit der sie hier Furore macht), sänge, so würde
ein Jeder sich bei: „Welch schöne Nacht" denken oder träumen
lassen können, was ihm gefiele; ich würde ein solches Concert
als Gegensatz zum Dejeuner dansant — Concert dormant nennen;
die nähere Ausarbeitung dieser Ideen überlasse ich dem Comit6
für schlechte Witze in der Leipzigerstrasse Nr. 3.
Düsseldorf, Pfingstsonntag 1833.
„Wenn mich etwas gereuet, so ist es nicht, hierherge-
kommen zu sein, sondern keinen von Euch bei mir zu haben,
denn ein Musikfest am Ehein ist ein schönes und eigenes
Ding; es ist ein Ereigniss, nur von der Musik zu veranlassen
und nur in diesem Lande möglich. Die ungeheuer kompakte
Bevölkerung dieses Landstrichs, vielleicht die dichteste in
Europa, der rasche, rege Gewerbfleiss, welcher sie zusammen-
drängt, haben zu ihren Zwecken zahllose Transportmittel zu
Wasser und zu Lande veranstaltet, und alle sind für diese
zwei Tage in Anspruch genommen; seit vorgestern bringen
Dampfboote, Eilwagen jeder Art, Extraposten, eigene Equipagen,
ganze Familien aus allen Gegenden bis zu zwanzig Meilen in
der Runde, einzelne auch weiter, z. B. einige aus Breslau her;
alle diese Leute sind gewöhnt, das Vergnügen auch als ein
Geschäft zu betrachten und lassen sich daher aufs Eifrigste
angelegen sein, sich möglichst zu amüsii-en, alle ihre Kräfte
Düsseldorfer Musikfest, 319
aufzubieten, dass das Vergnügen reussire; dadurcli wii'd es
denn auch nur allein möglich, dass eine solche, nach und nach
angeschwemmte und angefahrene Masse sich zu einem Ganzen
büdet und theilweise Ausserordentliches leistet. Denk Dil*,
dass gestern und vorgestern von früh acht bis Abends neun
mit geringen Unterbrechungen für Pausen und Mttagessen,
gestern Abend sogar bis zehn Uhr probirt wurde, dass heut,
am Tage der ersten Aufführung (Felix' Ouvertüre und Israel),
von acht Uhr Morgens bis gegen zehn Uhr Instrumentalprobe
ist, von elf Uhr bis, ich weiss nicht wie lange, Solosachen hier
im Hause probirt werden, dass bei allen diesen Proben kein
einziger Freiwilliger fehlt und aUenfallsige Störungen nur von
den bezahlten Blaseinstrumenten (sie repräsentiren unsere
Ivönigl. Kammermusiker) veranlasst werden, und dass aUe
diese Leute in der fürchterlichen Hitze diese schwere Arbeit
gewissenhaft und lustig verrichten, um sich zu amüsiren.
Zu diesen aktiven Beförderungsmitteln kommen nun auch
viele hier fehlende Hemmungen. Es giebt hier keinen Hof,
keine Einmischung oder Einstörung (kommt her von Einfluss)
von Oben, keiuen General-Musikdirektor, keine Königl. Dies
oder Jenes. Es ist ein wahres Volksfest, daher ich auch bis
jetzt keinen Polizeimann oder Gensd'arm bemerkt habe, und
der Magistrat die Wege bis zum Concertsaal — er liegt
ausserhalb der Stadt — mit Feuerspritzen reichlich besprengen
lässt. Aber auch das Lokal selbst trägt viel zur eigenthüm-
üchen Gestalt des Ganzen bei.
An der Landstrasse von Berlin, etwa zweitausend Schritt
vor der Stadt, in einem grossen, schattenreichen, zu einer Gast-
wirthschaft gehörigen Garten, ist ein Saal von eiuhundertfünf-
unddreissig Fuss Länge, etwa siebenzig Fuss Breite und leider
nur siebenundzwanzig und eiuem halben Fuss Höhe (offenbar zehn
bis fünfzehn Fuss zu wenig) hineiugebaut, ganz ohne alle und
jede Verzierung und — ich erröthe — geweisstü — *) Es
ist allerdings unbegreiflich, dass in einem geweissten Saal
*) Eine Neckerei für Hensel, dem geweisste Wände ein
Greuel waren.
820 1830—1834.
Mnsik klingen kann, aber es ist wirklich wahr. Der Saal
fasst ungefähr eintausendzweihundert bis eintausenddreihundert
Menschen; ein Drittheil davon ist für Orchester und Chor ab-
getheüt, den übrigen Theil füllen Reihen Stühle, welche aber
am Boden befestigt und numerirt sind; ich halte dies für
besser, als mit Nummern bezeichnete Plätze auf Bänken.
Während der Pausen, welche hier länger als bei uns
dauern (z. B. wird die Pause zwischen dem ersten und zweiten
Theil von Israel heut Abend wohl wenigstens eine halbe Stunde
dauern), stürmt Alles in den Garten, Massen von Butterbroden,
Maitrank, Selterwasser, saurer Milch u. s. w. werden, um denn
auch dem Gastwirth ein Musikfest zu geben, an grossen und
kleinen Tischen von Einzelnen und Gesellschaften verzehrt,
und das Ganze sieht einer Kirmess gar sehr ähnlich. In-
zwischen werden in dem Saal Thüren und Fenster geöf&iet,
und wenn die Luft gehörig erneut und die Pause abgelaufen
ist, ertönt vom Orchester in den Garten hinein ein starker
Tusch, worauf denn Alles wieder rasch und lustig in den
Saal hineinzieht; etwa Säumige oder noch Durstige ruft ein
zweiter Tusch und Israel schreit wieder zum Herrn. So war
es des Vormittags und des Abends in den Proben, von denen
ich keine einzige versäumt habe.
Ueber Nacht aber hat sich das Wetter plötzlich sehr ab-
gekühlt, es hat ein wenig geregnet, der Himmel ist heute grau
und drohend, so dass jene schöne unordentliche Ordnung heute
Abend wohl gestört werden dürfte. Da nun aber zu einem
Musikfest ein Direktor gehört, so muss ich wohl noch Einiges
von dem diesjährigen, dem hiesigen Herrn Felix (er heisst auch
hier kaum anders), erzählen. Liebes Kind! Wir erleben
einige Freude an diesem jungen Mann, und ich denke manch-
mal, Martens Mühle soU leben 1 *) — Er hat wirklich ein unge-
heures Stück Arbeit, aber er vollbringt es mit Lust, Kraft, Ernst
undGewandheit und thut wirklich Wunder ! — Mir wenigstens er-
scheint es oft als etwas Wunderbares, dass vierhundert Menschen
aUer Geschlechter, Stände und Alter, wie der Schnee zusammen-
*) Siehe oben Seite 87.
Düsseldorfer Musikfest. 321
geweht, sich von einem der Jüngsten von ilmen, allen fast zum
Fi^eund zu jung, ohne Titel und Würden, wie die Kinder
führen und regieren lassen. So ist ihm unter Anderm durch
eine einzige feste Anordnung (wenn er nur noch seine Aus-
sprache verbesserte, so wüi'de es mit dem Reden sonst ganz
gut gehn) gelungen, was meines Wissens bis jetzt noch keinem
Dirigenten ii'gendwo, nämlich das abscheuliche, mii' von jeher
in den Tod widerliche Stimmen abzuschaffen. Am ersten Probe-
tag wüthete dieses Charivari ganz toll, denselben Nachmittag
redete er sie an und untersagte es ihnen, als Einzelne darauf
versuchten zu recidivii^en , verbot er es aufs Ernsteste, und
jetzt habe ich nicht einen Ton stimmen gehört. Ferner war
es hier, bei dem successiven Eintreffen Fremder von allen
Punkten, die sich im Orchester meist zum ersten Mal treffen
und dort mit den hiesigen Freunden zusammenkommen, früher
zur Mode geworden, das Orchester zugleich als Parloir zu be-
nutzen ; es wurde ungeheuer viel geschwatzt, die Proben gingen
schlecht, der Dirigent musste sich die Lunge ausschreien und
wurde nicht gehört; und da bis zur Stunde der Aufführung
immer neue hinzukamen, so wurde die Störimg unleidlich.
Nachdem Alles dies am ersten Probetage sich wieder zugetragen
hatte, stellte ihnen Felix vor, dass er sich das nicht gefallen
lassen könne, dass er weder schreien könne noch wolle, dass
sie ihn hören müssten, und dass er auf die unbedingteste
Stille und Euhe im Orchester, während er spräche, rechnen und
halten müsste. Nachdem er auch dieses ein zweites Mal sehr
emst und bestimmt wiederholt hatte, versichere ich Dich, dass
ich eine pünktlichere Befolgung einer Anordnung nicht gesehn ;
es leuchtet ihnen ein, dass es nothwendig und richtig sei, und
sowie er nun aufklopft und etwas sagen will, hört man ein
allgemeines „Pst" und es ist tiefe Stille. —
Dadurch hat er nun auch bewii'kt, dass, zum ersten Mal,
wie man mich allgemein versichert, Nuancen in Chor und Or-
chester hineinkommen, was sie wieder Alle erfreut und ihi'en
Leistungen in ihren eigenen Augen und Ohren einen höheren
Werth beilegt. Gestern Vormittag war eine vorläufige Probe
von „Winter's Macht der Töne", es waren nur wenige Zu-
Die Familie Mendelssohn. I. 21
322 1830—1834.
hörer gegenwärtig ; die Decker aber sang eine tüchtige Bravour-
Arie so ausserordentlich schön, dass Zuliörer und Orchest-er in
lebhaftes Applaudissement ausbrachen. Gestern Abend war
Generalprobe von Felix' Ouvertiu'e und Israel. Der Saal war
gepfropft voll. Die Ouvertüre gefiel sehr; aber der letzte
Chor des ersten Theils „Er gebeut der Meeresfluth — und sie
trocknete aus" und dann der erste des zweiten Theils mit
seinem furchtbaren Schluss: „Eoss und Reiter hat er in das
Meer gestürzt", erregten unter den Hörern und Ausführern
einen so Ungeheuern Jubel, eine Aufi'egung, wie sie mir selten
vorgekommen, es dauerte eine Viertelstunde, ehe Alles wieder
in's Geleis kam. Und dies in einer bezahlten Generalprobe ! —
üebrigens gehen die Chöre ganz vortrefflich, doch scheinen mir
die Männerstimmen zu überwiegend, die Maler singen alle mit
und schreien nicht schlecht.
Sie glauben hier, Felix habe die Ouvertüre für das Fest
geschrieben und finden sie ausserordentlich charakteristisch dem
Oratorium angepasst; merkwürdig genug ist, dass der Zufall
es so fügt, dass ich mir wirklich keine bessere Ouvertüre zu
Israel -wünsche."
Düsseldorf, den 28. Mai.
„ Gestern Abend war es schön: die Symphonie pa-
storale ging ganz vortrefflich, darauf eine Cantate von Wolff
tödtlich langweilig, dann Leonore allgemein hinveissend und
einschlagend. Darauf Pause von dreiviertel Stunden, der ganze
Garten kribbelnd und wibbelnd voll; meine Hausleute begeg-
neten mii', und der alte Präsident, eine Flasche Maitrank in
der Tasche und ein Glas in der Hand, schenkte mir ein und
labte mich. Tusch im Saal. Der Strom wälzt sich zurück,
"^ür den Augenblick, da Felix vor sein Pult trat, hatte das
Orchester, selbst erstaunt und erfreut über seine eigenen Lei-
stungen, einen neuen Tusch verabredet, in welchen diesmal der
ganze Saal laut und lang mit einstimmte. Winter's Macht der
Töne ! Eine der beiden Woringen, ein ganz charmantes Mäd-
chen, hat in zwei Worten über WolfiTs Cantate und Winter's
Düsseldorfer Musikfest. 323
Macht alles erschöpft, was sich darüber sagen lässt: „Ueber
die Macht der Töne kann man sich doch ärgern, aber bei der
Cantate muss man einschlafen." Doch erregte die Decker mit
ihrer Bravour-Arie grossen Jubel. Inzwischen aber hatten die
Mädchen, ich glaube auch die Frauen des Chors, sich jede mit
einem Vorrath Blumen bewafinet und die junge Woringen ein
Sammetkissen mit einem Lorbeerkranz wähi-end der ganzen
zweiten Abtheilung auf ihrem Schooss unter der Schürze ver-
steckt. Im Moment also, da Felix hinabstieg, empfing er die
Blumen-Salve und soll (wie mir erzählt wurde, denn ich sass
nach hinten und habe daher gar nichts gesehen, von der Sache
selbst aber keine Silbe voraus erfahren) ein halb verwundertes,
halb böses Gesicht gemacht haben, als ihm die ersten Bouquets um
den Kopf flogen: Nun ^vurde er wieder hinauf gedrängt und die
älteste Woringen wollte ihm den Kranz aufsetzen. Darauf soll
er sich im eigentlichsten Sinne bis auf die Erde gebückt haben,
um dem zu entgehen. Aber ein grosser starker Mann (Keiner
von den starken Männern aus Potsdam) aus dem Chor hob und
hielt ihn auf, und er musste den Kranz, der ihm, nachdem er
ihn vieimal abgenommen, zum fünften Male aufgesetzt worden,
unter fortwährendem Tusch des Orchestei*s und Applaus des
Chors und der Zuschauer eine Zeit lang tragen und er soll ihm
gut gestanden haben.
Wir sollten uns nach dem Concert alle wieder bei Scha-
dow's versammeln, ich wollte aber zu Hause, um mich nicht
zu übermüden ! Doch der weise Memnon blieb consequent, wie
immer: Im Herausgehen, oder vielmehr Geschobenwerden kam
ich mit Schadow zusammen und da war keine Rede mehr von
nach Hause gehen. Schadow sagte mir, er habe mir etwas
Dringendes mitzutheüen , ich gab im Gedränge der Madame
Schadow den Arm, weil er den Wagen suchen wollte, dieser
war nicht zu finden, so wenig wie Schadow selbst und so
brachte ich Madame Schadow zu Fuss in ilir Haus. Dass die
Aufregung der Scene im Concert mit dazu beitrug, meine
Weisheit zu Schanden zu machen, ist gewiss. Es ging Andern
nicht besser, denn kaum bei Schadow angekommen, folgten die
Andern und mit ihnen die älteste, etwas kränkliche, Lorbeer
21*
324 1830—1834.
ertheilende Woringen, mit der ich mich engagtrt hatte, uns zu
Hause zu treffen, und da wir uns nun hei Schadow trafen,
lachten wir uns aus und waren unseres Wortes quitt. Hier
ging nun die tolle Wii'thschaft von Neuem los: Einer fing an
auf dem Ciavier: „Seht, er kommt mit Preis gekrönt," zu
spielen, und Felix musste seinen Kranz wieder aufsetzen und
ein Paarmal in Procession durch die Zimmer ziehen. Kaum
war darauf eine Tasse Thee herunter, als Tische und Stühle
hei Seite geschohen wurden und das tollste Walzen und Galop-
piren losging. Felix musste anfangs spielen, wurde aber dann
abgelöst und tanzte lustig mit. Mme. Decker meinte, er könne
wohl nicht tanzen und sei zu ernsthaft und mit zu vielen
anderen Dingen beschäftigt; er überzeugte sie aber bald vom
Gegentheil, und sie sagte mir, als sie sich zum ersten Mal
ausruhte: „Felix (ich glaube schon geschrieben zu haben, dass
der kleine Toffel*) auch hier seinen Namen beibehalten hat)
tanzt ja ganz vortrefflich." Das tolle Wesen stieg nun immer
mehr und mehr, als wir uns zusammensetzten, um aus der
Hand Butterbrod zu essen, zu welchem Schadow Massen von
Aleatico und Vino Santo hergab; ich hatte mir zum Glück
nicht vorgenommen, nicht zu trinken und trank daher nicht;
Felix auch nicht. Nun ging es an ein Rundsingen und aus
vollem Halse schreien. Alles musste mit, und als wir zu Hause
kamen, war es zwei Uhr nach Mitternacht. Was Schadow zu
sagen hatte, bestand darin, dass ich ihm rathen solle, was das
Comit6 für FeKx zum Andenken wählen könnte. Sie hatten
für ihn die Loos'sche Medaille in Gold prägen lassen, die gefiel
ihnen aber nicht und sie wollten sie behalten, Einige hatten
nun einen Brillantring proponirt, Andere Händel'sche Partituren,
ich war entschieden gegen den Ring, mehi- für die Musik,
meinte aber, es sei das Beste, dass ich Felix selbst frage, was
Schadow auch sehr gut fand. Ich frug Felix auf der Stelle,
und er erbat sich ein Petschaft, so eingerichtet, dass er es
zum täglichen Gebrauch nehmen könne. Schadow fand die
Wahl sehr richtig und zv/eckmässig , und so wird ihm nach
*) Anspielung auf Lichtwer's Gedicht: „Der kleine Toffel"
Düsseldorfer Musikfest. 325
einer Zeichnung von Schadow in Berlin, wo jetzt ein sehr
geschickter Steinschneider leben soll, ein Petschaft geschnitten
werden.
Gestern früh in der Probe hatte Woringen dem Orchester
und dem Publikum angekündigt, dass sie zum ersten Mal seit
der Existenz der Musikfeste ein drittes Concert zu geben beab-
sichtigten, und der Vorschlag, welcher im Comite grossen
Widerspruch erfahren, weil er neu war, und man fürchtete, es
werde misslingen, wurde allgemein mit dem grössten Applaus
aufgenommen, weil die Decker singen, Felix spielen und der
zweite Theil von Israel noch einmal gehört werden sollte.
Proben waren nicht nöthig und so wurde denn gestern um elf
Uhr (ich schreibe nämlich dies heute, den 29ten Mai) das Con-
cert nach folgendem Programm gegeben:
Erster Theil: Felix' Ouvertüre, Scene aus dem Freischütz
(Mme. Decker), Concertstück von Weber (Felix), Arie aus dem
Figaro (Mme. Kufferath).
Zweiter Theil: Ouvertüre zu Leonore. Der zweite Theil
von Israel.
Die Ausfülu'ung war durchaus trefflich, Orchester und
Chöre wetteiferten auf eine wirklich begeisterte Weise, und
der letzte Chor von Israel wurde, ich kann es nicht anders
nennen, rasend execntirt. FeUx erschien erst um elf einhalb
Uhr, was mich zu beunruhigen anfing (Ihr wisst, dass wir nicht
zusammen wohnen), als er aber kam, wui'de er sofort mit drei-
fachem Tusch empfangen, und als er gespielt hatte, donnerte
der Saal und vor Allem Chor und Orchester. Alle Gesangs-
stücke wiTi'den blos durch ihn am Ciavier begleitet, imd obschon
er auf diese Weise während des ganzen Concerts unablässig
und auf die mannigfaltigste Weise in Arbeit, und wie ich nach-
her erfuhr, die Nacht unwohl gewesen und daher so spät ge-
kommen war, hinderte ihn dies nicht, an einem Diner, welches
im Garten arrangii^t worden und bei welchem ihm die Kölner
ein Gedicht überreichten, sodann an der allgemeüien Landpartie
(zu welcher in ganz Düsseldorf kein Pferd und Wagen, selbst
keine Postpferde mehr zu haben waren) und endlich Abends
am Ball Theil zu nehmen.
326 1830-1834.
Ich aber fühlte mich gleich nach dem Concert so ermattet,
so ausserordentlich angegriffen, dass ich, mühselig nach Hause
gelangend, an garnichts mehr Theil nahm, seit vierundzwanzig
Stunden mich ausruhe, um heute hei dem grossen Diner nicht
zu fehlen. Zu diesem wurde ich gestern durch eine Deputation
des Comit6 feierlichst eingeladen, sie hatten mich gestern im
Hause aufgesucht, und da ich schon fort war, so folgten
sie mir in's Concert, wo denn während der Pause die Ein-
ladung erfolgte. Ich bin also von jetzt an der Stadtrath und
Eingeladene.
Der musikalische Theil des Festes hatte also gestern ge-
endet und heute wird dasselbe schliesslich ausgegessen. Es
waren ein Paar sehr schöne, mir unvergessliche Tage, welche
der Zufall mir vergönnt und durch den Aufenthalt hier im
Hause erst recht erhöht und geschmückt hat, die ich zunächst
Felix, dann Euch, die Ihr mich dazu beredet habt, schuldig
und dafür sehr dankbar bin. Ueber das hiesige Haus kann
ich Euch nur erzählen, schreiben lässt sich nicht, was mir
hier ward, und seit 1813 im Hause der Tante Arnstein in
Wien habe ich nichts erfahren, was sich damit vergleichen
lässt. Und doch hat ja auch die Bigot gelebt, deren Mutter
Felix krank in ihr Haus genommen. Gastfreundschaft ist eine
göttliche Sache und dass man solche in grossen Städten nicht
ausübt, vielleicht nicht ausüben kann, brandmarkt diese. Ich
kann es wahrhaftig Zeune nicht mehr verdenken, als er, von
einer Reise in diese Gegenden zurückkehrend, ganz Deutsch-
land aufforderte, eiuen Bund der Gastfreundschaft zu scMiessen
und ärgere mich über mich selbst, dass ich in meiner gross-
städtischen Verstocktheit dies bloss lächerlich fand. Freilich,
wo sollte es herkommen? die einzige Veranlassung zu prak-
tischer Ausübung jener göttlichen Gastfreiheit giebt uns der
Hof, indem er uns das Gefolge seiner eigenen Gäste zur Auf-
nahme in die Freihäuser schickt ; wir aber sagen mit Fug und
Recht zu solchen Gästen: „Drei Schritt vom Leibe!" — und
geben der Freihäuser-Kommission Vollmacht, in unserem Nameu
gastfrei zu sein. — Es ist ein langes Kapitel. Von morgen
an besehe ich hier Alles, was zu sehen ist, bespreche mich mit
Düsseldorfer Mnsikfest. 327
Felix über seine Zukunft, welche sich nach meinen Wünschen
gestalten zu wollen scheint, und Sonntag oder Montag geht
es fort von hier. Ich nehme eine Pflicht des Dankes und die
unlösbarste Verbindlichkeit gegen meine Wrrthe mit, deren
Ei'füllung mir leichter sein wird, als die Erwiderung auch nur
eines Theiles des Guten, welches ich hier genossen. Möge uns
das möglich werden gQgi^n einen der Söline des Hauses, welcher
in Kurzem als Privatdocent m der juristischen Facultät zur
Universität nach Berliri geht.
Düsseldorf, 31. Mai 33.
„Das musikalische Freudenfeuer ist ausgebrannt und es
steigen aus der Asche mu' noch wenige Funken, desto mehr
aber Rauch in höchsten, hohen und bürgerlichen Privatcirkeln
auf, von denen wenig zu melden ist. Zu den ersten bin ich
nicht gezogen worden, von den zweiten halte ich mich zurück,
w^eü ich sie für langweilig halte, in den letzten geht es, wie
schon beschrieben, sehr lustig und toll her ; doch sind wir Alle
müde, nur der Katzenjammer nicht.
Das vorgestrige Diner ist ganz gut abgelaufen. Vor
einer aus musikalischen Instrumenten und Emblemen sehr zier-
lich und geschmackvoll aufgebauten Trophäe sass vor der
Mitte des Tisches Felix zwischen den Damen Decker und
Kufferath. Nach der Gesundheit des Königs brachte Schadow
die Felixens mit einigen sehr schön klingenden und sehr klin-
gend gesprochenen, ehrenvollen und ernsten Worten aus. Dem
folgten bald sehr viele Toaste, es wurde am untern Ende des
Tisches überlaut und lärmend, so dass der Theil der Gesell-
schaft, wo sich die Damen befanden, früh aufbrach, und dass
ich dazu die Gelegenheit mit Freuden ergriff, kannst Du Dir
denken.
Aus allem diesem aber ist nun für Felix ein bedeutungs-
reiches Verhältniss entstanden, über welches ich, da es nun
festgestellt ist, in Kurzem berichten will, Näheres für münd-
liche Mittheilungen vorbehaltend. Felix ist für drei Jahrs,
welche mit dem 1. October anfangen, mit einem Gehalt von
328 1830—1834.
sechshundert Thalern (etwa acht- bis neunhundert Thalern in
Berlin entsprechend) und einem jälu-lichen Urlaub von drei
Monaten, welche er sich zwischen Mai und November nach
seiner Wahl nehmen kann, zum Vorsteher und Leiter des
ganzen musikalischen (städtischen und Privat-) Wesens hier
ernannt worden. Seine städtischen Geschäfte bestehen in
Leitung der Kiixhenmusik, seine Privat-Obliegenheiten in der
Direktion des hier bestehenden Gesang- und Instmmental-
vereins, zur Stunde noch getrennt, aber bestimmt vereinigt
zu werden, und in Veranstaltung von vier bis acht Concerten
mit diesen beiden A^er einen jährlich, die eigentlichen Musik-
feste ausgenommen. Wie das entstanden, die wahrscheinlichen,
weiteren und reicheren Folgen dieses Verhältnisses (welche
mich bestunmt haben, Felix sofort zur Annahme zu rathen),
die schon gleich daraus für ihn entstehende nützliche und
wichtige Vorschule, die äusserst angenehmen Verhältnisse, in
welchen er sie antritt, die kluge und noble Manier, in welcher
er sich selbst dabei betragen, alles das erzähle ich Euch bald
und zweifle nicht, dass Du, liebe Lea, einverstanden und froh
sein wirst, Felix in einer bestimmten, ihn genug, aber auf
keine Weise zuviel beschäftigenden Berufsthätigkeit, in Deutsch-
land, uns nahe, auf dem unfehlbar geraden Weg zu seinem
höheren Zwecke, in künstlerischer Umgebung und auf eine
wirklich ausserordentliche Weise geliebt, verehi't, geachtet und
mit luibeschi'änktem Vertrauen bekleidet, an der Spitze bereits
bestehender, von ihm aber erst ihre Entwickelimg und Leitung
ganz in seinem Sinn erwartender Institute zu sehen. Ich kann
mir für ihn und seine eigene fernere Entwickelung kein besseres
und günstigeres Verhältniss wünschen.
Der w^eise Memnon hat geschrieben, ich gehe bestimmt
nicht nach London, und ist nun auf einen gestern von daher
erhaltenen Brief soweit, nicht zu wissen, ob er Felix nicht nach
Calais begleitet. Ich will nun zwei Stunden vor der Abreise
mich entschliessen und dann weiter berichten. Was mir an
Felix' hiesiger Stellung mit gefällt, ist, dass während Andere
so viele Titel ohne Amt haben, er ein ordentliches Amt ohne
Titel haben wird.
Felix und sein Vater in England. 329
Düsseldorf, 2. Juni 33.
„Ich habe mich nun entschlossen, Felix morgen früh za
begleiten. 0 Memnonü — Indessen vogue — wenn auch nicht
la galere, doch le häteau h va/peur!
Wir waren gestern bis ein Uhr in der Nacht bei Immer-
mann, er hat uns seinen ganz umgearbeiteten Hofer vorge-
lesen und mich versichert, dass ihm Bartholdy's Werk über
Tyrol von grossem Nutzen dabei gewesen; er lässt sich Dir
angelegentlichst empfehlen und wird uns im November besuchen
auf seiner Rückreise aus Tyrol, wohin er im September zu
reisen gedenkt! Er ist unläugbar ein sehr interessanter Mann.
Näheres über ihn mündlich, oder schriftlich aus Buenos Ayres,
oder den kanarischen Inseln, oder Griechenland, oder Kon-
stantinopel, ear il n\j a pas de raison, pour qtie cela finisse.
Fürs Erste speise ich, so Gott will, Donnerstag Mittag in
London. Lebt Alle wohl! "
Die Anregung zu dieser Reise mochte wohl von Felix
ausgegangen sein, der England sehr liebte, worüber in den
Briefen seines Vaters manche anmuthige Spöttereien vorkommen,
so z. B.: „ Felix fand in seinem Enthusiasmus die abgemähten,
gelbgebrannten Wiesen grün, den schwarzgrauen Horizont blau,
ich beides nicht" — oder an einer andern Stelle: „Heute früh
um neun Uhr vierzehn Minuten hatte die Sonne grade Kraft
genug, um den Nebel gelb zu färben, und die Luft sah aus,
wie der dicke Rauch während eines grossen Brandes; „« very
fine morning'^, sagte mein Raseur (heisst hier hair dresser)', „/«
it?'^ frug ich; ,.Yes, a very fine morning^'- — und ich lernte
also, was hier ein schöner Sommermorgen bedeutet. Jetzt ist
es Mittag, der Nebel hat gesiegt, die Beleuchtung während
feuchter Schwüle die eines Novembertages bei uns um vier
Uhr Nachmittags, und ich muss meinen Tisch dicht an das
Fenster rücken, um zu sehen, nicht was, sondern dass ich
schreibe. Felix spielt die Orgel in St. Paul und ich kann mich
nicht entschliessen, das Zimmer zu verlassen; wenn er nach
Hause kommt, findet er gewiss auch, dass man nirgends solche
Sommertage erlebt, als in London." —
Auch von dieser Reise ist eine ganze Reihenfolge von
330 1830—1834.
Briefen Abraham's vorhanden, aus denen einige Stellen folgen
mögen.
— „Gestern früh" (den Tag nach der Ankunft) „begab
ich mich zuerst mit Felix zu Doxat. Der Weg führt unter
anderm an St. Pauls vorbei und dieses mächtige Gebäude
mitten in der City zu finden, überraschte mich; ich glaubte
es in einem ganz andern Stadttheil ; ich erkläre mir nun aber
auch, wai-um der in der Luft befindliche Theil ganz ausser
Verhältniss gross zu der auf der Erde stehenden Unterlage
ist. In der City ist Platz nur etwa in der Luft übrig! Von
liier aus machten wir dann zu Fuss einen grossen Weg, um
zu Moscheies zu gehen, welcher uns durch Neukomm, den wir
auch in der Probe trafen, zu heute Mittag hatte einladen
lassen. Ich kam durch Oxfordstreet, Eegentstreet, Portland-
Place, Eegents-Park und muss allerdings sagen, dass ich an
Pracht und Geschmack der Baulichkeiten, an Eleganz, Rein-
lichkeit der Strassen, Bequemlichkeit des Trottoii's u. s. w.,
kurz in allem, was einen bloss sinnlichen Eindi'uck ohne tiefe
Wirkung auf das Gemüth hervorbringt, nichts gesehen habe,
was sich irgend mit den Wundem dieses, etwa eine Stunde
langen Weges nui' vergleichen lässt; aber wenn ich an die
)üächtige Grossartigkeit der Tuilerien, der Flace de Louis XV. y
der Champs Mysüs^ der alles dies begrenzenden und umfassen-
den Boulevards und Quais und an die unfehlbare Wirkung
denke, welche dieser Punkt der Erde täglich, jahrelang auf
mich ausgeübt hat, so sage ich nur, London ist die reichste
und Paris die grösste Stadt, die ich gesehen. London ist
allerdings auch die weiteste; das eigentliche London (Mauern
hat es bekanntlich nicht) enthält jetzt eine Million vierhundert-
tausend Menschen, ist aber ringsum in geringen Entfernungen
von jetzt noch selbstständigen Städten, worunter mehrere von
dreissig bis vierzig Tausend Einwohnern, umgeben, welche,
wie Klingemann sehr- richtig sagt, ängstlich und neugierig in
den grossen Rachen hineinblicken, welcher sie unfelübar näch-
stens verschlingt. — —
Heute nun ist Sonntag. Ich bin noch in Pantoffeha und
es ist vier Uhi*. Die Strasse ist still und diese Ruhe ist mir
Englischer Sonntag. 331
nicht allein sehr angenehm, sondern der Sinn des Londoner
Sonntags ist mir nun ganz erklärlich und deutlich in seiner
iinhedingten Nothwendigkeit, während er mir bis jetzt nach
den einseitigen, dummen Berichten von Reisenden und Schrift-
stellern unglaublich und lächerlich erschien. Der Sonntag ist
den Londonern so nöthig, als die Brache den Feldern, als der
Winter der Vegetation, als die Nacht dem Tage. Der Sonn-
tag wird nicht gehalten, weil das Gesetz es geboten, sondern
das Gesetz ist hier nur deutlicher, als fast irgend sonst, der
Ausdruck des allgemeinen Willens, des dringenden Bedürfnisses.
Wenn die Londoner ein Jahr ohne Sonntag lebten, so wären
sie alle zusammen toll oder stumpf, und je angestrengter, er-
müdender, durch und durch aufgeregter das Leben aller Ein-
zelnen und aller Klassen in London sechs Tage lang in der
Woche ist, je unverbrüchlicher wird ohne besondern äussern
Zwang die grosse Mehrheit den Sonntag feiern.
Doch ich vergesse, dass ich von London aus schreibe, wo
jede Zeile den Brief theurer macht, und muss suchen, mich
kürzer zu fassen. Doch willst Du gern noch lesen, wie viel-
fach geliebt und wahrhaft angesehen hier Felix ist. Ich fühle
es am deutlichsten par ricochet und der alte Horsley dachte
jnir heute ein grosses Kompliment zu macheu, als er mir sagte,
er schätze mich glücklich, der Sohn und der Vater eines
grossen Mannes zu sein. „Wo bleibt die Katz?" dachte ich
und wäre wahrscheinlich sehr böse geworden, wenn ich nicht
selbst schon sehr oft darüber und über mich selbst mich mo-
quirt hätte, dass ich zwischen Vater und Solm gewissermassen
wie ein Gedankenstrich dastehe. —
Ich spreche übrigens mit Horsley italiänisch, denn er
spricht weder deutsch noch französisch und italiänisch sprechen
wir wenigstens Beide nicht. Gott weiss, was wir eigentlich
gesagt und wie wir uns eigentlich verstanden haben. Was
das Englische betrifft, so rufe ich zwar: ^,Hoiv do you do, Sir^'-,
„ Waäer, a mutton chop^^ und andere tiefsinnige Phrasen derart,
doch werde ich, wenn ich zu Hause komme, das Deutsche nicht
vergessen haben und bin wahrhaftig noch zu eitel, um mit
Damen englisch zu sprechen. In der nächsten Woche geht
332 1830-1834.
aber der Teufel los ! Ich habe schon zwei Dinners bei Attwood
und Horslej'- angenommen, es sind aber keine Parties, sondern
Familiendinners, und da werde ich Englisch sprechen, es komme
aus Brust, Kopf oder Kehle. Aus dem Gehirn kann es freilich
nicht kommen, denn da ist's nicht drin !
Ich empfange heut über Düsseldorf die ersten Zeilen seit
langer Zeit von Euch. Du sagst, Du erwartest ungeduldig
Nachrichten von uns ; es müssen also Briefe von mir ausgeblie-
ben sein, denn Gott und die Post sind meine Zeugen, dass ich
entsetzlich oft, viel, lang-und breit- weilig und spuiig geschrie-
ben habe. 0 Gott! wenn das Alles verloren wäre! —
Wenn Du hier durch besondere Protektion eine Karte zu
Lord Levison Gower's Gallerie erhältst und das Wetter schön
ist, so siehst Du in einer "VMinderschönen Einrichtimg, von der
ich erzählen werde, Bilder, für deren Hälfte wir unser Museum
dreimal geben könnten, unter Andern drei so unläugbare Ra-
phael's, dass X. sie für Murillo's und unser Museums-Catalog-
Verfasser (wie heisst er doch?) sie füi' eine Jugendidee von
Pimperlepaccio ausgeben würde. —
12. Juni 33.
„ Oh Sebastian, Du fehlst mir hier, mit noch
vielen Andern, und ich danke Gott, dass Du nicht das Kind
von vier und ein halb Jahren bist, welches vor fünf Tagen
durch tausend Affichen als verloren angezeigt worden. Der
Gedanke daran verlässt mich nicht und geht wie ein schwarzer
Faden durch mein Londoner Leben. Das Kind ist gewiss nicht
wiedergebracht, sondern verhungert, verschmachtet, verkommen,
gestohlen, nackt auf die Strasse geworfen, und nur der aller-
ausserordentlichste Glücksfall kann bewirken, dass es sich zum
Mitglied einer Bettler- oder Diebsbande heranbilde. Alles, weil
die Eltern es \ielleicht auf eine halbe Minute aus den Augen
gelassen, haben. Und das ist London. —
Ich glaube einen charakteristischen Grund - Unterschied
zwischen Paris und London aufgefunden zu haben. In Paris
können Deutsche, Engländer, Chinesen und Türken leben, alle
Annehmlichkeiten der Stadt geniessen, ohne auch nur einen
London und Paris. 333'
Punkt ihrer Individualität oder Nationalität aufzugeben; sie
können sich einbilden, Paris sei ihretwegen gemacht, es gehöre
ihnen. Ob dies nun mit daher kommt, weil, oder ob es bewirkt,
dass ein Achtel der Stadtbewohner aus Fremden besteht, kommt
auf Eins heraus. In England, ich will sagen London, sind die
Fremden ein ganz ignoiirter Punkt. Es soll eigentlich keine
Fremden geben, es giebt überhaupt nur Engländer. Der
Fremde muss sich ganz verläugnen, entnationalisiren, er muss
in Engländer- und Londonerthum übergehen, um irgend zu
einer Existenz, zu einer An- und Einsicht zu gelangen. Ich
erkläre mir daher auch und entschuldige es weit leichter als
früher, dass Fremde, welche eine Zeit lang in England gelebt
haben, uns viel affenartiger erscheinen, als die aus Frankreich
kommen. Man ist fast gezwungen, durch die Affenstation hier
dui'chzugehen, bis Einem das Angenommene zur zweiten Natur
wird. ^^Company excepted,''^ nämlich Eosen, Klingemann und
Felix, obschon alle drei mit dem Kopf rechts ab nicken, um
guten Tag zu sagen. Wenn ich es als ausgemacht annehmen
muss, dass ein geborener Engländer oder ein im Londonerthum
aufgegangener Fremder alle Bequemlichkeiten im höchsten,
berechnetsten Grade geniesst, so ist andererseits nicht zu
läugnen, dass, wer sich darauf nicht einlassen kann oder will,
wer, wie Graf Pückler und ich, ein Langschwanz*) bleiben will,
hier sehr viel entbehren und leiden muss; denn eine andere
Bequemlichkeit als die englische, allgemein typische, giebt es
nicht. Aus Allem dem ziehe ich nun endlich den Schluss, dass
ich nicht gar zu lange hier bleiben werde und mir fest vor-
nehme, entsetzlich zu lügen, wenn ich nach Hause kommen
werde, um von Allem zu erzählen.
Ich bin soeben um eine halbe Guinee leichter geworden
(solche wiegt aber drei und einen halben Thaler), um Gramer
in seinem Concert spielen zu hören, und bereue solche weniger,
als einen Livre Sterling und 14 Schilling (etwa 12 Thaler),
welche ich für eine sehr einfache schildpattene Brille an Dol-
*) Im Gegensatz zu den damals üblichen englisirten, kurz-
geschwänzten Pferden.
334 1830—1834.
lond bezahlt habe, und dadurch eben so viel sehe, als durch
eine von Petitpierre in Silber für zwei Thaler, das heisst soviel
als ohne beide, das heisst nifhts. Ich weiss daher auch von
allen Schönheiten, in welche sich Felix im Morgenconcert sum-
marisch verliebt hat, Nichts, als dass sie alle Hüte aufhatten
und den ganzen inuern Raum des Saales einnahmen ; es waren
drei bis vierhimdert Venüsse auf einen Klump. Gramer spielt
rein, fein, weich und sehr gebildet; sein Concert war nicht
sehr bedeutend, aber hörte sich angenehm.
Geschwinder als die Dampfboote auf dem Fluss und die
Pferde in den Strassen, rennen hier die Guineen aus der Ta-
sche; es ist kein Halten darin, und ich erstaune selbst über
die Ruhe, mit welcher ich sie aus der Börse in den grossen
Schlund hiaabgleiten sehe, aus welchem sie nie wiederkehren;
was ist so ein pauvrer Berliner für ein Narr! Für das, was
ich hier verfahren habe, kaufe ich das ganze Berliner Kremser
Fuhrwerk. Ich büi aber auch geizig auf Mord. Ich lasse mir
hier keinen Faden machen, und lüge mich mit meiner grünen
Perrücke (denn auch die Eurige, o Hensel und Fanny, sieht
mehr der eines Flussgottes, als der eines honneten Sterblichen
ähnlich) ruhig durch, obgleich der zweite Haird/resser bereits
alle englische Schmäh werte auf dieselbe an mir verschwendet:
ich thue aber , als verstände ich es nicht , und antworte
^•fVery well.'"''
Erwartet am Sonntag keinen Brief von mir; ich schreibe
wahrscheinlich erst heute über acht Tage, und will diese Woche
nun benutzen, Mehreres zu besehn. Ich glaube zwar kaum,
dass mich z. B. die Brauereien oder das Parlament sehr inter-
essiren werden; ich denke mir ein Bierfass so gross wie der
Montblanc und eine Schöpfkelle wie das Heidelberger Fass;
mehr wird es doch nicht sein; und da ich die M. P's.*)
weder sehen noch verstehen kann, so könnte ich mir auch
leichter ihre Bilder kaufen und ilire Reden selbst machen,
oder in der Staatszeitung lesen. Aber man muss doch etwas
sehen."
") Parlamentsmitglieder.
Musikalisches und Malerisches. 335
. Den 23. Juni.
„ — Bekanntlich gehören Kaufleute, welche fünfzig Procent
zahlen, zu den ehrlichsten Leuten, und so kann ich mit einiger
Grewissensruhe darauf zurückblicken, dass ich Euch von Allem,
was ich Euch erzählen wollte, jedesmal kaum die Hälfte zu
Stande gebracht. Es schlägt jetzt eben sechs Uhr, ich bin
heut um a^iht Uhr aufgestanden und habe wahrlich nicht früher
dazu kommen können, diesen Brief anzufangen, den ich wieder
abbrechen muss, sobald Felix rasirt sein \vird. Heut früh
spielte Felix Orgel in St. Pauls, wozu, da die Balgentreter
schon fort waren, Klingemann und noch zwei Gentlemen deren
Stelle vertraten. Felix spielte eine Introduction und Fuge,
improvisirte, und dann ein Coronation Anthem von Attwood
mit diesem vierhändig, sodann drei Sebastiane. Es klang selir
gut, die Kirche war leer, nur zwei Besucherinnen des Philhar-
monie hatten sich versteckt, um zu hören. Von da gingen
wir zu einem sonntägigen Quartett, welches bei einem Privat-
mann im verborgensten Zimmer seines Hauses stattfindet. Wir
fielen in ein Quartett von Onslow, es waren gewiss schon
wenigstens zwei dieser Quartette vorausgegangen; sie wollten
Felix' Octett machen, ich erbat mir das Quintett welches auch
gespielt und dann sofort das Octett darauf gesetzt wurde. Um
vier Uhr kam ich nach Haus und wollte schreiben, als ich
aber London geschiieben hatte, kam Herr von Bülow und
blieb ein und eine halbe Stunde — es ist sicherer, dass ich
von der Zukunft spreche, denn die Vergangenheit geht gar
zu schnell in Vergessenheit über — doch muss ich Ihnen,
lieber Hensel, erzählen, dass ich vorgestern die Ausstellung
von Werken lebender Künstler gesehen habe, die berühmtesten
Namen und Titel standen im Katalog, den Werken aber war
es nicht anzusehen, dass Meisterarbeiten sich darunter befän-
den. Ich habe nie und nirgend einen solchen Haufen schlechter
Sachen zusammen und unter allen auch nicht ein einziges
Bild gesehen, das etwas anderes verrieth als Geschmacklosig-
keit und Untalent; in keinem einzigen, ich wage es zu sagen,
auch nur eine tüchtige Praktik. Felix ist hierin nicht meiner
Ansicht, er findet ein Bild von Wilkie, einen beichtenden
336 1830—1834.
jungen Kapuziner, interessant und gut, ich kann, um den Frie-
den zu erhalten, höchstens die Hälfte zugeben. Der alte
Pater, der die Beichte empfängt, ist hart und grimmig genug ;
von dem jungen aber habe ich, Michel Wolf eingedenk, be-
hauptet, er habe zu beichten eingenommen; das Mittel fängt
an zu wirken, und er ist eben im Begriff, die Beichte za.
vomiren. Uebrigens eine Unzahl der schlechtesten Portraits,
Familienbilder, Landschaften, kui'z — ein Gräuel; schade um
einen grossen, von oben sehr günstig beleuchteten Saal, in
welchem die Missgeburten hingen.
Dass in unsern Zeitungen nichts über das Düsseldorfer
Fest steht, beunruhigt Dich sehr, liebe Lea, und Du willst
von uns den Grund wissen? Ich für meine Person kann mir
nur einen dafür denken. Es würde nämlich, wenn es gut ge-
macht wäre, einen interessanten und amüsanten Artikel geben,
mit welchem unsere Zeitungen ihre Leser nicht zu verwöhnen
bedacht sind."
6, Juli 33.
„ — Ich fange ä tout hasard schon heute wieder einen
neuen Brief an, obschon erst gestern eiaer abgegangen und
von Euch bis diesen Augenblick kein neuer angekommen ist.
Der Westwind macht sich aus meiner Ungeduld nichts und
wird nicht eher Ostwind werden, bis ich überschiffen wiU und
er mir entgegenblasen kann. Ich muss es wohl nur der un-
vermuthet langen Abwesenheit von Euch, der hauptsächlich
durch die Sprache so ganz veränderten und wie ein neues
lOeid unpassenden Umgebung, der dadurch plötzlich abge-
rissenen Gegenwart beunessen, dass ich hier mehr und öfter
an frühere, vergangene Zeiten denke, als sonst irgendwo, und
London sich mehr an Hamburg knüpft als an Berlin. So lebe
ich die Sommer von 1808 und 1809 hier wieder fast in jedem
Tage durch, in dankbarer Erinnerung des Guten, was mir mit
Dil- und diu'ch Dicli geworden ist. An unsern wunderbar
schönen Pavillon in Flors Hof, auf der Elbe, auf der wir unten
schöne Schiffe fahi-en sahen, denke ich nicht allein jeden Tag
in dem nebligen, räucherigen, schwerluftigen, nervenbedi'ücken-
Greenwich Hospital und Les Invalides. 337
den London, sondern bin ganz besonders zweimal aufs Leb-
hafteste an ihn erinneit worden, in Greenwich und Portsmouth.
In ersterem Orte nahmen wii* unser Mittagbrod in einem über
der Themse belegenen Wirthshaus m einem Zimmer ein, dessen
Vorderwand lauter Fenster waren, und übersahen die Themse
nach allen Richtungen. Diesmal war unter den Mitspeisenden
mein majorenner Sohn, welchen ich in Flors Hof im kleinen
Rollwagen umlierfuhr. Du fehltest, Gottlob nur eben im Augen-
blick, viele andere leider! für immer. Die Zeit war eine andere,
aber die Themse erfrischte, wie dort die Elbe, durch ihi'e reine,
scharfe Luft, und unzählige grosse und kleine Schiffe, vom Dampf,
vom Winde, oder vom Ruder getrieben, gaben Leben und Bewe-
gung in fast lautloser Stille, was eben der Schifffahi't einen so eige-
nen, beruhigenden Reiz verleiht. Alte Matrosen aus dem Hospital,
junge Schiffer, Volk aller Art war unter unserm Fenster am
Quai versammelt, liin und wieder lustig die Abfahrenden und
Ankommenden begrüssend, meist aber still in's Wasser schauend.
Tausend Sujets zu Marinebildern folgten einander, und wenn
ich mir manche Ursachen denken kann, warum die Engländer
überall keine Künstler haben, so bleibt es mii' unbegreif-
lich, warum sie auch keinen Marinemaler haben, oder gehabt
haben. — — —
D. 7ten. Ich wiU versuchen mich wieder in Greenwich
hineinzusclireiben , um dann morgen von unsrer letzten Reise
erzählen zu können. Les Invalides und Greenwich Hospital re-
präsentiren Frankreich und England, xArmee und Marine. Die
Einen in w^ildem, unstätem Leben, häufig unter den empörend-
sten Schandthaten , unter Unsittlichkeiten jeder Art, unter
Grausamkeiten und Bedrückungen weit r.ber die Selbstver-
theidigungsnoth hinaus verlängert, alt, aber nicht ruhig gewor-
den, von der ganzen Umgebung, Trophäen, Fahnen, Kanonen,
die sie in der Regel nicht einmal selbst erbeutet, aufgeregt,
lebendig, wissbegierig und daher fleissigere Besucher der Bi-
hliotheque des Invalides als der Kapelle derselben — die Andern,
ganz Resultat des Elementes, auf welchem sie ihr Leben ver-
bracht, des engen Raums, der ihre Welt, der harten Arbeit,
die ihr Loos, der fürchterlich despotischen Disciplin, die ihre
Die Familie Menäelssohn. I, *^
338 1830-1834.
Erziehung war, der niliigen Hartnäckigkeit, mit welcher allein
sie die tausend Gefahren belcämpfen und besiegen konnten, die
sie umgaben, die fast nie, oder doch nur in den äusserst sel-
tenen Fällen des Enterns in wildes Getümmel, in persönliche,
individuelle Handlungen übergehende Tapferkeit, welche dann
auch nach errungenem Siege oder erlittener Niederlage sofort
ihre Wü'ksamkeit und Bedeutung aufgiebt, daher müde, still,
in sich gekehrt, fijister, vielleicht roh, aber ruhig in allen Be-
wegungen, gemessen, in ihrer äussern Erscheinung respektabel.
Es leben ihrer an Viertausend in dem aus zwei durch einen
grossen Platz getrennten und durch zwei eiserne Gitter ver-
bundenen, einander ganz gleichen Gebäuden bestehenden Hospi-
tal. Die langen Eäume, aus denen beide bestehen, sind auf
der den Fenstern gegenüberliegenden Seite in lauter gleiche
Kabinette, oder Kajüten ähnliche Zellen von etwa fünf Fuss
breit und sechs Fuss lang abgetheilt, in deren jeder Einer
wohnt und deren letzte, an die Wand gelehnte Seite von dem
Bett eingenommen wird. Dieses bekommen sie, die ganze
übrige Ausstattung und Möbelirung derselben aber muss ein
Jeder zubringen. In einer Höhe von sieben Fuss etwa ist
jedes Kabinet durch eine bewegliche Decke geschlossen, die
wir alle offen gefunden, welche die Bewohner aber Nachts,
oder wenn ihnen kalt ist, schliessen können, in jedem Saale
ist ein grosser Kamin, sonst habe ich keinen Erwärmungs-
apparat gesehen. Von einer Bibliothek keine Spur; aber bei
Manchen fand ich Bücher aufgestellt und Karrikaturen bei sehr
vielen. In allen Kabinetten ohne eine Ausnahme die höchste
musterhafteste Reinlichkeit und, schon von dem engen Raum
gebotene, Ordnung. An den Tagen, an denen das Publikum
zugelassen wird, und ich glaube gehört zu haben, dass dies
an allen Wochentagen geschieht, sind alle Thüren aller Kabi-
nette offen und es kann sich also ein Jeder selbst von dem
Zustande überzeugen. Eine bessere Kontrole füi' die Bewohner
sowohl, wie für die Behörden ist nicht denkbar und das Re-
sultat derselben fäUt in die Augen. Jeder Saal fülu-t den
Namen eines Schiffes und, soviel es sich tliun lässt, werden,
die auf einem Schiff zusammengedient haben, auch in denselben
Mme- Malibran. 339
Saal verlegt. Sie essen, soviel ich weiss, g-emeinscliaftlicli und
bekommen soviel Fleisch und Bier zu Mittag, und Abends soviel
Thee und Brod, als sie verzehren wollen. In geringer Ent-
fernung von diesen Gebäuden, auf einem Hügel, welcher den
Hintergrund zwischen beiden ausfüllt, liegt die Sternwarte,
auf welcher Herschel gearbeitet hat. Unter diesen Umständen
und Umgebungen, im Angesicht der Themse, welche hier schon
viel breiter ist, als der Rhein bei Koblenz und Mainz, und der
unzähligen Schiffe, welche sie durchschneiden, die sie aber
gewiss mit einer Art stolzer Verachtung ansehen, da es nur
Kauffahrer, keine Kriegsschiffe sind, erwarten die alten Jungen,
welche die Eulie nicht im Wasser gefunden haben, dieselbe in
der Erde; sie haben mir gar wohl gefallen. Vielleicht wäre
■das Hospital noch besser in Portsmouth gelegen, in so fern
die Bewohner, zähe aber sicher wie die Taue, an welchen sie
so oft über der Meerestiefe schwebten, hier Wiege und Grab
zusammen gefunden haben würden, denn Portsmouth ist ein
Kriegshafen, die Schiffe daselbst sind Kriegsschiffe ! Vornehme
Ijcute, welche sich, da allerhand anderes Gesindel sich auch
Schiffe schelten lässt, „Kriegsmänner" (Menofwar) nennen. —
^ Ich hatte gestern Abend die W^ahl, Mrs.
Austin zu besuchen, oder die Malibran singen zu hören, die,
wie Ihr Euch entsinnen werdet, mii^ das erste Mal im Theater
fast gar keinen Eindinick gemacht hatte; ich habe der Mali-
bran-Gesellschaft den Vorzug gegeben, et fai m le ne% fin. Ich
hatte mit Klingemann gegessen, Felix war auf dem Lande,
wohin es mir zu weit war, und wir kamen um zehn ein halb
Uhr zur Gesellschaft. De Bdriot spielte eben ein Quartett
von Haydn mit Liebe und Achtung, sehr präcis und feurig,
kurz, sehr schön, Avenn auch vielleicht hier und da mit einigen
modernen französischen Druckern; sodann sang Mme. Malibran
eine etwas langweilige, geistliche Musik des Hausherrn sehr
«infach, ruhig und rein, mit vortrefflicher Haltung. Nachdem
nun noch vierstimmig ein englisches Madrigal und ein Glee
gesungen worden (sonderbare nationale Gesänge, eigenthümlich,
ganz angenehm, deren nähere Beschreibung ich Felix, wenn
«r Lust hat, überlasse), wälu-end welcher Felix sich auch eia-
22*
340 1830 1834.
fand, setzte sich Mme. Malibran, sang ein spanisches Lied,
dann auf Felix' Bitten noch zwei andere, dann ein englisches
Ruderlied und ein französisches Tamboui'lied. Wenn sich hier-
nach an den Fingern abzählen lässt, dass diese Frau (J. P.
Schmidt würde sie unbedenklich unsere geniale M. M. nennen)
in vier Sprachen (italiänisch versteht sich von selbst) singen
kann, so geht daraus ebensowenig, wie aus dem, was ich dar-
über schi-eiben kann, auf irgend eine Weise hervor, welch ein
Strömen, Sprudeln, Brausen von Kraft und Geist, von Laune
und Uebermuth, von Leidenschaft und Esprit, welche Keckheit
\md Sicherheit der Mittel diese nun auch mir aufgegangene
Frau in den kleinen Gesängen entfaltete. Dieselbe Kehle sang
spanische Glut, französische wieder an Natur gränzende Co-
quetterie, englische ungehobelte Derbheit und wiederum fran-
zösischen, etwas gottlosen, aber frischen, lauten Muth so ent-
schieden charakterisirt, national und doch wieder aus ihr selbst
hervorgehend; sie liebte, schmachtete, ruderte imd trommelte
mit so wunderbarer Sicherheit, mit so übermüthiger Beherr-
schung und Verschwendung aller ihrer unerschöpflichen Mittel,
dass man wii'klich von ihi* sagen kann: sie sang Lieder ohne
Worte, sie sang Gefühle, Stimmungen, Situationen. Es war
wieder einmal ganz etwas Neues und ich gönute es Euch wohl
einmal, sie zu hören. Felix, der sich mit Recht, oder doch
wenigstens mit Anstand weigerte, nacliher zu spielen, holte sie
aus dem Nebenzimmer imd zwang üin an's Klavier, und so
improvisirte er denn über die eben von ihi' gesungenen Lieder
zu aUgemeinem Ergötzen und, wie es mir schien, sehi' gut.
Sie sang darauf noch zwei spanische Lieder und endlich, mit
zwei Töchtern des Hauses und Accompagnement von Felix, das
Tiio aus dem Matrimonio ganz imvergleichlich.
Den 9ten Juli.*) „Gottlob und Dank und Dil', liebe Re-
becka. Glück, Segen und Gedeihen. Du hast Deine Sache vor-
trefflich gemacht und ich freue mich sehi\ Diiichlet gratulii-e
*) Es war die Nachricht gekommen, dass Rebeeka am 6ten
ihr erstes Kind bekommen hatte. Ueber ihre Verheirathung mit
dem Mathematiker Professor Dirichlet siehe unten Seite 348 ff.
Krankenlager Abrahams. 341
ich, wenigstens scliriftlicli, niclit, da er's über's Herz hat bringen
können, mir auch bei diesem Anlass nicht ein Wort zu schrei-
ben; er hätte doch wenigstens schreiben können: 2 -f- 1 = 3."
(Dirichlet war einer der schi'eibefaiüsten Menschen.)
Abraham M. B. war nun nahe am Termin seiner Abreise,
er verkündete dieselbe schon ganz fest und bestimmt, da w^irde
ihm durch eine Schienbeinverletzung, gerade wie Felix bei sei-
nem ersten englischen Aufenthalt, ein unangenehmer Strich
durch die Rechnung gemacht. Der eigentlichen Veranlassung
zu dieser, anfangs jedenfalls sehr unbedeutenden Wunde \\Tisste
er sich selbst nicht mehr zu entsinnen ; durch Vernachlässigung
wurde sie bedeutend; am 2 Osten Juli musste er dies nach Hause
schreiben und so lag er fest und konnte erst am 25sten August
London verlassen. Wieviel Aufmerksamkeit und Freundlichkeit
ihm während dieses Krankenlagers ^^iirde, mag er selbst er-
zählen.
Den 1. August.
„ — ■ Arrow Root, acht ostindisch, einer meiner Commis
hat es kürzlich aus Ostindien mitgebracht; Portwein, vierzig
Jahre alt; Jüngern desgleichen, ganz ohne Sprit, mein Bruder
hat ihn zum eigenen Gebrauch aus Portugal verschrieben.
Scottish Marmelade, aus Pomeranzen, mein Onkel Mc. Lero,
ein schottischer Clanhäuptling, die halbe Insel My gehört ihm,
hat sie in seinem Hause verfertigen lassen; Blumen, die schönsten,
wohlriechendsten, feinsten, wie sie England nui' darbietet, sie
kommen aus unserm Garten, -sdr haben sie selbst gezogen;
Kupferwerke, alte und neue, mir unbekannt und zum Theil sehr
interessant. Wem verdanke ich seit vierzelm Tagen alles dies
und persönlichen Besuch und tägliches Nachfragen? Doxat's?
Ich habe noch Keinen von ihnen mit Augen gesehen oder von
ihnen gehört. Goldschmidt's ? 0 nein, denen verdanke ich mehr.
Moscheies und seiner Frau? Nein, wahrhaftig nicht, denn was
die für mich thmi, lässt sich nicht so artikelweise zählen und
bezeichnen, dafür muss ich mir erst einen Ausdruck erfühlen,
ich kann sie mit trocknen Augen nicht von mii' weggehen sehen.
Aber Hanover Terrace, Regents-Park wohnan drei Schwestern,
342 1830—1834.
nuverlieirathet, walirsclieinlich sehr reich, gewiss sehr ver-
mögend, highhj fashionalle, verwandt mit den ersten Familien
Schottland's und von Seiten ihrer Brüder verschwägert mit bedeu-
tenden Familien Londons, mit irgend einem der gewesenen
Könige wahi'scheinlich näher verwandt als ich mit Schaul "Wohl,
einnächtigem König von Polen ; *) die älteste von ihnen zeichnet
und beschäftigt sich viel mit Bildern, von denen sie selbst mehrere»
besitzt; die zweite poUtisirt toryistisch, die dritte, jüngste, noch
recht sehr angenehm hübsch, ist eine Enthusiastin, musikalisch
und treibt Deutsch. Felix hatte sie früher gekannt, mir aber
nie ein Wort von ihnen gesagt, und ich habe sie hinter sei-
nem Eücken bei Moscheies kennen gelernt. Das Glück ver-
gönnte mir, sie mii' sehr zu verbmden. Nicht etwa dadurch,
dass ich mit Miss Margaret über Gemälde sprach (es leben die
Gemälde, sie haben mir stets Genuss und Glück gebracht), son-
dern wahrscheinlich mehr dadurch, dass ich ihnen erlaubte,
mir den Emgang zu mehreren vächtigen und nicht Jedem zu-
gänglichen Gallerien zu verschaffen, mich dazu selbst in ihrem
Wagen abzuholen, dass ich mii' gefallen Hess, besondere Billete
zu Ober- und Unterhaus von ihnen anzunehmen, und ausser
mehreren solchen Herablassungen meinerseits auch die besonders,
dass ich mir eine Party gefallen liess, zu welcher sie mich
einluden. Diese fiel zufällig auf den Abend des Montags, an
welchem zuerst mein Scliienbein mitspielte; ich konnte die
Schmerzen nicht ganz verbergen, und da ich nun krank wurde,
schrieben die guten Damen die Yerschlimmerung ihrer Soiree zu,
und wussten nun nicht mehr, was sie alles thun konnten. Sie
besuchten mich persönlich in den ersten Tagen, was ich ihnen
*) Im sechzehnten Jahrhundert soll, so wurde die Geschichte
in der Mendelssohnschen Familie erzählt, einer ihrer Vorfahren,
Rabbi Saul, bei einer der periodischen Vacanzen und Successions-
streitigkeiten der königlichen Republik Polen auf eine Nacht die
polnische Krone getragen haben. Abends wählten sie ihn gegen
eine anständige Erkenntlichkeit in baarem Gelde, und am anderen
Morgen beeilten sie sich, ihn todtzusc klagen.
Etwas abweichend erzählt es W. Goldbaum in „Entlegene
Kulturen". Berlin 1877. A. Hoffmaun. Seite 296 ff.
Liebenswürdigkeit der Freunde. 343
kaum so hoch ani^echne, als dass sie in ihi-er Freundlichkeit
nicht nachliessen, obschonich sie seitdem nicht wieder v orliess ! !
— Wenn Du nun, liebe Lea, aus allen diesen folgende Schlüsse
ziehst: erstens, ich werde ein Fat; zweitens, ich werde ein
Scäufer; drittens, ich werde besser, so habe ich's ad eius und
zwei selbst schon gefürchtet und ad drei sind meine Aerzte
seit gestern entschieden derselben Meinung. Am ruliigsten bin
ich über das erste ; der lüiüppel liegt beim Hunde. Aber Wein
werde ich in Berlin auch sehr trinken, denn das bekommt mir
herrlich, und auch viel Fleisch essen. Sie sollen leben,
Hensel !
Den 2ten. Mme. Moscheies, meine eigentliche, wohlthätige
Fee, die mir heute schon ihren Morgenbesuch gemacht, die
^Times" vorgelesen und ihren Abendbesuch angekündigt, hat
mir aufgetragen. Dich bestens zu grüssen und Dir zu sagen,
Du möchtest Nichts von allem Guten glauben, das ich Dir
über sie schreibe; ich aber sage: Glaube Alles und setze Dir
das Beste hinzu! Die lebhafte, sehr bequeme, aufmerksame, nie
peinliche, graciöse Gutmüthigkeit, mit der alles Gute gescliieht,
wie nur Frauen sie haben können, und unter diesen vielleicht
wieder mit besonderer Fertigkeit eine geborene Deutsche und
gewordene Engländerin; das jüdische Blut n'y gäte rien. E con
tutto cib fängt mir die Geduld an, zu reissen, und ich freue
mich kaum mehr so sehr über alles Gute, das ich erfahre, als
ich mich darüber gräme, es Andern als Euch verdanken zu
müssen.
Es wird Dich vielleicht amüsii^en zu hören, dass mir die
eine der Misses Alexander, die Bilderliebende, nachdem ich ihr
einmal viel von Dir erzählt hatte, sagte, sie sei überzeugt, Du
müsstest einer Eaphael'schen Madonna ähnlich sehn. So ge-
schmeichelt ich mich von diesem Resultate meiner Schilderung
fühlte und so gewiss Du mir, unbeschadet meiner Liebschaft
mit der Jardmiere zehntausend Mal mehr gesagt hast und lieber
warst als alle Raphael'sche Madonnen zusammen, so woDte ich
mich doch dieses jesuitischen Behelfs nicht bedienen und sagte
ihr offen, ihre Phantasie sei wohl zu weit gegangen, und dass,
was die linearische Schönheit des Gesichts betrifft, Dein wirk-
344 1830—1834.
lieh vorhandenes sich mit der wohlfeilen Schönheit eines Ge-
malten nicht zusammen stellen Hesse. Das wollte aher jene
weder verstehen noch zugeben und Hess erst nach langem Hin-
und Herreden sich gefallen, zu behaupten, dass, wenn also
keiner Raphael'schen , Du doch gewiss einer Guido'schen Ma-
donna glichest, wobei es denn auch blieb. Ich freute mich,
besser zu wissen, wie es eigentlich sich verhielte und wie wenig
mir mit einer gemalten Madonna oder Venus (wenn zu Letz-
terer selbst Mme. B. gesessen) wäre geholfen gewesen. Gestern,
als die drei Damen, welche mit denen aus der Zauberflöte nicht
allein das schwarze Kostüm, sondern auch das gemein haben,
dass stets jede von ilmen eine eigene Gabe bringt, mich wieder
besuchten, kam diese Sache abermals zur Sprache und Felix'
Buch mit den Zeichnungen von Hensel zum Vorschein. Obschon
nun Letzterer, als -wirklicher Schwies'ersohn und Ehemann
Fannj^'s, in diesem Buch Dir und mir nicht im Mindesten ge-
schmeichelt hat, so wollte oder konnte er doch die Lebhaftig-
keit Deiner Augen nicht überbieten, wie er es sonst unfehlbar
thut, und ihrer bemächtigte sich nun Miss Margaret, um mir
zu beweisen, sie habe sich nicht geiiTt. Ich gab mich über-
wunden und konnte ganz im Stillen Dich, als ich mein Bild
wieder ansah, zugleich bedauern und dankbar anbeten, dass
Du eine so unwüi'dige und unpassende Wahl gethan. Maria
hat es besser verstanden, die hat sich zu den Engeln gehalten.
Den 9. August.
„ — — Ich schreibe wieder in meinem alten Zimmer, und
bin die Treppe hinunter oline Schwierigkeit imd Anstrengimg
gegangen und hoffe auf ein nahes Ende dieses Intermezzo semi
serio. Bei sogleich vorgenommener Untersuchung eines Wand-
spinds fanden sich darin: ein halber Pudding, ein Pye, eine
sehi' grosse schöne Weintraube, Geschenk meiner Wirtliin,
sechs Töpfe Scotch Marmelade imd ein Topf Eingemachtes
(Misses Alexander), zwei Tüten, was wir Kaffeebrod nennen
(j\Ime. Moscheles), einige Tops and Bottoms (Zwiebäcke), ein
gebratenes Huhn von gestern (Mme. Goldschmidt), eine Flasche
köstlichen Portwein witlwut hrandy (Misses Alexander) und eiiid
Genesung. 345
dito vortrefflichen Ciaret (Mme. Goldschmidt) , woraus hervor-
geht, dass hier einige Menschen Hungers sterben, andere nicht ;
ernsthaft aber genommen, dass, wenn die beiden grössten Uebel,
welche die Menschen betreffen können, Armuth und Krankheit,
wie es in der Regel geschieht, sich vereinigen, der Zustand
schauderhaft und gränzenlos elend sein muss. Ich hoffe, dass
diese Betrachtung, welche sich mii- in grösster Lebendigkeit
während der ganzen letzten Zeit aufgedrängt hat, als ich er-
fuhr, dass vor einigen Tagen die Frau und zwei Kinder eines
irländischen Arbeiters hier Hungers gestorben, während mir,
dem Fremden, von allen Seiten das Angenehmste und Erfreu-
lichste widerfuhr, nicht unfruchtbar wieder vergessen werden
wird.*) Nächst Gott und vor meinen Aerzten bin ich meine
Genesung dem schuldig, dem ich am liebsten etwas schuldig
bin, wenn ich mich getrennt von Euch befinde. Ich kann nicht
sagen, was Felix an mir gethan, ich kann nicht sagen, welchen
Schatz von Liebe, Geduld, Ausdauer, Ernst und Freundlichkeit
und zärtlichster Sorgfalt er gezeigt, und so unendlich viel ich
ihm auch mittelbar schuldig gev/orden durch die tausend Freund-
lichkeiten und Annehmlichkeiten, die mir von Anderen seinet-
wegen geworden, so kam das Beste doch von ihm selbst und
mein bester Dank gilt ihm."
Der Zufall wollte es, dass zur selben Zeit ein junger,
der Familie bekannter Engländer an einer Knieverletzung in
Berlin krank darniederlag. Da ist denn Abraham natürlich
dringend in seinen Wünschen, demselben möchte von Lea alles
geschehen, was seine Lage angenehm machen könnte, sowohl
durch materielle Genüsse, als auch, und darauf dringt er haupt-
sächlich, duiTh ihren Besuch. Der Brief schliesst: „Doch was
rede ich viel? Du bist ja am Ende Du und die Tochter Deiner
Mutter. Wohlthätigkeit und Vorsorglichkeit ist ja Eure ange-
stammte Tugend und was ich wünsche, ist gewiss Alles schon
geschehen, vielleicht bis auf den Besuch, weil das in Berlin
*) Nach der Rückkehri machte Abraham M. B. in einem Ber-
liner Krankenhause eine Stiftung zur unentgeltlichen Verpflegung
eines Kranken.
3-46 1830-1834.
nicht üblich ist, setze Dich aber darüber hinweg und sei ge-
^\1ss, Du thust ein edles Werk."
Und so war denn endlich die Erlösungsstunde da. Abra-
ham machte sich zur Abreise fertig, Felix wollte ihn noch auf
einige Tage nach Berlin begleiten, ehe er seine Stelle in
Düsseldorf antrat; sie beschlossen aber, daraus eine Ueber-
raschung für die Familie zu machen und so schrieb denn
Abraham in seinem letzten Brief von London: „Ich habe die
Bekanntschaft eines jungen Mannes gemacht, der in Kui'zem
nach dem Norden von Deutschland reisen und sich einige Tage
in Berlin aufhalten will; er gefällt mii' ungemein wohl und
wenn er sich in der nächsten Zeit bewährt, so werde ich ihm
vorschlagen, die Eeise gemeinschaftlich zu machen ; er hat ein
hübsches musikalisches Talent und wird Euch auch gewiss be-
hagen, und w^enn ich bedenke, welch' lebhaftes Interesse Du,
Frau, an Mr. Lechat genommen (es war fast mehr ein schwe-
s-terliches als ein mütterliches) und wie Du noch ganz kürzlich
Klingemann als den Schönsten angesclirieben hast und wie sehr
eine neue musikalische Bekanntschaft Dich, Fanny, in Anspruch
nehmen wii'd, so finde ich es fast zu uninteresstrt imd kühn
von mir und muss Sie, lieber Hensel, um Entschuldigung
bitten, dass ich ihn in's Haus bringe; ich habe mir schon aus-
gedacht, ihn am Thor in eine Droschke hinein zu komplimen-
tiren, um nicht gleich im ersten Moment ein getheiltes Inter-
esse zu finden. Zum Glück wird die ganze Geschichte nicht
lange dauern und er wohl bald weiter reisen, imd lasst Ihr
mich wegen eines jungen Künstlers im Stich, so lasse ich Euch
Alle wegen des noch Jüngern Sebastian laufen, von dem alles,
was Ihr meldet, mich rührt und freut und mir eine wahre
Sehnsucht giebt, ihn wiederzusehn. — Ich bemerke eben, dass
ich vergessen habe, meine neue Bekanntschaft bei Namen zu
nennen: der junge Mann heisst Alphonse Lovie, ist eigentlich
Maler seines Zeichens und macht besonders Portraits mit der
Feder, in einer eigenthümlichen Manier Unglaubliches leistend.
Ich habe ihn heute wieder gesehen und denke, wir werden
Reisegefährten."
Und so, wähi^end die Berliner sich den Kopf zerbrachen,
Rückkehr nach Berlin. 347
wer wohl dieser Alphonse Lovie sein möchte, zu dem der
Vater eine so plötzliche, bei ihm nicht gewöhnliche Zuneigung
gefasst hatte, imd Fanny unmuthig in ihrem Tagebuche ihre
getäuschte Hoffnung, Felix wiederzusehen, niederschrieb und
nicht begriff, was ihn in England noch länger zurückhalten
könne, eilten Abraham und Mr. Lovie, alias Felix Mendelssohn,
über den Canal und nach kui'zem Aufenthalt in Horchheim
nach BerKn. Die Ueberraschung war vollkommen gelungen,
Felix verlebte wieder einige äusserst vergnügte Tage mit der
Familie und ging dann nach Düsseldorf, wo wir ihn vorläufig
verlassen, um die Verhältnisse der Familie in Berlin weiter zu
verfolgen.
Auch der jüngste Sohn, Paul, schied aus dem elterlichen
Hause, ging am 4. Mai 1831 als Kaufmann nach London und
wurde hier mit offenen Armen von Klingemann aufgenommen.
Dieser schrieb an Paul über den Zeitpunkt seiner Ankunft in
London: „Uebrigens kommst Du zui- guten Stunde nach Eng-
land, noch mitten in die Eeform-Bill herein — glücklicher
darin, wie Felix mit der Katholiken-Emancipation, die war seit
vierzehn Tagen vorbei und vergessen, er aber, der Unschuldige,
sah sich noch in allen Ecken nach ihi' um und war ganz ver-
wundert über ihi-e Unsichtbarkeit. Wärst Du z. B. etwa vor-
gestern gekommen, wo die hiesige Volksstimme zu Nutz und
Frommen der Oel- und Talg-Branchen als Illumination laut
wui'de, so hätte man Dir Deine unwissend-dunklen Fenster sehr
eingeschmissen, und Du hättest den folgenden Tag wenigstens
an etwas Freies, nämlich an freie Luft glauben müssen —
nebenbei hättest Du das sonderbare Brausen einer imposanten
Volksmasse vernommen, die durch die Strassen fuhr, wie eine
Windsbraut, und die Respekt einflösste, eben weil sie nicht
respektabel war. Ich habe grosse Lust, hier Einiges politisch
aufzuschneiden, damit sie Dich zu Haus, im Glauben, Du
steigest in einen wahren mörderischen Revolutions- Krater
hinab, zu guter Letzt noch recht hätscheln und verziehn —
doch ich glaube, es thut nicht Noth, es sind gute und liebende
Leute, die Deinigen." —
Für das letzte der Kinder, Eebecka, war ebenfalls die
348 1830-1834.
Zeit gekommen, wo sie sich einen eignen Lebensweg suchen
sollte. Sie war weniger musikalisch als die älteren Geschwister,
aber die Schärfe ilires Verstandes, ilu' Geist und ihr sprudeln-
der Witz zeichneten sie vor Allen aus.
Sobald die Verlobung von Fanny ein offenes Geheimniss
war, wendeten sich aUe Huldigungen der jüngeren Schwester
zu und es fehlte ihr nicht an Bewerbern. Es waren unter
diesen Männer, hervorragend an Geist und Talent. Zu keinem
konnte Rebecka eme entschiedene Neigung fassen, bis der
schon in einem Brief Fanny 's an Klingemann*) erwähnte Pro-
fessor Dirichlet den Kampfplatz betrat und den Sieg über
seine Mitbewerber davontrug.
*) Siehe Seite 187.
Gustav Peter Lejeiine Dirichlet.
Gustav Peter Lejeune Dirichlet wurde im Jahr 1805 den
13. Februar in Düren, einem Städtchen zwischen Köln und
Aachen, geboren, woselbst sein Vater Post-Dii-ektor war.
Dieser, ein sanfter, gefälliger und liebenswürdiger Mann, und
die Mutter, eine geistvolle, gebildete Frau, gaben dem von
der Natur ungewöhnlich beanlagten Knaben eine sorgfältige
Erziehung, obgleich ilmen dies wohl manchmal schwer genug
werden musste, da sie, keineswegs wohlhabend, nur reich an
Kindern waren, von denen sie eilf hatten. Schon in sehr
frühem Alter zeigte sich bei ihm eine seltene Begabung und
Vorliebe für die Mathematik. Noch nicht zwölf Jahr alt, ver-
wendete er sein Taschengeld zum Ankauf mathematischer
Bücher, mit deren Studium er seine ganze freie Zeit und
namentlich die Abende zubrachte. Wenn man ihm das aus-
zureden versuchte und ihm einwendete, er könne sie ja doch
nicht verstehen, so gab er zur Antwort: „Ich lese sie so
lange, bis ich sie verstehe." Seine Eltern wünschten einen
Kaufmann aus ihm zu machen, indessen gaben sie den in-
ständigen Bitten des Knaben, der dagegen einen entschiedenen
Widerwillen und den ebenso entschiedenen Wunsch zum
Studiren zeigte, nach und schickten ihn vorerst im Jahr 1817
nach Bonn aufs Gymnasium. So kam er als zwölfjähriger
Knabe aus dem elterlichen Hause, das er von da ab immer
nur vorübergehend wieder betreten hat.
350 Gustav Peter Lejeune Diriclilet.
Li Bonn blieb er zwei Jahre rastlos fleissig, vornämlich
in der Mathematik und Geschichte. Vor allen andern ge-
schichtlichen Begebenheiten hat ihn schon damals und zeit-
lebens die französische Geschichte am meisten iiiteressirt, und
er war ein genauer Kenner der ganzen betreffenden Litteratur.
Das hing theils mit den Erzählungen seiner Eltern, die das
grosse Drama zum Theil sogar als französische Unter-
thanen miterlebt hatten, theils mit seinen eigenen, sogleich zu
erzählenden Erlebnissen zusammen, am meisten aber leitete
ihn auf das Studium dieser Zeit seine entschieden freie, bis an
sein Lebensende bethätigte Gesinnung, die ihn in der Revo-
lution den Anfangspunkt aller freieren Regungen auf dem Kon-
tinent erkennen und lieben liess. — Nach zwei Jahren kam
er auf das Jesuiten-Gjannasium in Köln (er war Katholik)
und hatte hier das Glück, zum Lelu^er der Mathematik den
nachmals durch die Entdeckung des nach ihm benannten Ge-
setzes des electrischen Leitungswiderstandes berühmt gewor-
denen Georg Simon Ohm zu bekommen. Durch dessen Unter-
richt und fleissiges Selbststudium mathematischer Bücher machte
Dirichlet in seiner Lieblingswissenschaft bedeutende Fortschritte.
Im Jahr 182 1, sechszehn Jahr alt, verliess er die Schule mit
dem Abgangszeugniss für die Universität. Der Kaufmannsplan
war von den Eltern aufgegeben, jetzt aber baten sie den Sohn
dringend, wenigstens ein Studium zu wählen, das grössere
Aussicht auf praktisches Fortkommen in der Welt böte, z. B.
die Jurisprudenz. Indess auch diesmal gelang es Dirichlet,
durch die bescheidene aber feste Erklärimg, er werde sich
fügen, aber die Nächte wenigstens der Mathematik widmen,
w^enn er auch bei Tage einem „Brodstudium" obliegen müsse,
die eben so vernünftigen als zärtlichen Eltern umzustimmen
und er erhielt die Eimvilligung, Mathematiker zu werden.
Wo aber war dazu Gelegenheit? Das Studium der Mathe-
matik in Deutschland lag damals arg darnieder. Die Vorle-
sungen erhoben sich nur selten über den Gesichtskreis der
Elementar-Mathematik, die Docenten boten eine Speise, die dem
Geiste Dirichlet's nicht zusagen konnte; von wh'klich bedeu-
tenden Namen gab es nur den einen Gauss. Dieser aber hatte
Jugendgeschichte. 351
durchaus nicht die Gabe des Mittheilens; es kam ihm nur dar-
auf an, für sich klar zu werden über ein Problem; war dies
geschehen, so war die Sache für ihn abgemacht. Es soll mehr
als einmal vorgekommen sein, dass Mathematiker mit einer eben
vollendeten Entdeckung zu ihm kamen, ihn um seine Memung
zu fragen und dass er ihnen dann antwortete: „Ja, ja, das ist
ganz richtig, das habe ich vor zehn Jahren schon ausgearbeitet;
ziehen Sie mal das Schubfach da auf" — und dann zeigte sich
den erstaunten Blicken des Besuchers auf vergübtem, altem
Papier seine neue Entdeckung, gewöhnlich allerdmgs in weit
prägnanterer, besserer Form fix und fertig. In dieser sich
selbst genügenden Abgeschlossenheit war nun aber Gauss nichts
weniger als ein guter Docent. Dagegen stand damals in Frank-
reich d. h. in Paris (denn auch in diesem Zweige menschlicher
Thätigkeit bestätigte sich was Felix schrieb, dass Paris Frank-
reich ist) die Mathematik in vollster Blüthe; und Namen wie
Laplace, Legendre, Fourier, Poisson und Cauchy glänzten als
helle Sterne an ihrem Himmel. Paris also erkannte Diiichlet
als den Ort, wo für seüie mathematischen Studien der grösste
Gewinn zu hoffen war; und die Eltern, welche aus der „Fran-
zosenzeit" her noch gute Freunde in Paris hatten, willigten
in seinen Wunsch ein, dorthm zu gehn. Im Mai 1822 bezog
er diese Hochschule der Mathematik. —
Sein Leben war hier anfangs höchst einfach, sogar dürftig,
denn die ihm zu Gebote stehenden Mittel waren nur sehr gering,
sein Umgang ein besclu'änkler. Aber er erinnerte sich dieser Zeit
mit dem grössten Vergnügen, wo er zum ersten Mal mit vollen
Zügen aus dem Quell des Wissens trinken durfte und die
Entbehrungen, denen er sich in Nahrung, Kleidung und Woh-
nung unterwerfen musste, erhöhten — wenigstens in der Eiin-
nerunc- — den Eeiz. Ein Versuch, den er machte, neben den
Vorlesungen am College de France und an der FacuUe des Sciences
auch denen an der Ecole poJytechnique beizuwohnen, scheiterte
daran, dass der preussische Geschäftsträger in Paris ohne be-
sondere Autorisation des l^Iinisters von Altenstein es nicht
übernehmen wollte, die Erlaubniss beim französischen Mmisterium
auszuwirken!!! Welche Verbindungen aber hätte der siebzehn-
352 Gustav Peter Lejeune Dirichlet.
jährige Student aus der kleinen rheinischen Provinzialstadt
gehabt, diese Autorisation zu erwii'ken?
Bald aber sollte in seinem stillen Lehen ein grosser Um-
schwung eintreten: der General Foy, ein geistreicher, hoch-
gebildeter Mann, ein Haupt der Opposition in der Deputirten-
kammer und einer ihrer berühmtesten Redner, mit einer glän-
zenden militärischen Vergangenheit, suchte einen Lehrer für
seine Kinder, der dieselben hauptsächlich in deutscher Sprache
und Litteratur unterrichten sollte, und durch die Vermittelung
eines alten Kriegsgefährten von Foy und Hausfreundes von
Dirichlet's Eltern, Larchet de Chamont, bekam Diiichlet, der
gleich bei der ersten Zusammenkunft einen höchst günstigen
Eindruck auf Foy machte, diese Stelle, mit einem anständigen
Gehalt und so geringen Verpflichtungen, dass ihm ausreichende
Zeit zur Fortsetzung seiner Privatstudien blieb. Merkwüi'diger-
weise ist Foy der di'itte französische General (von Sebastiani
und Davoust ist in Henriette's Geschichte dasselbe berichtet
worden), dem deutsche Bildung so begehrungswerth vor-
gekommen war, dass er sie seinen Kindern auf jeden Fall
sichern wollte ; hier aber war die Verpflichtung eine gegenseitige ;
denn Diiichlet wurde bleibend und bestimmend beeinflusst durch
das Beispiel eines thatkräftigen, edlen und feingebildeten Mannes,
das er in Foy vor sich hatte, und durch den herzlichen und
zwanglosen Umgang mit der Generalin, die ihre lange ver-
nachlässigten deutschen Studien bei ihm wieder aufnahm und
ilim dafüi' seine Germanismen im Französischen austrieb. Von
grosser Bedeutung für sein ganzes Leben war es auch, dass
das Haus des Generals, welches ein Veremigungspunkt der
ersten Notabilitäten in Kunst und Wissenschaft der Hauptstadt
Frankreichs war und in welchem von den angesehensten
Kammermitgliedern die grossen politischen Fragen verhandelt
wurden, die zunächst zu der Julii'evolution 1830 führten, ihm
zuerst Gelegenheit gab, das Leben in grossartigem Massstabe
zu sehen und sich daran zu betheiligen. Eine nette Stelle
findet sich in einem Klingemann'schen Brief, aus der man ein
sehr lebendiges Bild von Dirichlet im Foy'schen Hause bekommt,
er schreibt Isten März 1833 anRebecka: „Es ist ein Unglück,
Dirichlet und Alexander v. Humboldt. 353
dass ich Ihren Gemahl und Ehe- Voigt nicht kenne — was
hilft's, wenn wu* uns Jahrelang durch die besten Autoritäten
die schönsten Sachen sagen lassen (ich lasse ihn z. B. jetzt
aufs herzlichste und verbindlichste durch seine eigene Frau
grüssen) — man bleibt sich immer ungreifbar und ein dürrer
Begriff bis man sich sieht und spricht. Nicht einmal durch
unsere Werke lernen ^vir uns kennen, er nicht, weil ich keine
schreibe, ich nicht, weil ich die seinigen nicht verstehe. Gott!
Wenn Sie wüssten, was für einen gränzenlosen Respekt ich
vor Mathematik im Allgemeinen und vor Algebra im Speziellen
habe, schon aus dem Grunde, dass ich so garnichts davon ver-
stehe, so fühlten Sie , wie ich schon vor Ihnen zittere, geschweige
denn vor dem Professor selber! — Das Greifbarste von Letz-
terem hörte ich, wie ich das letzte Mal in Paris war, von der
Generalin Foy, die von ihm sprach, d. h. ihn lobte und er-
zählte, wie er Tagelang, auf einem kleinen Ofen sitzend, bald
die Kinder unterrichtet, bald weiterstudirt habe.'' — Diese
Vorstellung des ausserordentlich grossen, dünnen jungen Men-
schen auf dem eisernen Oefchen sitzend und Mathematik stu-
dirend, während der Unterricht der Kinder ihm Zeit lässt,
hat etwas komisch Rührendes und so ungemein Deutsches.
Und ein Deutscher blieb Dirichlet doch, trotz aller Vor-
liebe für Frankreich, trotz aUes Glanzes und aller Annehmlich-
keiten, welche er vom Pariser Leben in so hohem Grade
kennen lernte. Nachdem er durch seine erste der OeffentUch-
keit übergebene Schrift, welche in der Pariser Akademie vor-
gelesen und in die Sammlung der Denkschriften auswärtiger
Gelehrter aufgenommen wurde, einen glänzenden Erfolg errungen
und sich den Ruf eines ausgezeichneten Mathematikers mit einem
Schlage erworben hatte, wui'de er mit Alexander von Humboldt,
der damals in Paris lebte, bekannt, der ihn schon früher von
General Foy als ausgezeichneten Gelehrten hatte rühmen hören,
aber auf dieses Lob, als aus dem Munde eines Laien kommend,
nicht viel gegeben hatte. Indess die Erstlingsarbeit Dirichlet's
überzeugte ihn; Humboldt empfing den jungen Mann mit aus-
nehmender Freundlichkeit und es wurde zwischen Beiden eine
stets wachsende und bis zum Tode unveränderte Freundschaft
Die Familie Mendelssohn. L 23
364 Gustav Peter Lejeune Diriohlet.
geschlossen. Grleich bei der ersten Zusammenkunft tlieilte ihm
Dirichlet seine Absicht mit, später nach Deutschland zurück-
zukehren; Humboldt bestärkte ihn darin, indem er ihm ver^
sichei'te, bei der geringen Anzahl guter Mathematiker könne
es ihm nicht fehlen, sobald er es wünsche, eine angemessene
Stellung zu finden. Durch den im November 1825 erfolgten
Tod Foy's und den Einfluss Humboldt's, der bald nachher Paris
verliess, wurde Dirichlet's Entschluss, die Rückkehr in's
Vaterland, zur Reife gebracht. Mit der „angemessenen Stellung",
die Humboldt als so leicht erreichbar dargestellt hatte, sah es
indessen traurig aus. Kurz vorher hatten die jahrelang fort-
gesetzten Unterhandlungen mit Gauss über seine Anstellung
in Berlin abgebrochen werden müssen, weil es an einigen
hundert Thalern fehlte, es war also nicht anzunehmen, da man
sich die erste deutsche mathematische Berühmtheit einer solchen
Lappalie wegen hatte entgehen lassen , dass man dem noch
nicht einundzwanzigjährigen Dirichlet besonders glänzende
Anerbietungen machen würde. Und wirklich gehegte die ganze
unermüdliche Thätigkeit und der grosse Einfluss Humboldt's,
der die angesehensten Mitglieder der Berliner Akademie bewog,
die Sache auch zu der ihiigen zu machen, es gehörte eine
dringende Befüi'wortung durch Grauss dazu, um für Dirichlet
als fixes Grehalt — vierhundert Thaler zu erlangen, damit er
sich in Breslau als Privatdocent habilitiren möge. Indessen
Dirichlet, der von jeher und bis an sein Lebensende fast ganz
bedürfnisslos war, ging darauf ein, in der Hoffnung, seiner
eigenen Tüchtigkeit und Humboldt's Freundschaft werde es
mit der Zeit gelingen, ihm eine angemessene Lage zu ver-
schaffen. Li Breslau fühlte sich Dirichlet nicht behaglich; die
üniversitätsverhältnisse müssen damals ziemlich zopfig gewesen
sein — z. B. erregte es bei einigen Kollegen grosse Miss-
stimmung, dass er von der öffentlichen lateinischen Disputation
befreit wurde — die Studirenden konnten sich an seine Lehi'-
w^eise nicht gewöhnen ; er seinerseits mochte sich um das stark
grassirende Coteriewesen nicht künmiern und so kam er wäh-
rend der drei Semester, die er dort blieb, nie zu jener lokalen
oder provinziellen Berühmtheit, die in beschränkteren Kreisen
Privatdoccnt in Breslau und Berlin. 855
wirksamer ist, als die allgemeine Anerkennung von Seiten der
ersten Männer der Wissenschaft. Diese aber wurde ihm in
vollem Masse: Ueher eine in dieser Zeit erschienene Abhand-
lung Dirichlet's schrieb Bessel an Humboldt: „Wer hätte ge-
dacht, dass es dem Genie gelingen werde, etwas so schwer
Scheinendes auf so einfache Betrachtungen zurückzuführen; es
könnte der Name Lagrange über der Abhandlung stehen und
Niemand würde die Unrichtigkeit bemerken." — Fourier aber
beschwor Dii'ichlet selbst, und suchte auch durch Larchet de
Chamont auf ihn zu wii-ken, dass er wieder nach Paris zurück-
kehren möchte, weil er dazu berufen sei, an der dortigen Aka-
demie bald eine der ersten Stellen einzunehmen.
Indess er zog eine noch so bescheidene Thätigkeit in der
Heimath, wenn sie ihm nur eben zu leben gestattete, vor. Da
um diese Zeit die mathematische Lehrstelle an der allgemeinen
Kriegsschule in Berlin frei wurde, benutzte Humboldt die Ge-
legenheit, Dirichlet dem General Radowitz zu empfehlen. Die-
ser aber und der Kiiegsminister konnten sich nicht entschliessen,
ihm die Stelle definitiv zu übertragen, „weil er zu jung sei,
um den Officieren als Lehrer vorgestellt zu werden." Indessen
um sie interimistisch zu verwalten schien er alt genug zu
sein und so erhielt er denn von Altenstein vorläufig auf ein
Jahr Urlaub und übernahm den Unterricht an der Kriegsschule
im Herbst 1828, den er von da ab bis zu seiner Uebersiede-
lung nach Göttingen im Jahre 1855 ununterbrochen gehalten
hat. So angenehm ihm in den ersten Jahren der Umgang mit
den ihm gleichaltrigen Officieren war, so drückend wurde ihm
später, als er sich an der Universität einen grossen Kreis von
Zuhörern gebildet hatte, die ihm mit lebendigem, wissen-
schaftlichem Interesse in die höchsten Gebiete der Mathematik
zu folgen willig und befähigt waren, dieses Verhältniss zu den
„Kriegsschülern", die die Vorlesungen nur aus Zwang, als zu
absolvirendes Pensum, besuchten und an denen er selten wirk-
liches Verständniss und Lust und Liebe zur Sache entdeckte.
So war es auch die Kriegsschule, welche zuerst ihn nach
Berlin geführt hatte, die ihn nach siebenundzwanzig Jahren
von da wieder vertrieb.
98*
356 Gustav Peter Lejenne Dirichlet.
Bald nach seiner Ankunft in Berlin habilitii-te er sich auch
wieder als Privatdocent an der dortigen Universität, da er, ob-
gleich in Breslau schon Professor geworden, als Professor einer
fremden Universität in Berün nicht Vorlesungen halten duifte
und erst im Jahre 1831 wurde er definitiv als ausserordent-
licher Professor an die Berliner Universität versetzt. Merk-
würdigerweise war es derselbe Humboldt, der auf die Gestal-
tung von Dirichlet's äusseren Lebensschicksalen so bedeutenden
Einfluss gehabt hat, der ihn auch in das Mendelssohn'sche Haus
einführte und dadurch mittelbar auch bestimmend auf eine an-
dere Seite seines Lebens einwirkte.
Dirichlet interessirte sich von Anfang an lebhaft für Ee-
becka und seine Neigung blieb nicht unerwidert; indess fand
er längere Zeit Widerstand bei den Eltern, die andere Be-
werber lieber sehen mochten und von dem Ernst und der
Nachhaltigkeit semer Liebe nicht vollkommen überzeugt
waren.
Schliesslich gelang es aber namentlich dm-ch die Bemühun-
gen von Hensel und Fanny, sie umzustimmen, und die Verlo-
bung fand am 5ten November 1831, die Verhcirathung im Mai
1832 statt. Auch Dirichlet's bezogen eme Wohnung im Hause
der Eltern, und so hatten diese das Glück, wenigstens die
Töchter in unmittelbarster Nähe zu behalten. Am 2ten Juli
1833 wurde Dirichlets das älteste Kind, Walter, geboren.
Das Jahr 1834 brachte neue Veränderungen: Paul war
Yon seinem auswärtigen Aufenthalt zurückgekehrt und Anfangs
des Jahres bei dem alten Handlungshaus Mendelssohn & Co.,
dem damals Joseph und dessen Sohn Alexander vorstände©,
eingetreten. Später wurde er Associe des Geschäfts und ver-
heirathete sich mit Albertine Heine, die schon längere Zeit
dem Freundeskreise angehört hatte.
Den September 1884 brachte Felix in Berlin zu. Sein
Verhältniss zum Vater wurde immer inniger imd steigerte sich
Seitens Felix' zu wahrer Anbetung. Und Abraham verdiente
diese in vollstem Masse. Durch die Jahre war seine früher
etwas harte und strenge Natui- immer weicher, milder, harmo-
nischer geworden. Leider machte sich auch Schwäche de»
Verheirathung von Kebecka und Paul. 357
Alters fühlbar. Schon auf der englischen Reise war seine
Kurzsichtigkeit ihm recht störend; jetzt entwickelte sich mit
grosser Schnelligkeit der Staar, und bald konnte er kaum noch
einen Schimmer sehn. Er trug dies Unglück mit unglaubli-
cher Ruhe und Resignation und fühlte die grösste Dankbarkeit
gegen die Töchter, die abwechselnd ihm vorlasen und für ihn
schrieben. Im Jahi' 1835 soUte es zur Operation kommen.
Zu den eigenen Kindern wurde sein Verhältniss immer mehr
das des erprobten Freundes, und namentlich für Felix wurde
er der liebende, aber unbestechliche Berather jedes Schrittes.
Das Jahr 1835.
Im Frühling fand das Musikfest in Köln unter Felix'
Direktion statt. Diesmal machten sich die Eltern, Dirichlet's
und Hensel's dazu auf. Das Fest nahm seinen gewohnten
frohen Verlauf, Felix hegleitete seine Eltern nach Berlin zu-
rück, von wo Lea an Eehecka, die nach Ostende weiter gereist
war, schreibt:
y^JJne douce Sympathie regne entre nozia, chere enfant!'* Wir
reisten den 1 sten ab und kamen beiderseits den 8ten an. Durch
Felix wirst Du erfahren, dass Lea in Abrahams Schooss wohl-
behalten sass, denn er schreibt Dir von allen Orten mit wahrer
Pietät. Dass er aber eine leibhaftige, nur noch veredelte, ge-
steigerte, liebenswürdigere Krankenpflegerin ist, wird Dir seine
Bescheidenheit verhehlt haben. Ich durfte im eigentlichen
Sinne nicht hart treten, was bei manchen Wirthshaustreppen
und Schwellen schwer zu vermeiden ist. „Er hat zu Allem
Geschick", sagte E. einst bei andrer Gelegenheit. Ja, fast zu
sorgsam pflegte und hätschelte er mich auf der Reise und hielt
mich ungefähr wie eine Passalaqua'sche Mumie.*) Nur lachen
und spassen durfte ich, wozu sein angenehmes Gespräch mir
genug Gelegenheit gab. Sonst ward jede Agitation so ge-
wissenhaft vermieden, dass selbst der Herkules in Wilhelms-
♦) Passalaqua war der damalige Direktor der ägyptischen
Sammlung des Berliner Museums.
Musikfest 1835. Cravall in Berlin. 369
höhe als ein zu aufregender Mann verholen wurde, ohgleich
es meinem Herzen gewiss mehr schadete, umsonst nach ihm
zu schmachten, als mich ihm in die Arme zu werfen. Eine
halhe Meile von Kassel sahen wir ihn emporragen, und Marie
fragte mich Abends: „Ist denn Herkules ein bedeutender
Mann?" Ich fand das so schön, dass ich vor Lachen nicht
antworten konnte. —
Ich rathe Dir, lass Deine Mine bei dieser für sie so
günstigen Gelegenheit die edle Kochkunst lernen, am Rhein
so wissenschaftlich, grossartig, mannigfach geübt! Auf der
Reise in unsere poor country streift man mit jeder Station eine
süsse Gewohnheit, eine edle Bequemlichkeit nach der andern
ab. 0 Albrecht der Bär, Du solltest, geUndest geredet, der
Esel heissen!
Ich hoffe, unsre abgeschmackte RebeUion vom 3 ten August
und folgenden Tage soll Dich, mit belgischen Lügen gespickt,
nicht mehr afficirt haben als uns. Das schönste Resultat ist
folgende Poesie der Strassenjungen:
Heil Dir im Siegerkranz,
Heut' bleibt keene Scheibe janz.
Es ist leider viel unschuldig Blut geflossen, denn obschon
die Staatszeitungsdarstellung wahr gewesen, dass die mit
Steinen geworfenen Soldaten nicht geschossen, so haben sie,
was mit Stillschweigen übergangen, gehauen und Dieffenbach
allein hat von drei gefö.hi*lich Zugerichteten gesprochen, die er
unter Händen gehabt. Wieviel es im Ganzen waren und ob's
auch Todte gegeben, weiss man durchaus nicht officiell, nach
unserm schönen Princip, nichts der Art zu veröffentlichen, und
so hat Fama gut Spiel und nimmt ihr loses Maul desto voller.
Es soU Jemand dem Könige das Pariser Mittel, Aufläufe durch
Spritzen zu zerstreuen, vorgeschlagen und er gesagt haben:
»werden gewiss nicht in gutem Zustand sein.'' Ich finde das
sehr komisch.
Zwei Tagereisen von hier bat ich Felix, nur den zehnten
Theil seiner Liebenswürdigkeit für Berlin einzupökeln. Ich
merke auch, dass er sich alle Mühe giebt, aber so recht geht's
360 Das Jahr 1835.
ihm nicht von Herzen, ja es ist nicht übertrieben von mir,
wenn ich behanpte, sogar seine Physiognomie hat sich ver-
ändert, und er sieht gar nicht so hübsch und lebhaft aus, als
am Rhein. Schadow imd Hildebrand, die ihn seines mobilen
Ausdrucks wegen so unsäglich schwer zu malen finden, wer-
den's begreifen. Er thut indess was er kann: ich rechne ihm
jeden Tag längeren Hierbleibens auf einem Blättchen meines
Herzens an. Zum Glück arbeitet er am Paulus und zwar
sehi' fleissig und gern; den ersten Theil kopirt er und ändert
bei dieser neuen Durchsicht, wie Du es an ihm kennst, wenn
er über seine Sachen kalt geworden. Einmal hat er uns
himmlisch vorgespielt, auf dem dürren, klapperigen, alten
Broadwood, aus dem er Klang, Ton, Gesang, Zartheit und
Kraft zu ziehen wusste. Ich glaube, es galt Louis Heidemann,
der selbst jetzt so gut spielt. Du weisst, zwei hörende Ohren
können ihn begeistern. Dass ich ihn etwas anerkenne — ist
Dir nicht neu. Gott segne ihn! Den Tag seiner Abreise hat
er noch nicht bestimmt, auch das dank' ich ihm; muss man
die Stunden so zählen, schemt das Verfliegen derselben noch
schneller und sündlicher; man wii'ft sich vor, jede Minute nicht
noch sorgsamer benutzt zu haben."
Nach dem Musikfest reisten Hensel's nach Paris. Das
Urtheil über die französischen Malerverhältnisse spricht Fanny
in einem Brief an ihren Vater so aus:
„10. Juli 35. Lieber Vater, Du scheinst doch einige
Furcht zu verrathen, dass Hensel nicht mit völliger Gerechtig-
keit gegen Paris verfahren würde; ich dächte, die Absicht
ginge schon hinlänglich aus dem Entschluss hervor, die Reise
nur zu unternehmen, denn es wäre ja eine wahi-e Stupidität,
so viel Geld, Zeit und Kräfte aufzuwenden, nur um nachher
sagen zu können: ce n'est que cela? Er sieht und hört mit
der grössten Unbefangenheit und, wie immer, mit dem Wunsch
zu lernen. Dass er nicht AUes loben und billigen kann, ver-
steht sich von selbst, und dass wir über einzelne Punkte
Streit bekommen werden, glaube ich auch. Indessen wirst Du
im Ganzen zufrieden sein mit der Art, wie er gesehen und
seine Zeit angewandt hat. So angestrengt wie in der ersten
Hensel's in Paris. Pariser Maler. ,361
Zeit darf er nun nach seinem Krankheitsanfall nicht mehr
umherlaufen und ich sehe schon heute ein, dass wir manche?
Interessante werden ungesehen oder halbgesehen lassen müssen,
da es uns. an Geld und Zeit fehlt, länger hier zu bleiben alg
einen Monat.
Hier zu leben kann ich kaum wünschenswerth finden,
nach allem, was wir von den Künstlern selbst hören, denn
wenn auch freilich die Aufträge mitunter kolossal sind, so ist
auch die Masse der Intriguen, Hindernisse und Schlechtigkeiten,
die. sie erdulden müssen, in gleichem Masse kolossal^ und die
Art, wie die Reputationen, die das Publikum früher selbst ger
schaffen hat, später unter die Füsse getreten werden, wirklicl^
unleidlich anzusehen. Wir haben seit den vierzehn Tagen
unseres Aufenthalts zwei eklatante Beispiele davon gesehen;
es ist nur eine Stimme darüber, dass eine solche Behandlung
Gros in die Seine geführt hat und Delaroche ist in solcher
Verzweiflung über die grenzenlose Perfidie, mit der man ilmi
seinen Auftrag wieder genommen hat (die Ausschmückung
einer Kirche mit Fresken), dass. ich mich kaum wunder^
würde, wenn er denselben Weg ginge. Aber sehr gern würde
Hensel einmal ein Jahr hier sein, ein Bild hier malen und da«
Museum studiren, alle Künstler, die seine Sachen gesehen
haben, rathen ihm, ein Bild, womöglich das grosse, zur Au^r-
Stellung herzuschicken, aber alle sind auch einig darüber, dass
er selbst mitkommen müsste, weil er sonst vor Misshandluni:
seines Werkes nicht sicher wäre, und dann wird Delaroehe's
Beispiel angefülirt, dem man, während er in Italien die Studiea
zu seiner Kirche machte, die Kirche selbst wegnahm, was
Vemet (Delaroehe's Schwiegervater), der anwesend war, mit
allem seinem Kredit nicht abwenden konnte. Freunde helfen
nichts, sagen sie, man muss selbst da sein, und das erschwert
die Sache natürlich fast bis zum Unmöglichen. Das Einzige,
was ich den Künstlern hier wirklich beneide, ist das Glüclc,
ihre Sachen so vortrefflich publicirt zu sehn. Da ist Calamatta,
der arbeitet fast nur nach Ingres, und wie werden Delarochö!«
Sachen gestochen! — — -". . ' ,' , .'.-. :'.
. Hensels machten natürlich viele interessante Bekannt*
362 Das Jahr 1835.
Schäften, besonders die von Delaroche und Vernet. Fanny
Bchildert des letzteren Kostüm, in dem er im Atelier arbeitet,
als das eines Tanzmeisters, Schübe, weisse Hosen, Jacke, eine
rothe Schärpe nm den Leib. Fünf Jahre später zog der
geniale, aber excentrische Mann in Eom in orientalischer
Tracht in den Strassen einher, mit Dolch und Pistole im
Gürtel und ganz einem Türken gleichend, wie ihn auch Hensel
in halbstündiger Sitzung gezeichnet hat. Gerard erregte
Fannys lebhaftes Interesse; er hatte die ganze Revolutions-
und Kaiserzeit mitgemacht und besass selbstgemalte Portraits
der bedeutendsten Menschen jener Zeit; von denen sie Talma,
Mlle. Mars, Napoleons Jugendbild, Humboldt und Canova nennt.
Der Schluss ihres Aufenthalts wurde noch durch ein er-
schütterndes Ereigniss bezeichnet, das dazu beitrug, der ganzen
Erinnerung an Paris eine trübe Färbung zu geben, das
Fieschi'sche Attentat.
Unter dem Eindruck dieses Verbrechens verliessen Hensels
Paris. Aber das Reiseungiück verfolgte sie noch weiter. Sie
gingen nach Boulogne, weil Fanny noch das Seebad brauchen
sollte. Boulogne war aber überfüllt, namentlich mit Englän-
dern, und mehrere Tage verliefen zuerst mit Wohnungsuchen.
Als endlich eine gefunden war, zeigte sich dieselbe in so bau-
fälligem Zustande, dass, nachdem sie einige Tage bewohnt war,
bei einem Platzregen die Decke einstürzte und ein grosser
Strom durch's Dach eingeregnetes Wasser sich in's Zimmer
ergoss. Dazu kamen sehr mangelhafte Postverbindungen, so
dass Berliner Briefe bis vierzehn Tage unterwegs waren. Zu
allem Uebrigen bekam Fanny eine ziemlich heftige Augenent-
zündung, die sie an jeder Beschäftigung und an allem Genuss
der frischen Luft hinderte. Natürlich war der fashionable und
zwar für Engländer fashionable Badeort unerschwinglich theuer,
alles zusammen bewirkte, dass Fanny stets mit ganz besonderem
Widerwillen an Boulogne zurückdachte. Das einzige Gute war
angenehme Gesellschaft: Heinrich Heine, der hier in Boulogne
seine schöne Geschichte mit einigen Engländerinnen lieferte,
die sich das Lesezimmer aussuchten, um ein sehr lautes
Gespräch zu führen, und die er verscheuchte, indem er ihnen
Bouiogue. 363
sagte : ^Meine Damen, wenn Sie mein Lesen im Sprechen stört,
kann ich ja auch wo anders hingehen.'* Femer die englische
Schriftstelleiin Mrs. Austin, eine sehr liebenswürdige Frau.
Endlich kam Klingemann auf drei Tage aus London herüber,
die auf's angenehmste verplaudert wurden. Er lernte bei
dieser Gelegenlieit Wilhelm Hensel kennen.
Ueber die Rückreise schreibt Fanny an Klingemann:
Berlin, 17. Oktober 1835.
^ Wir haben Ihnen die drei einzigen angenehmen
Tage zu danken, die wir in Boulogne zugebracht haben, denn
ich weiss nicht, welcher freundliche Dämon unserm Plagegeist
von Wirth eingab, uns gerade diese wenigen Tage ungehudelt
zu lassen, so dass wir die Freude Ihres Besuchs ungetrübt
geniessen konnten. Kaum waren Sie an jenem blauesten, herr-
lichsten Tage zu Schiff — wir sahen dem Dampfboot lange
nach, dessen Rauchsäule gerade in die Luft stieg und dessen frühe
und glückliche Ankunft, sowie das Wohlbefinden sämmtlicher
Passagiere mit Einscbluss des Pudels wir noch den Tag vor
unserer Abreise von Boulogne erfuhren — als der Tanz wieder
losging. So scliieden wir in schlechtestem Vernehmen imd in
einem Wetter, von dem ich behauptete, dass es sich nur in Boulogne
und in Boulogne nur für uns vorfinden könnte. Mit Sturm und
Regengüssen entliess uns der unfreundliche Ort, aber schon in
Calais hatte es sich so weit aufgehellt, dass wii- den Hafen
besuchen und uns durch den Augenschein überzeugen konnten,
dass nichts daran zu sehen ist, so etwas glaubt Keiner dem
Andern. Die Nacht blieben wir in Dünkirchen und besahen am
andern Morgen wiedeinim den Kafen. Es war mir kurios, so
zufällig gerade nach Dünkii-chen gekommen zu sein, dieser Name
klang mir immer, wxnn ich als Kind Geographie lernte oder
eine Karte besah, so ganz besonders fern und fremd, wie ein
europäisches Ostindien, oder wie ein Punkt, den keine Berli-
nische Seele je erreichen könne, und nun war ich drin gewesen
und hatte in einem ganz vortrefflichen Gasthause übernachtet.
Von Dünkirchen aus nach der nächsten Station, die schon
belgisch ist, fährt man mehrere Heues auf dem nassen Ebbe-
364 Das Jahr 1835.
sande und einer natürlichen Chaussee von Muscheln, einen ganz
wunderlich reizenden Weg, auf dem man stundenlang nichts
als links die Meerlinie und rechts das Dünenmeer sieht. Aus
Versehen kamen wir nach Ostende, wo wir meine Schwester
nicht mehr, dafür aber zum letzten Mal das Meer hei voller
Fluth sahen, und gelangten Nachmittags nach Brügge, wo wir
die paar letzten Stunden des Tages und die paar ersten des
folgenden mit Besichtigung dieser alten, 'wiinderbaren Stadt
zubrachten. Ich weiss nicht, ob Sie Belgien kennen und be-
finde mich also in der höchsten G-efahr, Urnen lauter Dinge zu
erzählen, die Sie zehnmal besser wissen als ich, aber never mind^
wess das Herz voll ist, dess fliesst die Feder über, und dass
mein Herz noch immer Belgiens voll ist, das kann ich nicht
läugnen. Wenn Sie in Brügge durch die wohlerhaltenen, rein-
lichen Strassen des fünfzehnten Jahrhimderts nach dem Hospital
gehen, wo Hemelink eben krank lag, und nach seiner Genesung
zum Dank das schöne fromme Bild malte, wenn Sie die an-
muthigen barmherzigen Schwestern innen gemalt in goldenen
Rahmen knieend, und dann dieselben frischen Gesichter in
ihrer Kirche betend, oder in Haus imd Hof menschenfreundlich
geschäftig, wenn Sie dasselbe katholische Volk in derselben
alten Tracht und den ernsthaften schwarzen Mänteln in die
nämlichen altherrlichen Kirchen wandeln sehn, so bemächtigt
sich eine unwillkürliche Täuschung der Seele und der Sinne.
Sie möchten den ersten Vorübergehenden fragen, wo der edle
Meister Hemelink oder die Brüder Eyk wolmen, und wenn er
vorüberginge, ohne Ihnen zu antworten, so wüi^den Sie nur
denken, er verstehe kein Deutsch und Sie kein Flämisch,
Den andern Tag fuhren wir nach Gent, mit dessen Be-
sichtigung wir wieder den Rest der hellen Stunden verbrachten,
und zwar in so grässlichem Regen und Schmutz, dass jede
Vorsicht unnütz erschien, und ich am Ende geradezu ging,
ohne irgend mehr meinen Weg zu wählen. Zu Hause angelangt,
mussten wir einen völligen Trockenplatz anlegen. Gent hat
einen ganz andern Charakter als Brügge, und zwar vielmehr
den des sechzehnten Jahrhunderts, so wie Antwerpen den des
siebzehnten Jahrhmiderts. In Gent wird leider viel erneuert
Belgien. 365
tmd ein grosser The'il der herrlichen, eigenthümlichen alten
Häuser durch nichtssagende neue ersetzt. Indess ist noch
genug des Schönen übrig gebliehen, um zehn Städte wie Ber-
lin (sagen Sie's nicht wieder) damit ausstatten zu können. Die
vielen Quais, die zahllosen Brücken, das ganze kuriose Wasser-
wesen, die schönen alten Kirchen (der grössere Theil des be-
rühmten Altarbildes von Eyk ist dort, von dem wir den klei-
neren Theil hier besitzen), Alles dies macht aus Gent eine
in ihrer Art nicht weniger interessante Stadt, als es Brügge
in anderer Weise ist. Von da gingen wir nach Antwerpen,
was für mis der Kulminationspunkt wenigstens dieser Rück-
reise war, eine königliche Stadt! — Nie habe ich Hensel so
entzückt gesehn, als in der Kathedi-ale, welche das berühmte,
grösste Bild von Rubens, die Kreuzabnahme, enthält. Ich ver-
sichere Sie, wäre eine Möglichkeit der Ausführung vorhanden
gewesen, wir hätten uns mit Leichtigkeit entschlossen, in
Antwerpen zu bleiben. Rubens kann man niu' da kennen ler-
nen, mehrere Kirchen und das Museum enthalten Meisterwerke
von ihm, von denen man nirgend anderswo eine Idee bekommt.
Dabei sind die Strassen und Bassins von der höchsten Gross-
artigkeit.
In Brüssel hatten wir mehr ein geselliges Leben zu führen,
da wir mehrere sehr angenehme Bekannte dort fanden, die
sich freuten, Schulden der Gastfreundschaft abtragen zu können,
doch sahen wir auch, was in zwei Tagen liegend möglich war.
Wir kamen noch durch Löwen, wo wir das berühmte Rathhaus
und eine sehr merkwürdige Privatsammlung sahen, wo wir uns
nur gerade lange genug aufhielten, dem Dom und mit ihm für
diesmal allen Herrlichkeiten aller Kunst Lebewohl zu sagen;
wir eilten nach Bonn, wo wir mit Dirichlet's zusammen trafen,
und uns einiger Ruhetage erfreuen wollten, denn wir waren
erschöpft von acht Tagen des herrlichsten Reisens und ich
besonders von einem Zustande steter Bewunderung, der äusserst
angenehm, aber auch höchst ermüdend ist."
Der Morgen des 19ten wurde in Bonn froh mit den
schöhsten Plänen zu einer gemeinsamen, gemächlichen Rück-
reise verplaudert, die für alles erlittene Reiseungemach ent-
366 Das Jahr 1835.
schädigen sollte. Da kam ein dringender Brief aus Berlin:
Hensels Mutter war bedenklich erkrankt und er wurde schleunigst
zurückgerufen, wenn er sie noch einmal sehn wollte. Hensels
reisten sofort ab, über Leipzig, wo sie Felix trafen, der in-
dessen dorthin übergesiedelt war, und erreichten am 27sten
September Berlin. Hensel fand seine Mutter noch am Leben,
indess am 4ten Oktober starb sie. Ihr Tod war ein schon
längst erwarteter und für die alte Frau beinahe als eine Wohl-
that anzusehn. Doch war er der Vorläufer eines andern, der,
plötzlich und ungeahnt eintretend, die ganze Familie schwer
treffen sollte. —
Felix hatten wir verlassen, als er seine Stelle in Düssel-
dorf definitiv antrat, im Herbst 1833 und sahen eben, dass er
im Herbst 1835 von dort nach Leipzig gegangen war. Diese
zwei Jahre waren selir fleissige und zugleich sehr lustige in
seinem Leben. Alles, was sich sein Vater von der Düssel-
dorfer Stellung versprochen hatte, ging in vollem Mass in
Ei-füllung, ja, es wurde noch übertroffen. Felix' Stellung w^ar
eine dreifache. Erstens war er Dirigent des gesammten städti-
schen Musikwesens, das theilweis erst im Entstehen, theilweis
in einem chaotisch verwirrten, veralteten Zustand war. Damit
innig zusammen hing die Leitung der Musik zu den kirchlichen
Feierlichkeiten in der fast ganz katholischen Stadt. Gleich zu
Anfang ereignete sich die aus den Felix'schen Briefen*) bekannte
Geschichte mit dem früheren Leiter dieser Kirchenmusiken:
„ Ein ganz alter, verdriesslicher Musikant mit einem schabigen
Kock wurde vorgeladen, erschien und als sie ihm auf den Pelz
fuhren, sagte er, er werde und woUe keine bessere Musik ma-
chen, wollten wir es besser haben, so möchten wir es einem
Andern geben. Er -svisse wohl, dass man jetzt \äel Ansprüche
mache, es soUe jetzt Alles schön klingen, das sei zu seiner
Zeit nicht gewesen und er mache es noch eben so gut wie
damals. Da wiuxle es mir wahrhaftig schwer, ihm die Sache
abzunehmen, \viewohl es die Andern gewiss besser machen
werden, aber ich dachte mir so, wenn ich in fünfzig Jahren
*) Brief an Rebeoka. 26. Oktober 1833.
Felix ia Düsseldorf. 367
einmal auf ein Rathliaus gernfen würde und möchte so spre-
chen, und ein Gelbschnabel schnauzte mich an, und mein Rock
wäre so schabig, und ich wüsste eben auch gamicht, warum
Alles besser klingen sollte — und da wurde mir schlecht zu
Muthe." —
Nun musste aber erst gute Musik herbeigeschafft werden, da-
mit die bessern Musiker auch etwas Ordentliches aufzufuhren
hätten. So bereiste denn Felix, me er sich ausdi-ückte, ^ seine
Domainen," d. h. er fuhr nach Elberfeld, Bonn und Köln,
kramte alle Bibliotheken durch und kam mit einem grossen
Schatz altitaliänischer Kirchensachen nach Düsseldorf zurück.
Unterdess aber hatten die Düsseldorfer für den Augenblick
allen Sinn für Msereres von Allegri und Bai und Motetten von
Orlando Lasso und Pergolese verloren, und dachten an Nichts,
als an den Kronprinzen von Preussen, nachherigen Friedrich
Wilhelm IV., der durch Düsseldorf kam. Ehrenpforten, Grlocken-
läuten, Kanonendonner und ein Diner wai'en die unvermeidli-
chen Folgen. Aber Düsseldorf wollte auch ein Fest geben,
und den Hauptgedanken dazu hatte Felix, in Erinnerung an
das Musikfest vom Frühjahr vorher, angeregt: Israel in Aegypten
mit lebenden Bildern, von Bendemann und Hübner gestellt.
Die Chöre waren noch in frischem Andenken, die Vorbereitungen
also verhältnissmässig einfach und wenig zeitraubend. Das
Fest ist in dem auf der vorigen Seite erwähnten Brief ausführlich
beschrieben.
Demnächst ging es wieder an die ernstere Arbeit. Die
Kirchenmusiken bekamen ein ganz anderes Ansehn. Felix
scheint sogar sich in diese, doch wesentlich katholische Seite
der Musik — denn er ist sich darüber ganz klar, dass eine
wirkliche Kirchenmusik, das heisst, eine solche, die integriren-
der Tbeil des Gottesdienstes wüi'de, im Protestantismus un-
möglich sei — so hineingedacht zu haben, dass er einen Augen-
blick nicht übel Lust hatte, eine Messe zu schreiben, von der
er memt, „sie möchte werden, wie sie woUe, so würde es
die einzige Messe sein, welche wenigstens mit fortdauernde*'
Erinnerung an den kirchlichen Zweck geschrieben wäre."
Neben dieser Thätigkeit nahm nun aber eine andre,
868 Das Jahr 1835.
wesentlich verschiedene, einen grossen Theil seine r Zeit in
Anspruch: Das damals nach allen Seiten sprossende künst-
lerische Interesse in Düsseldorf hatte, namentlich durch Immer-
mann geleitet, sich auch lebhaft der Gründung eines Theaters
zugewendet. Immermann gab sich derselben Hoffnung hin,
die Lessing in Hamburg gehegt hatte, und deren Enttäuschung
ihm sowohl wie jenem bittre Stunden bereiten sollte, der Hoff-
nung, man könne ein wirklich edles, klassisches Theater aus
sich selbst schaffen und erhalten. Der Anfang war hier wie
dort ein vielversprechender. Aber nirgends war auch vielleicht
ein so günstiger Boden dafür, als in dem Düsseldorf des Jahres
1834. Die vielen künstlerischen Elemente, die jungen Maler,
das frische Naturell des ganzen Volkes, die gute Kamerad-
schaft, die unter Allen herrschte, die Maler für Immermann
Decorationen anfertigend, dieser jenen ihre Feste durch Dich-
tungen verherrlichend; und an der Spitze des Theaterunter-
nehmens Immermann's zähe, entschlossene, despotische Natur,
wie sie ein Dirigent eines solchen Instituts der Natur der
Sache nach haben muss ; das Alles Hess sich gut an. In FeUx
glaubte nun Immermann einen geeigneten Helfer bei seinem
Werk gefunden zu haben, und Felix war auch gern
bereit, sich mit Jenem zu verbinden, die Leitung der
Oper zu übernehmen, wie Immermann die des Schauspiels.
Namentlich hatten sich beide zu einer Anzahl sogenannter
„Mustervorstellungen'' vereinigt; als erste von diesen sollte
der Don Juan in Scene gelin. Die Düsseldorfer Opposition —
und eine solche mangelt der menschlichen Natur gemäss auch
dem besten Unternehmen nicht — nahm aber Anstoss an dem
Namen „Mustervorstellungen", der als Arroganz ausgelegt
ward, und — an dem erhöhten Eintrittspreise, und es entstand
ein fui'chtbarer Lärm, den Felix in einem Brief an seinen
Vater beschreibt:*)
„Es ist doch ein lebendiges Volk in Düsseldorf! Die
Don Juan-Geschichte hat mich bei alledem amüsirt, obwohl
sie wild genug war imd Immermann ein heftiges Fieber vor
*) Felix' Briefe. 28. December 1833.
Don Juan Aufführung. 369
Aerger bekommen hat. Da Du, liehe Mutter, Zeitungen lesen
magst, so sollst Du im nächsten Briefe alle gedruckten Akten
über diese Geschichte, die die ganze Stadt di-ei Tage lang
beschäftigt hat, erhalten. — Nachdem der grand scandale an-
gefangen hatte, der Vorhang dreimal gefallen und wieder auf-
gezogen worden war, nachdem sie das erste Duett des zweiten
Aktes durchgesungen hatten, ohne vor Pfeifen, Trommeln und
Brüllen gehört worden zu sein, — nachdem sie dem Regisseur
(Immermann) die Zeitung aufs Theater geworfen hatten, da-
mit er sie vorlesen solle, und der darauf sehr piquirt wegge-
gangen war, und der Vorhang zum vierten Mal liel, wollte
ich meinen Stock hinlegen, oder ihn wahrhaftig lieber den
Kerls an den Kopf werfen, als es wieder ruhig wurde — die
Schreier waren heiser geworden, die ordentlichen Leute leb-
hafter, kui'z, wir spielten den zweiten Akt unter tiefer Stille
und vielem Applaus weiter und durch. Nachher wurden Alle
herausgerufen — Keiner kam, und Immermann und ich kon-
ferirten im Pulverdampf des Feuerregens zwischen den schwarzen
Teufeln, was zu thun sei. Ich erklärte, bis das Personal und
ich keine Satisfaction hätten, dirigirte ich die Oper nicht wie-
der, zugleich kam eine Deputation von Mehreren aus dem
Orchester, die wieder erklärten, wenn ich die Oper nicht diri-
girte, würden sie nicht spielen, — nun jammerte der Schau-
spieldirektor, der zur nächsten Vorstellung schon alle Billets
verkauft hatte. Immermann fuhr alle um sich her an, — mit
solcher Grazie verliessen wir Beide das Schlachtfeld. Den fol-
genden Tag stand an den Ecken „wegen eingetretener Hin-
demisse'' u. s. w. und wo man auf der Strasse ging, war von
nichts die Rede als vom Skandal. Die halbe Zeitung voll An-
zeigen darüber; der Urheber verantwortPte sich — behauptete,
er habe trotz Alles dessen einen grossen Genuss gehabt, für
den er mir und dem Personal dankbar sei, — nannte sich, und
da er Regierungssekretär ist, so Hess ihn der Präsident kommen,
rüffelte ihn schrecklich, schickte ihn dann zum Direktor, der
ihn wieder schrecküch rüffelte — den Soldaten, die Theil ge-
nommen hatten, ging's von ihren Chefs ebenso—, der ganze Ver-
ein zur Beförderung der Tonkunst erliess ein Manifest, worin
Die Familie Mendelssolin. I. ^*^
370 Das Jahr 1835.
er um Wiederholung der Oper bat und auf die Störungen schalt
— das Theatercomite zeigte an, wenn die geringste Unter-
brechung in seinen Vorstellungen wieder stattfände, würde sich's
sogleich auflösen, — ich liess mir die Ermächtigung vom
Au-schuss geben, die Vorstellung zu beendigen, für den Fall,
dass gelärmt würde; vorigen Montag hiess es allgemein, der
Regisseui' solle ausgetrommelt werden, wegen seiner neulichen
Piquirtheit, nun kriegte Immennann das Fieber und ich gestehe,
dass ich mit sehr unangenehmen Gefühlen in's Orchester zum
Anfang liinunterging, weil ich beim kleinsten Skandal die Vor-
stellung endigen wollte. Aber gleich, wie ich an's Pult ging,
empfingen sie mich mit vielem Applaus, riefen dann nach einem
Tusch, der musste mir di'eimal gebracht werden unter einem
Teufelsspektakel, dann wurde es mäuschenstill, alle einzelnen
Nummern erhielten ihren Applaus, kurz, das Publikum war
nun so artig, wie vorher ungeberdig. Ich wollte, Ihr hättet
die Vorstellung gesehen; einzelne Sachen, bin ich überzeugt,
können nicht schöner gehn, als an dem Abend; das Quartett
z. B. und der Geist im letzten Finale, fast der ganze Leporello
waren wirklich prächtig, und ich hatte grosse Freude daran.
— Besonders ist mir's lieb, dass die Sänger, die, wie ich höre,
Anfangs gegen diese Mustervorstellungen und mich persönlich
gestimmt waren, sich jetzt für mich todtschlagen lassen und
die Zeit gar nicht eiTs^arten wollen, bis ich wieder eine Oper
gebe. Jetzt bin ich zum Weihnachten hier nach Bonn gefah-
ren, mitten durch den eistreibenden Ehein und habe hier ein
paar angenehme Tage verlebt." —
So hatten die „Mustervorstellungen'' begonnen. Dem Don
Juan folgte Egmont, mit der Beethoven' sehen Musik. Beson-
ders gelungen aber war der Wasserträger. Diese Oper war
seit langen Jahi-en vom Eepertoü'e aller Bühnen verschwunden,
man hatte sie ganz vergessen und hielt es für eine Marotte
des Comites, solch ein altes Ding wieder aufwärmen zu wollen.
Da fürchteten Alle auf der Bühne, es möchte eine Wiederho-
lung des Don Juan -Skandals geben — „das gab aber", schreibt
Felix,*) „grade die rechte Stimmung für den ersten Akt; das
*) Brief an seineu Vater. 28. März 1834.
Egmont. Wasserträger. ■ 371
Ganze ging so nervös, gespannt, zitternd diirclieinander, dass schon
bei dem zweiten Musikstück die ganze Düsseldorfer Opposition
in's Feuer gerieth, und klatschte und rief und weinte durcheinan-
der. Einen bessern Wasserträger als meinen Günther habe ich nie
gesehen — das war alles so liebenswürdig und natürlich, und ein
bischen ordinär dabei, damit die Noblesse nicht gar zu fabel-
haft wäre. — Er wurde ungeheuer fetirt und zwei Mal heraus-
gerufen; das verdarb ihn für's zweitemal, wo er dann gleich
zu viel auftrug und zu sicher schien ; aber das erste Mal hättet
Ihr ihn sehn sollen. Das war mein vergnügtester Theater-
abend seit langer Zeit, denn ich nahm an der Vorstellung
Theil, wie ein Zuschauer, lachte und klatschte mit und schrie
Bravos hinauf, dirigirte dabei munter fort, die Chöre im zwei-
ten Akt klangen wie aus der Pistole geschossen. Im Zwischen-
akt war die ganze Bühne voll Menschen, die sich freuten und
den Sängern gratulirten, und sogar das Orchester klappte bis
auf einige Placker, wo ich sie, trotz alles Ermahnens und
Drohens wälu-end der Vorstellung nicht dazu bringen konnte,
die Augen von der Bühne weg und auf die Noten zu
richten.''
Diese Stellen wurden hauptsächlich deshalb aufgenommen,
weil aus ihnen klar hervorgeht, woran die Harmonie zwischen
Felix und Immermann scheitern musste. Beide sahen die Sache
von einem gar zu verschiedenen Gesichtspunkte an; Felix
amüsirte die Don Juan -Geschichte, über die Immermann vor
Kränkung ein heftiges Fieber bekam. Ersterer hatte an den
Aufführungen Freude, die Immermann als die ernsteste Sache
von der Welt ansah. Felix schreibt an seinen Vater: „Eine
gute Aufführung im Düsseldorfer Theater geht freilich nicht
durch die Welt und wohl kaum über die Dussel, aber wenn
ich selbst und alle Menschen im Hause sich recht durch und
durch an der guten Musik erfreuen und erwärmen, so ist das
auch was Hübsches." — Immermann war bereit, diesem Unter-
nehmen, das Felix als etwas schliesslich doch Nebensächliches
behandelt, seinen ganzen Lebensberuf zum Opfer zu bringen,
und ihm all' seine Kräfte ausschliesslich zu widmen, mit einem
Worte, Inunermann war das Düsseldorfer Theater Herzens-
24*
372 Das Jahr 1835.
und Begeisterungssache, für Felix lag die Herzens- and Be-
geisterungssache ganz wo anders, in seinen eigenen Compo-
sitionen.
So grosses Vergnügen er auch namentlich von der oben-
erwähnten Wasserträgervorstellimg hatte, so war ihm doch
schon damals vieles an dem Theaterwesen, die Schauspieler-
geschichten, das Effektsuchen und Effektmachen, die Zeitungs-
klatschereien, namentlich aber das Zeitraubende, das ihn ^von
seinem eigentlichen Zweck, den eigenen Arbeiten", zu weit
entfernte, unangenehm. Daher übernahm er auf der bald nach
dem Wasserträger abgehaltenen Theaterkonferenz nur die obere
Aufsicht über die musikalischen Geschäfte, Zusammensetzung
des Orchesters, Engagement der Sänger und die monatliche
Auffülirung einer Oper; er verzichtete auch auf das Gehalt, für
welches nun ein zweiter Dii'igent angestellt wurde; er wollte
beim Theater nur ganz unabhängig und nur als Freund der
Sache stehn. Eine solche Stellung ist aber auf die Dauer nicht
haltbar; um so weniger bei dem gewissenhaften Naturell
Felix', der sich nicht entschliessen konnte, die Sache lässig
zu behandeln, sie eben gehen zu lassen, sondern der, so lange
er dabei war, mit ganzer Pflichttreue und grossem Eifer dabei
war, bis es ihm gradezu unerträglich wurde. Dieser Zeitpunkt
trat ein, als im Herbst des Jahres 1834 die neuen Contrakte
imd Engagements anzufertigen und darüber zu unterhandeln
war. Schon aus jener kleinen Geschichte mit dem Kirchen-
musikanten haben wir gesehn, welch ein weiches, zartempfin-
dendes Herz Felix hatte; das war nicht dazu angethan, mit
dem vielen Gesindel, das an einem — namentlich kleinstädtischen
— Theater hängt, sich herumzustreiten. Er hat uns die „Lei
den eines Düsseldorfer Intendanten" in einem Brief an Eebeckt
recht anschaulich selbst beschrieben. *)
Das Traurigste an der Sache war, dass das Verhältniss zu
Immermann, welches vorher ein so ausserordentlich gutes ge-
wesen war, jetzt zuerst ein kühles, dann beinahe ein feindliches
wurde. Freilich war der Antagonismus beider Naturen in die-
♦) Brief vom 23. November 1834.
Zerwürfniss mit Immermann. Paulus. 373
sem Punkte zu gTOSs, und Immermann war durch Felix in
seiner Lieblingssache gehemmt worden, er hielt ihn deshalb
für einen Abtrünnigen an dem verdienstlichen Werk der Er-
richtung der Nationalbühne. — Rechnet man aber zu den bis
jetzt besprochenen amtlichen Obliegenheiten, zu den vielen Con-
zerten und Aufführungen im Singverein, in der Kirche, im
Theater, noch die ausserdem an andern Orten gegebenen Con-
zerte (von einer solchen Rundreise in Elberfeld und Barmen
handelt ein sehr frischer, hübscher Brief), das Musikfest 1834
in Aachen, das er allerdings nur als Zuhörer besuchte, und dabei
Hiller und Chopin aus Paris traf, — (man hatte ihm nahe gelegt, sich
um die Direktion dieses Musikfestes zu bewerben, was er
aber grundsätzlich nicht that,) und das Musikfest in Köln 1835,
wovon schon gesprochen ist; rechnet man Alles dies, was
sich schon in den Zeitraum von zwei Jahren zusammendrängte,
so erscheint es wahrhaft erstaunlich, dass dies in Felixens Augen
die Nebensachen waren, und dass ausserdem seine Thätigkeit
als Komponist eine ausserordentliche blieb. Es fallen in diese
Zeit das Es -dur- Rondo und das A-moll-Capriccio für's Piano-
forte (1834), das E-dur-Capriccio nnd eine As-dur-Fuge (1835),
viele Lieder ohne Worte und mit Worten, darunter „Auf
Flügeln des Gesanges", ferner die Ouvertüre zur schönen
Melusine.
Und selbst alle diese verschiedenen und zum Theil sehr
umfangreichen Arbeiten waren nur gewissermassen Vorstudie,
Tun recht in Zug zu kommen, zu dem grössten Werk, das Felix
bis dahin unternommen hatte, und dessen beinahe vollständige
Beendigung noch in die Düsseldorfer Zeit fällt, zum Paulus.
Zu diesem drängte und trieb ihn, den gewiss von Natur schon
Thätigen, fortwährend sein Vater, gleich als hätte er eine
Ahnung von der hohen Stelle sowohl, die Felix mit diesem
W' erk unter den Komponisten einnehmen sollte, als auch davon,
dass ihm selbst nicht mehr vergönnt sein würde, die Auffüh-
rung zu erleben. Dies Oratorium war nun Felix' Herzens- und
Gewissenssache, wogegen ihm alles Andre nebensächlich vor-
kam. Wie ernst er es mit Allem, was sich darauf bezog,
nahm, wie gründlich er mit den Predigern Bauer und Sehn-
374 Das Jahr 1835.
bring, seinen Jugendfreunden, den Text, die ganze Grundlage
durchsprach, wie ihm auch hierin sein Vater in dem schönen
Brief vom lOten März 1835 den besten Rath ertheilt, wie sich
Felix, als nun der Paulus seiner Vollendung entgegengeht, nach
dem Urtheil seiner Schwester Fanny sehnt, weil er von dieser
ein wirklich kritisches, sachverständiges Urtheil erwartet, („von
dem Kantor mit den dicken Augenbrauen'', wie er sie nennt,
denn „dass die Düsseldorfer Freunde sehr ausser sich seien,
wolle nicht viel beweisen") — das Alles liegt in den gedruckten
Briefen vor. So reifte während aller jener Zerstreuungen das
Werk stetig seiner Vollendung entgegen. Während des Be-
suchs zum Kölner Musikfest lernten die Familienmitglieder die
fertigen Theile kennen und waren nun allerdings ebenso auss^
sich vor Freude, als die Düsseldorfer Freunde. Abraham war
ganz zufrieden, und nun erst hielt Felix dafür, dass es die
Feuerprobe einer unpartheiischen und unbestochenen Kritik
"bestanden habe, und sah dem allgemeinen Erfolg mit Zuver-
sicht entgegen. Welche Freude wäre es für den Vater gewe-
sen, wenn der Paulus schon auf dem 1835er Musikfest hätte
aufgeführt werden können, und es ihm vergönnt gewesen wäre,
den Triumph des Sohnes noch mit zu erleben. Die Worte, die
Felix mit der Einladung zu dem Kölner Musikfest schrieb,*)
auf dem garnichts von ihm aufgeführt wurde, hätten dann eine
noch prägnantere Bedeutung gehabt: „Dass Eui-e Gegenwart
mich nicht nur nicht hemmen, sondern im Gegentheil mir erst
die rechte Lust und Freude am Gelingen geben wird, weisst
du wohl. Lass mich Dir bei dieser Gelegenheit auch sagen,
dass mir der Beifall und die Freude des Publikums, für die
ich gewiss empfänglich bin, e^st aas rechte Vergnügen machen,
wenn ich Euch davon schreiben kann, weü ich weiss, dass sie
Euch freuen, und mir an einem Worte des Lobes von Euch
wahrhaftig mehr liegt, oder dass es mich glücklicher macht,
als alle Publikums der Welt, die zusammen klatschen, und
dass es mir darum die liebste Belohnung für meine Arbeit ist,
wenn ich Euch unter den Zuhörern sehen kann.'*
*) Brief an seinen Vater. 3. April 1835.
AnkuüpfuDgen mit Leipzig. 375
Der Brief schliesst: „Mein Oratorium wird erst im No-
vemlDer in Frankfurt aufgeführt werden, wie mir Schelble
sehreibt, und so lieb es mir wäre, wenn Du es bald hörtest,
so möchte ich doch noch lieber, Du hörtest es bei dem Musik-
fest im nächsten Jahr zuerst. Um dies bestimmt anzunehmen,
habe ich mir vorbehalten, die Aufführung in Frankfurt abzu-
warten, damit ich selbst es erst höre und wisse, ob es für das Mu-
sikfest passt; aber wenn das der Fall ist, wie ich hoffe und
wünsche, so ^vird sich's da viel schöner ausnehmen, und dann
ist es das Musikfest, das Du lieb hast, und Pfingsten statt
November, und besonders werde ich dann schon wissen, ob es
Dir gefallen wird oder nicht, worüber ich jetzt noch nicht
sicher bin."
Als jenes Musikfest mit dem Paulus gefeiert wurde, sah
Felix den Vater nicht unter den Zuhörern, da hatte er den
ersten grossen Schmerz seines Lebens schon erlitten.
Durch alle die Theaterverhältnisse, namentlich durch den
gespannten Fuss, auf den Felix mit Lnmermanu gekommen
war, hatte sich allmählich das Düsseldorfer Leben weniger
angenehm gestaltet, als zu Anfang. Ein hauptsächlicher Mangel
war wohl das erst Werdende aller Institute ; auf das einmüthige
Zusammenwirken freiwillig sich betheiligender Menschen, die
im Uebrigen die verschiedensten Zwecke hatten, w^ar aller
Erfolg basirt. Das giebt eine Zeit lang ausserordentliche Re-
sultate, aber eben nur so lange die Einmüthigkeit und das
Zusammenhalten dauert. Nun zeigten sich aber schon an
manchen Stellen bedenkliche Risse; die Einigkeit, die mehr
als in einem grossen Menschenwesen in einer kleinen Stadt
schwierig zu erhalten ist, verschwand. Und gerade in dieser
Zeit — es konnte kaum ein Moment gedacht werden, der Felix
in einer günstigeren Stimmung füi' die Annahme gefunden hätte
— kam eine Aufforderung zui' Uebernahme einer anderen
Stellung, der Direction der Gewandhaus-Concerte in Leipzig.
Und wie der Augenblick ein günstiger war, so war auch die
Stelle eine solche, wie sie ihm nicht besser hätte passen können.
Die Annehmlichkeiten waren dieselben, wie in Düsseldorf.
Auch diese Stelle war keine staatliche, keine, die mit „Behör-
376 Das Jahr 1836.
den" zu thnn hatte, sondern eine freie Gesellschaft, die zusam-
mengetreten war zu dem Zwecke, gute Musik zu machen, und
einen Director anzustellen wünschte, der im Stande wäre, zu
diesem Zwecke die geeignetsten Mittel zu ergreifen. Auch
Leipzig w^ar eine mittelgrosse Stadt Deutschlands, in der das
Lehen ein Felix sehr zusagendes war. Was in Düsseldorf die
Malerschule that, ein geistiffes ^»-isches Element in das Treiben
zubringen, das that in Leipzig der grosseVerkehr der Handelsstadt,
namentlich der buchhändlerische und die Universität. Aber
ausserdem hatte Leipzig grosse Vorzüge. Das Listitut der
Gewandhaus-Concerte war ein altes, längst begründetes und
seit 56 Jahren fest bestehendes. Das war wesentlich günstiger,
als in Düsseldorf, wo Vieles noch in den Anfangstadien des
Versuchs steckte; es hatten sich ordentliche geschäftsmässige
Formen ausgebildet, die Wirkungskreise w^aren sicher abge-
grenzte, von Kompetenzkonflikten, wie in Düsseldorf, konnte
nicht gut die Rede sein ; und da Felix unter solchen unsicheren,
tappenden Umständen gerade in Düsseldorf gelitten hatte, so
war dies auch das Erste, was ihn in Leipzig sehr angenehm
beruhigte.
Auch die Erinnerung an Seb. Bach und sein Wii'ken als
Kantor an der Thomaskirche zu Leipzig war für Felix, der
sich so ganz in Bach versenkt, der seine Matthäuspassion
wieder zu Ehren gebracht hatte, verlockend.
Rechnet man zu alledem die bedeutend grössere Nähe von
Berlin, die damals, wo noch keine Eisenbahn existirte, viel
mehr in's Gewicht fiel, als dies jetzt der Fall sein wüi'de, so
liegen die Vortheile der Uebersiedelung nach Leipzig auf der
Hand. Felix kam dem die Unterhandlung Anknüpfenden auf
die erste Anfrage bereitwillig entgegen, bat nur um Aufklärung
einiger Punkte, unter denen der hauptsächlichste der war, ob
er nicht einen Andern durch seine Annahme von diesem Posten
verdrängen würde, in welchem Falle er unbedingt nicht darauf
eingehen könnte. Alle seine Zweifel wurden jedoch zu seiner
vollkommenen Zufriedenheit erledigt, und im Herbst 1835 trat
er die Stelle als Kapellmeister der Gewandhaus-Concerte an.
Bald darauf (13. November 1835) schrieb er an Fanny
Erste Zeit in Leipzig. 377
„ Dr. Reiter kam ganz entzückt von Eurer Auf-
nahme hier an ; über Vater ist er in einem wahren Enthusias-
mus. Dafür kann ich aber nicht verschweigen, dass Herr L.
am meisten begeistert von Walter, dann von Sebastian, und
dann erst von Deinem Klavierspiel sprach. Er sagte. Du
solltest eine reisende Künstlerin sein. Du würdest die Andern
todtspielen. Ich sagte: pourquoi? Denn mich fror sehr, es
war auf der Concerttreppe gestern Abend, und er wurde
garnicht fertig mit Erzählungen von Eurer Liebenswürdigkeit.
A. ist hier mit M. Wenn ich sagen sollte, dass er mir
einen guten Eindruck gemacht hätte, so müsste ich's lügen.
Ein rechtes Bild eines spekulirenden, geizigen Musikus — also
ein trauriges. Er ist auf kein ander Gespräch zu bringen
als auf Geldsachen, auf Geldpläne und Geldverluste — und
wär's noch sein eignes, aber so verdient er's mit der M., die
er deshalb vor 5 Jahren schon adoptirt hat, und die nun von
Kopf bis Fuss nichts als eine Musikspekulation ist. Die mag
nun gelungen sein oder nicht, so ennuyirt's mich ; mein Inter-
esse an ihr könnte erst anfangen, wenn sie sich mit A. um's
Geld recht tüchtig zankte oder gar wegliefe, aber so ist's gar zu
jämmerlich. Sie soll übrigens schön singen und achtet mich
sehr — das hilft mir aber garnichts, wie gesagt.
Denk' Dir, Fanny, bei Wieck's Concert neulich hörte ich
meinem H-moll- Capriccio zum ersten Male zu (Clara spielte es,
wie ein Teufelchen) und es hat mir sehr gut gefallen. Ich
war eigentlich ganz verwundert darüber, denn ich hielt es für
ein selir dummes Ding, seit Du und Marx sehr darauf ge-
schimpft, aber es klingt wahrhaftig lustig mit dem Orchester,
es scheint mir lange frisch für ein Concertding. Ich glaube,
es ist hübscher, als das aus Es, Du glaubst aber das Gegen-
theil, glaube ich." —
Dirichlet's, die während Hensels verunglückter franzö-
sischer Reise eine sehr vergnügte durch Belgien nach Ostende
gemacht hatten, brachten bei ihrer am 14. October erfolgenden
Rückkehr nach Berlin Felix und Moscheies, der zum Besuch
in Leipzig war, auf einige Tage mit. Fanny zählte sie immer
zu den heitersten, ungetrübt glücklichsten, die sie je erlebt.
378 Das Jahr 1835.
Nachts waren die Reisenden angekommen, nnd Hensels wur-
den Morgens mit der frohen Nachricht geweckt. Nun wurde
eine Ueberraschung für die Eltern bereitet; die ganze Gesell-
schaft zog aus der Gartenwohnung über den Hof nach vom.
Der Flügel wurde hinübergeschafft und es ging an's Musiciren.
Die Nachricht verbreitete sich in der Stadt bei den Freunden,
und die zwei Tage hindurch war das munterste, lebhafteste
Treiben. Beide spielten wunderschön ; Abraham, der fast ganz
blind war, verwechselte bei einem vierhändigen Stück die
Beiden, und wunderte sich über Felixens etwas zierliches Spiel,
sowie über Moscheies' lebhafte Natürlichkeit, und erst als sie
aufstanden, bemerkte er seinen Irrthum. Am zweiten Abend,
unmittelbar vor Moscheies' Abreise phantasirten sie vierhändig ;
als die Zeit der Abfahrt da war, unterbrach Felix Moscheies
durch das Schnellpostsignal; darauf nahm Moscheies in einem
rührend feierlichen Andante Abschied, wurde abermals durch
das Signal unterbrochen und nun schlössen beide zusammen.
Abraham erzählte noch in den nächsten Wochen hiervon gern
und gut. Am andern Morgen fuhr Felix nach Leipzig zurück
unter dem Versprechen, Weihnachten wiederzukommen. Abra-
ham sagte noch bei der Gelegenheit: „Das darf man ja
menschlicher Weise hoffen zu erleben" — und Felix hatte den
Vater zum letzten Male gesehen.
Es folgte noch eine muntere Zeit. Der Sänger Hauser
kam nach Berlin, den Abraham sehr gern hatte, und oft
hörte. Fanny gab eine sehr brillante Sonntagsmusik, bei
der ihr Vater meinte, die Sache sei so gross und hoch
angefangen, sie könne sich nicht so halten. Am 14ten November
war Fannys Geburtstag, der vergnügt gefeiert wurde.
Es ist (S. 33) erwähnt worden, dass die letzten Tage Moses
Mendelssohns durch eine litterarische Fehde, deren Gegenstand
Lessing war, ausgefüllt wurden. Ein eigen thümlicher Zufall
wollte es, dass auch Abraham etwas Aehnliches begegnete.
Kurz vor seinem Tode am löten November hatte er eine
Unterredung mit Herrn v. Varnhagen, in welcher dieser einige
junge deutsche Schriftsteller auf Kosten von Lessing ausser-
ordentlich hoch stellte und lobte. Es entstand daraus ein
Letzter Brief von Abraham. 379
heftiger Streit zwischen beiden, welcher damit endete, dass
Varnhagen ziemlich eiTegt, und ohne versöhnenden Abschluss
der Diskussion das Haus verliess.
Nach Abrahams Tode fand man auf seinem Pult den nach-
folgenden, unbeendigten Brief, dessen Original Varnhagen zu
sich nahm, während sich in den Familienpapieren eine Abschrift
von der Hand von Fanny Hensel befindet.
16. November 1835.
,,Wenn Sie, hochgeehrter Herr und Freund, erwägen, dass
Lessing während eines grossen Theils seines Lebens der ver-
trauteste Freund meines Vaters war, und von diesem innigst
geliebt und wahrhaft verehrt worden, dass Lessing den Nathan,
die Emilia Galotti, die Erziehung des Menschengeschlechts,
den Laokoon, die Dramatiu'gie (welcher Deutschland mehr
schuldig geworden als allen seitdem geschriebenen Theater-
kritiken und Feuilletons zusammengenommen, nämlich die
Kenntniss Shakespeares) geschiieben, dass er ohne Widerrede
ein profunder Gelehrter war, dass fast aus jeder Zeile in
seinem Werke der klarste Verstand, mit dem tiefsten Gemüth
vereinigt, hervorgeht, so werden Sie es um so freundlicher
entschuldigen, dass ich gestern seine Vertheidigung vielleicht
etwas zu lebhaft gegen Sie geführt habe. Ich war überrascht,
ich kann es nicht leugnen, Sie, den ich so oft mit der wärmsten-
Verehi'ung von Lessing und seinen Werken, besonders vom
Nathan, und ganz besonders von der daraus hervorleuchtenden
Gesinnung sprechen gehört habe, nun eben diesen Mann, der
die Wahrheit so hoch verehrte, dass er sie für Gott allein
geeignet glaubte, und für sich nur das Streben danach, kurz,
diese Sonne, in welcher man durch schwarzgefärbte Gläser
wohl Flecken auffinden kann, mit Leuten zusammenstellen zu
hören, welche bis jetzt nur Flecken gezeigt haben, hinter
denen allerdings Niemandem versagt ist, eine Sonne zu ahnen.
Ich hätte mir indess sagen sollen, dass nur eine augenblickliche
Stimmung Sie zu dieser Verunglimpfung Lessings hinzureissen
vermochte, und dass eine solche durch den Widerspruch eines
Laien sich nur noch mehr aufgeregt fühlen musste. Mehrere
380 Das Jahr 1835.
jener jungen Leute stehen Ihnen persönlich näher, und es ist
gi'ossmüthig, dass Sie das Aeusserste wagen, um sie zu retten
nnd zu heben. Schon aus dem Gesichtspunkte der gesellschaft-
lichen Convenienz wäre diese Betrachtung meine Pflicht ge-
wesen." —
Noch am 18ten war Abraham bis auf einen wenig bedeutenden
Husten ganz wohl. Am andern Morgen wurde die Familie mit der
Nachi'icht geweckt, er sei die Nacht unwohl geworden. Man
glaubte an einen Schlagfluss, aber er war bei Besinnung und
Bewusstsein. Die herbeigerufenen Aerzte fanden indessen den
Zustand so wenig bedenklich, dass sie Felix nicht benach-
richtigen lassen wollten, um ilm nicht unnütz zu erschrecken
und nach Berlin zu sprengen. Das war um 10 Uhr. Der
Kranke drehte sich um, sagte, er wolle ein wenig schlafen, doch
eine halbe Stunde darauf war er todt. So rasch, so uner-
wartet, so sanft und ruhig ging er hinüber, dass keins der
um das Lager versammelten Kinder anzugeben wusste, wann
der Tod eingetreten sei. Es war stets sein Wunsch gewesen,
In dieser Weise zu sterben, und er war ihm gewährt.
Und Fanny schliesst ihre Erzählung des Todes mit den
Worten: „So schön, so unverändert ruhig war sein Gesicht,
dass wii' nicht nur ohne Scheu, sondern mit einem wahren
Gefühl der Erhebung bei der geliebten Leiche verweilen konnten.
Der ganze Ausdruck so ruhig, die Stirn so rein und schön,
die Hände so mild ; es war das Ende des Gerechten, ein schönes
beneidenswerthes Ende und ich bitte Gott um ein gleiches und
will mich mein ganzes Leben lang bemühen, es zu verdienen,
wie er es verdiente. Es war das versöhnendste, schönste
Bild des Todes."
Die nächste Sorge der Familie war fiir die Mutter und
für Felix. Erstere, von Natur reizbar, neigend zu einem Herz-
leiden, und denselben Sommer ernstlich krank gewesen, war
in einem besorgnisserregenden Zustand. Und nun Felix! —
Wie sollte er, der ganz Unvorbereitete, der am schwärme-
rischsten, beinahe fanatisch an dem Vater hing, die fui'chtbare
Nachi'icht erfahren, wie sollte ihm der zerschmetternde Schlag
gemildert werden? — Hensel war sogleich bereit, hinzufahren;
Felix über den Tod seines Vaters. 381
er besorgte sich schnell Pass und Wagen, und um V2 ^ Uhr
war er unterwegs. Am Sonnabend Morgen kamen beide in
Berlin an ; Felix in einem beängstigenden Zustand, aufs Höchste
gespannt, wenig weinend, mit wahrer Hoffnungslosigkeit in
die Zukunft sehend. Er war zu keiner Mittheilung, zu keinem
herzerleichternden Thränenstrom fähig, man musste für ihn
das Schlimmste befürchten. Und allerdings verlor er am
meisten, wenn bei solchem Verlust, wie der des Vaters, Steige-
rungen möglich sind ; oder vielmehr er hatte diesem unendlichen
Verlust gegenüber kein milderndes Gegengewicht. Die andern
Kinder besassen alle schon ihre eigene Häuslichkeit und hatten
im Umgang mit ihren Gatten, zum Theil in der Sorge für
ihre Kinder versöhnende, ablenkende Thätigkeiten, andere, die
die schwere Last mit tragen halfen. Felix, der Unverhei-
rathete, verlor im Vater das Liebste, und nichts lenkte seinen
Blick vom Betrachten des unersetzlichen Verlustes ab. Seiner
wartete in Leipzig seine leer^ Junggesellenstube; und alle
seine Thätigkeit, die die Freude seines Lebens gewesen war,
kam ihm jetzt schaal vor, denn die Hauptfreude war ja eben
der Bezug seiner Thätigkeit auf den Vater gewesen. Er ging
nach einigen Wochen nach Leipzig zurück. Wie es in ihm
aussah, zeigen zwei Briefe an die Prediger Schubring und
Bauer, bald nach der Eückkehr nach Leipzig geschrieben.*)
„Du wirst es schon wissen, lieber Schubring, welcher
schwere Schlag mein und aller Meinigen glückliches Leben
getroffen hat ! Es ist das grösste Unglück, was mir widerfahren
konnte, und eine Prüfung, die ich nun entweder bestehen oder
daran erliegen muss. Ich sage mir dies jetzt nach drei Wochen
ohne jenen scharfen Schmerz der ersten Tage, aber ich fühle
es um so sicherer: es muss für mich ein neues Leben anfan-
gen, oder alles aufhören — das alte ist nun abgeschnitten.
Zu unserem Trost und Vorbild erträgt Mutter den Verlust so
ruhig und standhaft, dass es zu bewundern ist; sie freut sich
an den Kindern und Enkeln, und sucht sich so die unersetz-
liche Lücke zu verbergen, meine Geschwister thun, was sie
♦) Felix'scbe Briefe vom 6. udc 9. Decetnber 1835.
382 Das Jahr 1835.
können, um ihre Schuldigkeit desto vollkommener zu erfüllen,
je schwerer sie ihnen wird; ich war auf 10 Tage in Berlin,
um durch meine Gegenwart die Mutter wenigstens mit dem
Rest der Familie vollzählig zu umgeben, aber w^elche Tage
das waren, das brauche ich Dir nicht zu sagen ; Du weisst es
wohl und hast gewiss meiner gedacht, in dieser dunklen Zeit !
Ich weiss nicht, ob Du wusstest, wie besonders
seit einigen Jahren mein Vater gegen mich so gütig, so wie
ein Freund war, dass meine ganze Seele an ihm hing, imd ich
während meiner langen Abwesenheit fast keine Stunde lebte,
ohne seiner zu gedenken, aber da Du ihn in seinem Hause
mit uns Allen und in seiner ganzen Liebenswüi^digkeit gekannt
hast, so wirst Du Dir denken können, wie mir jetzt zu Muthe
ist. — Das Einzige bleibt da, die Pflicht zu thun, und dahin
suche ich mich zu bringen, mit allen meinen Kräften; denn er
würde es so verlangen, wenn er gegenwärtig wäre, und ich
will nicht aufhören, so wie sonst nach seiner Zufriedenheit zu
streben, wenn ich sie auch nicht mehr geniessen kann. —
Das hätte ich nicht gedacht, als ich die Beantwortung Deines
Briefes verschob, dass ich ihn so würde beantworten müssen;
— habe auch jetzt noch Dank dafür und für alle Deine Freund-
lichkeit. — Die eine Stelle zum Paulus war vortrefflich: „Der
Du der rechte Vater bist." Ich habe gleich einen Chor dazu
im Kopfe gehabt, den ich nächstens schreiben will, üeber-
haupt mache ich mich nun mit doppeltem Eifer an die Vollen-
dung des Paulus, da der letzte Brief des Vaters mich dazu
trieb, und er sehr ungeduldig die Beendigung dieser Arbeit
erwartete; mir ist's, als müsste ich nun alles anwenden, um
den Paulus so gut als möglich zu vollenden, und mir dann
denken, er nähme Theil daran. — Wenn es fertig ist, wie
dann weiter, das wird Gott geben." —
An Prediger Bauer: „Deinen guten Brief erhielt ich
hier an dem Tage, wo bei Dir die Taufe sein sollte, als ich
eben von Berlin zurückgekommen war, wo ich meiner Mutter
die ersten Tage nach dem Verluste meines Vaters zu erleich-
tem gesucht hatte. So bekam ich die Nachricht Deines Glückes,
als ich hier wieder in meine leere Stube trat, und zum ersten
Felix über den Tod seines Vaters. 383
Male recht im Innersten fühlte, was es heisst, das bitterste
schmerzlichste Unglück zu erleben. Denn der Wunsch, den
ich mir vor Allem jeden Abend wieder gewünscht hatte, war
der, diesen Verlust nicht zu erleben, weü ich an meinem Vater
so ganz und gar gehangen hatte, oder vielmehr hänge, dass
ich nicht weiss, wie ich mein Leben nun fortsetzen werde, und
weü ich nicht bloss den Vater entbehren muss (ein Gefühl, das
ich mir schon seit meiner Kindheit als das Herbste dachte),
sondern auch meinen einzigen ganzen Freund während der
letzten Jahre und meinen Lehrer in der Kunst und im Leben.
Da war's mir eigen, als ich Deinen Brief las, der ganz
Freude und Behaglichkeit athmet, und der mich auffordert,
mich am neu Werdenden zu erfreuen, im Augenblick, wo ich
meine ganze Vergangenheit als wirklich vergangen und vorbei
fühlt«. Doch danke ich Dir dafür, dass Du mich als entfernten
Grast bei der Taufe haben wolltest, und wenn Dir auch mein
Name dabei einen ernsteren Eindruck machen wird, als Du
vielleicht dachtest, so möge der Eindruck eben nur ein ernst-
hafter, nicht ein schmerzlicher für Dich und Deine Frau sein,
und wenn Du in späteren Jahren Deinem Kinde von denen
erzählst, die Du zu seiner Taufe gebeten hattest, so lass mich
nicht weg, sondern sage ihm, wie Einer davon an diesem Tage
sein Leben auch von Neuem, aber in einer andern Bedeutung
angefangen habe, — mit neuen Vorsätzen und Wünschen, und
mit neuen Bitten zu Gott!" — —
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17.
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P» Stankiewicz' Buchdruckerei, Berlin SW., 11, Bernburgerstr. 14,
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ML 385 .H54 1906 Bd 1
Hensel, Sebastian, 1830-
1898.
Die Familie Mendelssohn
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